Es klang, als hätte jemand einen Eimer Wasser auf die glühenden Kohlen eines Lagerfeuers geschüttet, als die Luft zwischen den beiden Verbindungsstücken des Helms entwich. Auch wenn ich das Anlegen des Anzuges schon einige Male durchlebt hatte, lief mir bei diesem Geräusch jedes Mal ein Kribbeln den Rücken hinunter. Eine Mischung aus Erinnerung an unbeschwertere Tage und der Angst, dass die Luft dieses Mal an der falschen Stelle abgepumpt wurde und ich in einem Sarg mit Armen und Beinen erstickte.
Ich nahm einen tiefen Atemzug, der meine Nase mit dem Geruch frischer Autopolsterung füllte, schloss die Augen und sah die Umgebung durch El Robos Außenkameras. Statusanzeigen, Gefahrenerkennung, Personenidentifizierung. Tausend Informationen erschienen auf einmal vor meinem inneren Auge. Ich hatte keine Probleme, sie einzuordnen und blitzschnell auf sie zu reagieren. Das war mir schon bei den ersten Übungen leicht gefallen. Viel leichter, als ich es erwartet hatte. Das einzig Befremdliche war die Wahrnehmung der anderen Menschen. Wenn ich sie ansah, fühlte ich mich wie ein Fremder, ein ferner Beobachter oder ganz als wäre ich tatsächlich der Anzug und nicht der Mensch in seinem Inneren.
Vor mir ragte eines der grauen Tore auf, die zur Zitadelle führten. Im mittleren Bereich hatten wir welche gefunden, die größer waren, als jenes, durch das ich hier angekommen war. Das besaß nur eine Höhe von zwei Metern und ich hätte mich schwergetan, darin zu laufen, ohne mir ständig den Kopf anzustoßen. Dieses Tor hatte einen Durchmesser von drei Metern, also würde auch der Kleinbus hindurchpassen, den wir uns von der Sethlan-Enklave geborgt hatten. Geborgt war ein wirklich großzügig ausgelegter Begriff, denn ich zweifelte daran, dass sie ihn heil zurückbekommen würden.
Die letzten Tage hatte ich mich aufgewärmt, indem ich auch die letzten Verbrecher im Ring zusammengetrieben hatte. Dass Cass unsere Abenteuer aufzeichnete, hatte uns diesmal wirklich geholfen, denn so leisteten sie kaum noch Widerstand. Jetzt konnten wir sicher sein, dass zumindest bei unserer Abreise nichts Unvorhergesehenes mehr geschah. Außerdem fiel es der Enklave leichter, auf ihren Bus zu verzichten.
Hinter mir bestiegen meine Freunde das gepanzerte Ungetüm. Sergej öffnete die Fahrertür, aber mit so viel Schwung, dass ich schon Angst bekam, dass er sie abreißen würde. Ich wusste nicht, wie lange er vor dem Einfrieren gefahren war, aber obwohl das vielleicht schon hundert Jahre zurücklag, war er doch der Einzige von ihnen, der überhaupt jemals hinter einem Steuer gesessen hatte. Er ließ sich in den Fahrersitz fallen und der Bus wackelte bedrohlich, dann zog er die Tür genauso schwungvoll zu, wie er sie geöffnet hatte. Das tat mir schon beim Zuschauen weh.
Klara machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem und wartete mit dem Schließen der Tür, bis ihre drei Ratten in den Fußraum gehüpft waren. Moritz und Cass würden für die Rückendeckung sorgen. Auf dem Dach befand sich eine Microgun aus der Voreiszeit, eine fiese Gatling-Kanone, bei der Querschläger garantiert waren. Sie war der inoffizielle Grund, warum wir den Bus panzern mussten, aber sie würde uns helfen, den Weg in die Außenwelt freizuschießen. Daneben war ein Energiefeldgenerator montiert, mit dem wir, in derselben Weise wie Annadora, ein Kraftfeld aufbauen würden, während Brutus und ich das Tor öffneten.
Wenn der Zitadelle die Siks ausgingen, würden die Vetis hoffentlich selbst auftauchen. Das war zumindest unsere Theorie. Es widerstrebte mir zwar, dass wir damit Werkzeuge des Eiszombies waren und seinen ursprünglichen Auftrag ausführten. Das Motiv, die Menschen der Zitadelle in die Freiheit zu führen oder ihnen wenigstens die Wahl zu geben, wo sie leben wollten, war trotzdem richtig. Und weil wir nicht wussten, was die Vetis mit den Menschen im Inneren wirklich vorhatten, musste es einfach getan werden. Am Ende gab es in der Zitadelle auch einen Terraformer, der diesmal nicht mit Dinos, sondern mit Menschen gefüttert wurde. Nach all dem, was wir erlebt hatten, war ja alles möglich.
Neben dem Gedanken, was die Vetis vorhaben könnten, gab es eine andere Sache, die mich beunruhigte. Ich hatte mich in den letzten Tagen verändert. Wenn ich vorher Hemmungen gehabt hatte, Menschen zu verletzten, fiel mir das, sobald ich in El Robo kletterte, immer leichter. Die Verletzungen, die ich den Verbrechern zufügte, waren nichts anderes als Statistiken. Ich musste nur darauf achten, dass ich sie nicht zu stark verletzte, dass unser MedCenter sie nicht wieder zusammenflicken konnte. Die Kämpfe waren zudem keine Herausforderung mehr für mich. Anders als gegen den Schlitzer, sah ich mein Leben kein einziges Mal in Gefahr. Vielleicht hatte das Feuer neben den Hautschichten auch einen Teil meines Einfühlungsvermögens weggebrannt. Oder ich war tief in meinem Inneren zu der Ansicht gekommen, dass es einfach Menschen oder Wesen gab, die so abgrundtief böse waren, dass ihnen nicht friedvoll beizukommen war. Ich konnte nicht genau greifen, was es war, aber der Gedanke war erschreckend.
Zumindest setzte ich, genauso wie der erste El Robo, keine direkt tödlichen Waffen ein, obwohl alleine die Fäuste des Anzugs einem Menschen sämtliche Knochen brechen oder den Schädel zertrümmern konnten. Ich musste einfach davon ausgehen, dass die Siks gut genug ausgerüstet waren, damit sie eine Konfrontation mit mir überlebten.
Hinter mir trötete die Hupe des Busses. Ein Blick durch die Heckkamera zeigte mir, dass alle eingestiegen waren. Sie waren bereit.
Ich ging auf das Tor zu und legte meine Hände auf die Flügel. Es wurde nicht mit Strom versorgt, zumindest nicht im Moment. Natürlich, sonst konnte ja jeder abhauen, wenn ihm der Ring nicht mehr passte. Das stellte für mich kein Problem dar, dafür zapfte ich einfach den Reaktor des Anzuges an.
Knirschend und knatternd öffneten sich die Flügel im Schneckentempo und hielten nach ein paar Zentimetern an. Irgendetwas blockierte die Tür. Aus dem Spalt wehten mir Schneeflocken entgegen. Das ... hatte ich nicht erwartet.
Die Öffnung war gerade groß genug, dass ich meine Hände hineinquetschen konnte. Die Ränder der Torflügel schabten quietschend über den schwarzen Lack meiner Finger und die Schadensanzeige flackerte kurz im Promillebereich auf. Stück für Stück zog ich sie auseinander und als genug Platz war, klemmte ich mich mit meinem ganzen Körper dazwischen. Mit dem Rücken zur einen Seite und den Beinen gegen die andere gepresst, hing ich in der Luft. Eine kurze Erinnerung blitzte in meinem Kopfauf, wie ich mich als Kind auf dieselbe Weise in einen Türrahmen gequetscht hatte. Meine Erinnerung, da war ich mir sicher. Die Mechanik der Tür bäumte sich ein letztes Mal knarzend gegen mich auf, dann gab es einen Knall und mit einem Ruck verschwanden die Teile der Tür komplett in der Wand. Ich fiel und landete in der Hocke. Mit einem Fuß im Schnee.
Ich drehte meinen Kopf in den Tunnel hinein und meine Scheinwerfer strichen über eine weiße Winterlandschaft, die das Innere des Tunnels ausschmückte. Pappiger Schnee knirschte unter meinen Füßen, als ich mich erhob, und die Brise, die mir pfeifend entgegen wehte, kühlte die Außensensoren auf zweistellige Minusgrade ab. Wie kalt würde es wohl werden, wenn ich weiter hinein ging? Ich berührte die Wand des Tunnels, um mir zu erklären, was hier vor sich ging, aber da war nichts. Meine Anzeigen blieben schwarz und ich konnte nur Vermutungen anstellen, wie im Tunnel so ein Klima entstehen konnte.
Aus Gewohnheit drehte mich zum Bus um, statt die Heckkamera zu benutzen. Wintertauglich konnte man seine Bereifung kaum nennen. Ich winkte Sergej zu und er fuhr bis zu mir heran. Auf dem ersten Stück griffen die Reifen noch, dann drehten sie durch. Sergej trat aufs Gas und der aufjaulende Motor jagte ein beängstigendes Echo durch den Tunnel. Das System des Anzugs meldete mir, dass aufgrund der niedrigen Temperaturen jetzt Gegenmaßnahmen eingeleitet wurden, damit er sich weiterhin bewegen konnte, da war es kein Wunder, dass es dem Bus nicht besser erging. Er verfügt über keine ausgefeilten Möglichkeiten, sich gegen die verdammte Kälte zu wehren und ich hoffte, dass seine Heizung ausreichte, damit dort drinnen niemand erfror. Doch es half nichts, wir mussten alle drüben ankommen, damit der Plan aufging. Kurzerhand griff ich nach dem gepanzerten Kuhfänger des Busses und zerrte ihn in den Tunnel.
Schritt für Schritt zog ich ihn knirschend durch den Schnee. In einer meiner Heckkameras sah ich, dass die Fenster des Busses beschlugen und schließlich anfingen zu vereisen. Natürlich war der Bus mit Scheibenwischern ausgestattet, doch leider fehlte der Defroster im Wasser. Wer rechnete im Ring schon mit Eis und Schnee?
"Geht es euch da drinnen gut?", fragte ich über unser privates ComNet, das über einen Server im Bus lief.
"Etwas kühl, aber noch leben wir", kam Moritz Antwort glasklar über das Soundsystem meines Helms zurück. "Die Heizung arbeitet auf Hochtouren."
Ich stapfte weiter und fühlte mich unwillkürlich an den Anfang meines Abenteuers zurückversetzt, als ich auf dem Weg in meine Wohnung von einem Schneesturm überrascht worden war. Wenigstens war mir unter der dicken schwarzen Haut des Kampfanzugs diesmal warm.
Es war ein Glück, dass ich im Tunnel nicht die Orientierung verlieren konnte, denn das Zeitgefühl hatte sich schon vor einer Weile verabschiedet. Monoton setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis es nicht mehr weiter ging. Wie bei meiner ersten Flucht vor dem Schnee wurde ich auch jetzt von einer Glaswand aufgehalten. Nein, es war kein Glas, es war Eis.
Ich ließ den Bus los und klopfte dagegen. Die Wand klang massiv. Ich schlug fester zu und große Eissplitter flogen davon. Immer wieder und wieder ließ ich meine Fäuste gegen die Wand krachen, bis sie bis zum Handgelenk darin versanken. Wie dick war das Eis? So würde ich nicht hindurchkommen, es musste doch einen anderen Weg geben, oder?
"Leute, vor uns ist nur noch Eis."
In der Heckkamera sah ich, wie auch hinter dem Bus eine Eiswand aus dem Boden wuchs. Ich zoomte näher an die Stelle heran und erkannte, dass Flüssigkeit an den Seitenwänden herablief und blitzschnell gefror, sobald sie in Verbindung mit dem Rest der Eismasse kam.
"Müssen wir umkehren?" Moritz klang besorgt. "Sehr lange macht der Bus das nicht …"
Ich wartete den Rest der Antwort nicht ab und stürzte am Bus vorbei, denn ich hatte eine Öffnung entdeckt, aus der die Flüssigkeit in den Gang lief. Mit aller Kraft ließ ich die Faust an dieser Stelle gegen die Wand sausen. Erst einmal, dann ein zweites Mal und schon hatte ich sie durchbrochen. Meine Finger tasteten in der Öffnung herum, bis sie eine Verbindung zum Steuerungssystem des Tunnels fanden.
Der Tunnel mitsamt einem ausgefeilten Netzwerk an Sensoren und Klimakomponenten blitzte vor meinem inneren Auge auf. Wir befanden uns in seiner Mitte und das Ziel der Person, die den Tunnel steuerte, war offensichtlich, uns an genau dieser Stelle einzufrieren, festzuhalten und wahrscheinlich sterben zu lassen. Die Zitadelle wusste von unserem Plan! Wie genau wir vorhatten, zurückzukehren, hatten wir nicht verraten. Ich hatte es Cass und Moritz eingeschärft, dass sie es nicht verrieten, bevor wir nicht drüben waren. Wie hatten sie davon erfahren? Sie mussten es schon eine Weile gewusst haben, denn ich erkannte, dass der Tunnel nicht erst heute auf seinen Einsatz vorbereitet worden war.
Ich stieß auf eine Sicherheitsbarriere, als ich auf die Steuerbefehle der Klimafunktionen zugreifen wollte, und zermalmte sie in einem Sekundenbruchteil zu digitalem Staub. Dann sorgte ich dafür, dass niemand außer mir den Tunnel bedienen durfte, und begann die Temperaturen hochzufahren. Das System reagierte unverzüglich und ohne Widerstand.
"Habt ihr auch eine Klimaanlage im Bus?"
"Wozu? Es ist doch so schon beschissen kalt hier drin." Diesmal antwortete Sergej.
"Es werden gleich 40 Grad im Schatten auf uns zukommen."
"Bekomm ich dann Hitzefrei?" Das war Klara, die das offenbar noch etwas aus ihrer kurzen Schulzeit in Erinnerung hatte.
"Ich denke, wir gönnen uns alle eine Pause, wenn wir das geschafft haben. Ich habe die Temperaturen im Tunnel geändert. Es wird eine Weile dauern, bis wir weiterkommen. Ich wollte euch nur warnen, dass es heiß wird."
"Und das in unseren Lederklamotten", stöhnte Cass.
"Kannst dich ja ausziehen", riet ihr Sergej lakonisch.
"Hey! Du bist mir ja ein toller Held. Moritz, verteidige mich mal gegen diesen Schurken."
Ich rollte mit den Augen. "Lasst eure Klamotten an, ihr werdet den Schutz brauchen, wenn wir da sind." Ich zwängte mich am Bus vorbei, bis ich wieder seine Vorderseite erreicht hatte und bearbeitete den Eisblock wie zuvor. "Es scheint, als hätte jemand gewusst, dass wir kommen. Und nicht erst, seitdem ich das Tor geöffnet habe."
"Hey, wir haben nichts ...", begann Moritz sich zu verteidigen. "Haben wir etwa einen Verräter in unseren Reihen?"
"Entweder das, oder sie haben präventiv jeden Tunnel rund um die Uhr vereist", lenkte ich ein. "Möglich, aber ich will nicht wissen, was sie damit an Energie verbraten würden."
"Wer soll es denn deiner Meinung nach sein? Wir hängen da doch alle mit drin und haben die genauen Pläne für uns behalten. Ruiz wird dich wohl kaum ausgebildet haben, um dich dann zu verpfeifen. Und wenn du mir jetzt weismachen willst, dass es Cass war ... hey, dann kannst du auf meine Unterstützung beim Rest dieser Aktion pfeifen."
Ich war etwas baff. Klar war Cass nervig, aber hier offenbarte sich mir eine ganz neue Seite an Moritz. Bisher gab es noch nicht viele Gelegenheiten, bei denen wir uns uneins sein konnten, geschweige denn gestritten. Dafür war er sowieso immer zu schweigsam gewesen.
"Nein, ich behaupte nicht, dass es Cass war. Solange wir nicht wissen, ob sie uns nicht doch beobachtet haben oder Quellen haben, an die wir nie gedacht haben, sollten wir einfach vorsichtig sein."
"Sollen wir uns eine Geheimsprache ausdenken, die nur wir verstehen?", schlug Klara vor.
"Dafür ist es jetzt schon zu spät. Solange wir nicht sicher sein können, dass wir permanent überwacht werden, ist das sowieso sinnlos."
"Schade, wär sicher lustig."
Die Sensoren des Anzuges, die einen Anstieg der Temperatur gemessen hatten, blieben nun im einstellig positiven Bereich stehen und sanken wieder schrittweise. Ich ahnte warum.
"Ich schätze, jetzt ist Schluss mit lustig. Die haben dem Tunnel den Saft abgedreht. Schickt mal Brutus raus, damit er mir hilft, den Eisblock klein zu machen. Auf 40 Grad können wir jetzt nicht mehr hoffen."
Die Seitentür des Busses schwang auf und der Roboter kletterte heraus. Er versank bis zu den Knöcheln im Schnee und seine Schritte hinterließen Gräben. Gemeinsam schlugen wir auf das Eis ein und zu zweit ging es schneller. Bis wir durch waren, war trotzdem eine Ewigkeit vergangen. Genug Zeit, damit das Sicherheitskorps eine Armee neuer Verteidiger rekrutieren konnte.
Umso verwunderter war ich, dass sich der Raum am Ende des Tunnels als vollkommen leer herausstellte.