Ruiz führte uns zu einer großen Halle, aus der uns die hellen Klänge von Hammerschlägen auf Metall und schwüle Hitze empfingen. Ein Mann bearbeitete ein Werkstück auf einem Amboss und stellte dabei seinen nackten, muskelbepackten Oberkörper zur Schau, der im Schein der Glut glänzte. Ein Stück daneben saß Moritz an einem Tisch und bastelte an etwas weitaus Filigranerem. Durch den Lärm der Schläge bemerkte er nicht, wie wir näher kamen, und sah erst auf, als wir vor ihm standen.
"Du scheinst ja schon voll in dieser Gemeinschaft aufgegangen zu sein", scherzte ich. Er grinste, als er uns erkannte. "Hey, ihr seid also auch im Ring. Und ihr lebt noch."
"Hattest du daran etwa Zweifel?", fragte Sergej argwöhnisch.
"Wir waren uns nicht sicher, ob sie euch nicht direkt ins Eis verfrachtet haben, oder gar nicht in den Ring geschickt, weil ihr im Vergleich zu mir eher kleine Fische seid."
Meinte er das ernst? Ich musterte ihn eindringlich und er konnte sich das Grinsen nur ein paar Sekunden verkneifen.
Hinter mir scharrte Cass unruhig mit einem Fuß im Dreck und ich seufzte. "Ich glaube, ich muss dir deinen wahrscheinlich größten Fan im ganzen Ring vorstellen. Wenn es eine Kamera gibt, auf der du zu sehen bist, kannst du dir sicher sein, dass sie zuschaut. Cassandra, die Enkeltochter von Héctor Ruiz."
Die drückte sich, kaum das ich ausgeredet hatte und - enttäuschenderweise – ohne auf die Stichelei einzugehen, an mir vorbei und streckte ihm die Hand entgegen. "Hi! Ich bin Cass! Ich bin wirklich dein größter Fan! Ich finde es sooo krass, was du alles drauf hast und wie du die Zitadelle gerockt hast! Und ..."
Sie plapperte einfach weiter und Moritz schielte an ihr vorbei, sah mich hilfesuchend an. Ich hätte auch nicht gewusst, was ich davon halten sollte, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre. Cass war aber auch eine sonderbare Erscheinung, hatte sie doch immer noch Kappe, Brille und Schal an. Ich war mir sicher, dass sie inzwischen schon so viel Zeit in dieser Umgebung zugebracht hatte, dass es ihr selbst gar nicht mehr auffiel.
"Vielleicht will sie ein Autogramm von dir auf irgendeinem ihrer Körperteile", kommentierte Sergej in anzüglichem Tonfall. "Dazu müsste sie aber erst mal ihre Klamotten ausziehen."
Moritz wurde rot und rutschte mit dem Stuhl ein Stück zurück, ganz so, als hätte er Angst, dass Cass das wirklich tat und gleich über ihn herfiel.
"Äh …", begann er zu stammeln, sprang dann auf. "Ich gehe mal sehen, was Klara macht, und hol sie her. Wartet einfach auf mich … oder auch nicht." Mit den Worten machte er einen Haken um uns herum und verschwand.
"Oh Mann, das ist ja mal gar nicht gelaufen." Cass ließ den Kopf hängen.
"Ich denke, dein Äußeres könnte ihn etwas abgeschreckt haben." Nicht dass sie das aufmuntern würde, aber irgendwo musste ich ja anfangen. "Oder deine Art, wie ein Wasserfall zu plappern." Ja, der Kommentar war um einiges hilfreicher.
Sie schniefte zur Antwort. "Seh ich etwa so schrecklich aus?"
"Keine Ahnung." Ich zuckte mit den Schultern "Ich mein, ich weiß ja nicht wirklich, wie du aussiehst. Es sei denn, deine Ledermontur, Brille und Schal spiegeln dein wahres Äußeres wider."
"Oh - wie - blöd!", rief Cass und stampfte bei jedem Wort auf. "Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich wollte einfach gleich mit ihm über irgendetwas Technisches quatschen." Sie drehte sich zu Ruiz. "Ihr habt doch ein Bad in diesem Loch, oder?"
"Hältst du uns für Barbaren?" Ruiz lachte. "In meinem Haus, du weißt sicher noch, wo es steht."
Cass nickte und verschwand. Jetzt, da wir etwas Ruhe hatten, sah ich mich in der Halle um. Außer der Schmiede und Werkbank befanden sich hier hauptsächlich Schrott und Altmetall. Ausgeschlachtete Autowracks, Kühlschränke, Mikrowellen und ähnliche Überreste der alten Zivilisation. Das musste ein Zwischenlager der Schrottis gewesen sein, bevor der Ring zum Gefängnis der Zitadelle umfunktioniert wurde. Wo sonst sollte das alles herkommen, wenn nicht aus der Außenwelt? Ich konnte mir gut vorstellen, dass Ruiz Leute bei vielem gar nicht mehr wussten, wozu es einst benutzt wurde.
"Wo ist der Feind?", ertönte Klaras wohlbekannte Stimme vom Eingang der Halle. Sie wurde flankiert von einem Schafbock, der wild mit dem rechten Vorderhuf scharrte und auf ein Ziel zum Angriff wartete. Hinter ihr lugte Moritz vorsichtig um die Ecke. Als er sah, dass die Luft rein war, traute auch er sich wieder herein.
"Du hast neue Freunde gefunden?", begrüßte ich Klara.
"Ja, echte Schafe!", antwortete sie aufgeregt. "Eine ganze Herde haben sie hier! Die ziehen normalerweise ja von Weide zu Weide, aber hier gibt es nur ein paar Biotope, in denen sie grasen können. Wenn sie in einem der anderen sind, wird hier der Boden wieder aufbereitet. Mit dem Dünger aus dem Synth wächst das Gras zu einem kleinen Dschungel, bis sie zurückkommen. Darf ich euch Sigmund vorstellen? Er beschützt die Herde, weil er glaubt, dass die Hirten und Wächter nichts taugen." Sigmund blökte anerkennend, hörte auf zu scharren und drückte sich an Klara, die kichernd versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten.
"Hallo Sigmund", begrüßte ich ihr Schaf. Wahrscheinlich hatte es recht mit seiner Meinung über die Wächter. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie die ihre Siedlung verteidigen wollten, wenn sie es mit einer der Banden zu tun bekamen. Es sei denn, die Banden waren ein genauso verlotterter Haufen. Ich schätzte aber, dass es noch einige im Ring gab, die eher dem Kaliber meiner ersten Begegnung entsprachen.
Ruiz hatte geduldig gewartet, bis wir mit unserem Wiedersehen fertig waren, aber jetzt ergriff er wieder die Initiative. "Nun, dann sind ja jetzt alle da, bis auf Numbaka. Aber ich denke, dem gönnen wir noch ein bisschen Ruhe. Ich möchte euch etwas zeigen." Ruiz ging mit festem Schritt voran, sein Ziel lag in einem Bereich weiter hinten im Schuppen.
"Numbaka geht es wirklich schlecht. Er hat die ganze Zeit über seinen Laden gejammert und über die Siks geschimpft", raunte mir Klara zu.
"Kann ich verstehen, das war sein Lebenswerk", antwortete ich. "Ich denke, ich werde ihn nachher mal besuchen."
Klara nickte und strahlte und noch ehe sie mehr sagen konnte, erreichten wir eine Tür, die zu einem besser gepanzerten Bereich führte. Ruiz zog einen Schlüssel aus der Tasche und ich war erstaunt, wie fremd sein Klimpern und das Geräusch im Schloss klangen, als er ihn hineinschob und sich das Schloss nach einer Umdrehung mit einem Klacken öffnete. Es war doch erst ein paar Jahre her, dass ich selbst noch ein ganzes Bündel mit mir rumgetragen hatte.
Er gab der Tür einen Stoß, worauf sie quietschend Folge leistete und ins Innere schwang. Dann fasste er an eine Stelle neben der Tür und schaltete das Licht an. Auch das wäre mir merkwürdig vorgekommen, wenn wir Chips getragen hätten. In der Zitadelle gab es überall Sensoren, welche die Helligkeit an die Anwesenheit der ID-Chips anpassten. Da wir keine Chips trugen, hatten wir Tage damit verbracht, die Zimmer in Numbakas Laden mit Bewegungsmeldern auszustatten.
Regale zierten die Wände, gefüllt mit Waffen und Apparaturen, die so aussahen, als seien sie schon Jahre außer Betrieb und sich danach sehnten, von einem Tek wieder in Schuss gebracht zu werden. Was für eine Fügung, dass gerade wir jetzt aufgetaucht waren. War da vielleicht eine Waffe dabei, die so heiß wurde, dass wir uns mit Leichtigkeit durch das Eis brennen konnten? Welches dieser Artefakte würde uns wohl helfen können, hinaus zum Zylinder zu gelangen, damit wir dem Puzzle unserer Erinnerungen weitere Teile hinzufügen konnten? Auf der Suche nach meiner Antwort entging mir auch der Tisch am Ende des Raumes nicht, der mit einer blauen Plane zugedeckt war. Der Form nach konnte ein Mensch darunter liegen, wenn auch ein großer, mit stabilem Körperbau.
Als hätte er meine Gedanken gehört, bewegte sich Ruiz auf genau diesen Tisch zu. Je näher wir ihm kamen, desto größer wurden die Staubflocken, die wir aufwirbelten. Auch die Plane war, wie ich jetzt feststellte, mit Staub bedeckt. Ein Mensch war es wohl doch nicht, der darunter lag, nach all der Zeit, die dieser Ort nicht betreten worden war. Höchstens sein Skelett. Dann musste sein Besitzer aber ein halber Riese gewesen sein.
Er drückte sich zwischen einem Regal und dem Tisch hindurch, bis zu seinem Kopfende, fasste die Plane an einem Ende und zog sie schräg über das darunter befindliche Objekt. Ich konnte erst nichts sehen, weil der auffliegende Staub einen weiß-grauen Schleier bildete. Während die großen Flocken abstürzten und die kleineren gemächlich davontrieben, erkannte ich erste Konturen. Das Ding hatte tatsächlich menschliche Formen. Ich glaubte, schwarze Haut zu erkennen, und sah noch einmal genauer hin. Nein … das war keine Haut, das waren Panzerplatten. Es schien sich um eine Art Ritterrüstung zu handeln, natürlich viel feiner gefertigt und mit servoverstärkten Gelenken. Die Rüstung war beschädigt. Einschusslöcher zogen sich über ihren Oberkörper. Auf der Brust entdeckte ich einen kaum lesbaren, eingravierten Schriftzug und ich ging näher ran, um ihn besser lesen zu können.
"Ach du Scheiße", stieß Sergej aus, der mir zuvorkam. "Ist das wirklich das Original?"
"Ja", bestätigte Ruiz, "das ist der Kampfanzug, den der erste El Robo in seinem letzten Gefecht gegen die damalige Diktatur getragen hat."
"Wie hast du den hierher bekommen?", fragte Moritz.
"Kontakte. Der Anzug verstaubte in einem Lager der Siks. Ich hatte kurz nach meiner Verbannung noch einige Freunde in den Reihen des Sicherheitskorps und das war eine der ersten Sachen, die ich mir von ihnen schicken ließ. Damals war mein Plan, damit in die Zitadelle zurückzukehren, doch wir mussten uns hier erst mal zurechtfinden. Schließlich haben wir die Siedlung gegründet und hatten plötzlich andere Verpflichtungen. Am Ende hätte der Anzug auch nur mich allein zurückgebracht, wenn ich denn eine Möglichkeit gefunden hätte, ihn zu reparieren."
"Was muss denn repariert werden?" Es wunderte mich nicht, dass Moritz an dieser Stelle hellhörig geworden war. Seine Augen glänzten und er brannte bestimmt darauf, sofort mit der Reparatur zu beginnen.
Ruiz lacht trocken. "Oh, es ist eher die Frage, was überhaupt noch funktioniert. Wenn man mal von den Kampfschäden absieht, ist das Ding außerdem antik. Aber falls ihr ein kleines Wunder vollbringen und den Anzug wirklich reparieren könnt, hilft er euch vielleicht bei euren Zielen."
"Was sind unsere Ziele eigentlich?", fragte Moritz, diesmal in meine und Sergejs Richtung. "Greifen wir die Zitadelle an, um uns zu rächen?"
"Nein." Ich schüttelte langsam den Kopf. "Auch wenn das eine der Sachen ist, die ich allzu gerne tun würde." Ich blickte den schwarzen Schrotthaufen an und stellte mir vor, wie er wohl in seinen besten Jahren ausgesehen haben mochte. "Ich will damit hinaus zum Zylinder. Ich will Gewissheit, ob wir wirklich dort waren und ob sie die Kältekammern wirklich geborgen haben."
"Der Anzug El Robo versorgt den Insassen mit angenehmen Raumklima und perfekter Raumtemperatur, außerdem kann er die Außenbereiche heizen, damit Gelenke und Sensoren funktionsbereit bleiben. Die Batterie, die er mal hatte, konnte ihn nach voller Ladung bis zu fünf Tage in Betrieb halten." So wie Ruiz das erklärte, klang das wie aus dem Werbeprospekt.
"Wenn er draußen im Sonnenlicht unterwegs ist, könnte ich ihn mit Solarpanels versehen und die Laufzeit erhöhen." Wir hatten kaum einen Blick auf den Anzug geworfen und Moritz hatte bereits Ideen, wie man die Blechbüchse noch verbessern konnte. "Gibt es hier oder irgendwo im Ring welche?"
"Ich hoffe, ihr habt etwas Zeit mitgebracht." Ruiz zwinkerte mir zu. Witzig, wo sollten wir auch hin? "Im Ring gibt es einiges. Nur nicht in unserem Besitz. Wir müssten mit den anderen Gruppen und Banden verhandeln, um alles für seine Reparatur zu bekommen. Wird nicht einfach, das könnt ihr mir glauben." Er mustere uns, einen nach dem anderen. "Zudem muss derjenige, der von euch in El Robo hineinsteigt, noch lernen, mit dem Anzug umzugehen."
"Daniel hier kann mit Maschinen reden, wenn er sie berührt", schlug Moritz mich scheinbar als Pilot vor. "Die Zeit können wir verkürzen. Setzen wir einfach ihn rein."
Ich blickte in die Runde. Klara zuckte mit den Schultern. Na ja, sie müsste sich doch stark auf die Zehenspitzen stellen, um hinein zu passen. Und Sergej grinste mich einfach nur an. "Dann kann ich dir endlich eine verpassen, ohne dass du auseinanderfällst."
Na klasse. Nicht, dass ich nicht auch darauf brannte, mal in einen coolen Kampfanzug zu klettern.
Ruiz nickte. "Dennoch muss sich auch sein Körper an die Bewegung im Anzug gewöhnen. Hast du bereits ein Basiskampftrainig durchlaufen, Daniel?"
Ich kratzte mich verlegen am Kopf.
"Hab ich mir gedacht. Das hätte ich deinen Bewegungen angesehen. Was Körperbau und Fitness angeht, wäre der hier", dabei zeigte er auf Sergej, "am besten geeignet. Aber die Fähigkeit, den Anzug überhaupt steuern zu können, überwiegt als Argument." Er warf nochmal einen Blick auf Sergej. "Mit dem Arm hätte er wahrscheinlich auch Probleme." Dann sah er wieder mich an. "Du solltest dich unterrichten lassen. Ich habe einige kompetente Männer, die das übernehmen könnten. Oder ich kümmere mich persönlich darum." Bei den letzten Worten begann er, zu grinsen. Auf eine Weise, die mich fragen ließ, ob ich das wirklich wollte.
Ich nickte tapfer. "Ich habe auch noch etwas, was man in der Zeit machen kann. Ich habe hier Informationen …" Ich stockte. Wo war der Karton?
"Du starrst in die Gegend. Das hat meine Oma früher auch immer getan. Angefangen, irgendwas zu erzählen, und dann hat sie es vergessen. Ich glaub, du wirst alt." Klara lachte.
"Ach Mist!", fluchte ich. "Ich hatte einen Karton, mit Informationen, die uns Thulius in seinem letzten Willen vermacht hat. Aber ich hab sie verloren. In dem Raum, in dem wir das Toxin abbekommen haben."
"Oh, ich kann mir irgendwie vorstellen, wann genau das passiert ist. Sorry", entschuldigte sich Sergej. "Und jetzt?"
Ein Schweigen erfüllte unseren Kreis.
"Ich kann euch wieder zum Raum zurückführen", kam es von der Tür des Lagerraums. "Unter einer Bedingung." Der Ursprung der hohen Stimme war eine junge Frau mit kurzen roten Locken und Sommersprossen, die sich wahllos auf und um eine Stupsnase verteilt hatten. Sie lehnte, eine blaue Latzhose tragend, mit verschränkten Armen am Türrahmen.
Ich überlegt kurz, weil ich zwar die Stimme kannte, die Person, der sie da vor uns stand aber scheinbar nicht. Dann wagte ich einen Versuch: "Cass, bist du das?"
"Mann, was hast du denn erwartet? Einen Cyborg?"
"Oh, das willst du gar nicht wissen, was ich wirklich erwartet habe", sagte ich und zog die Augenbrauen hoch. "Also, was ist deine Bedingung. Obwohl ich sie mir fast denken kann."
"Moritz begleitet uns und ihr lasst uns genug Raum, damit wir uns auch wirklich unterhalten können. Und keine blöden Bemerkungen, ist das klar?"
Ich sah zu Moritz, der hilflos die Schultern zuckte. "Habe ich eine Wahl?"
Ich zuckte ebenfalls mit den Schultern. "Schätze nicht. Aber hey, so schlimm wird das nicht. Sie scheint genauso ein Maschinenfreak zu sein wie du."
"Genau – das – hab – ich – gemeint!", empörte sich Cass in dramatischem Tonfall und wir mussten schmunzeln, selbst Moritz konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.