Die Läufe des Roboters glühten und die letzte Wand, die uns vom Torraum trennte, schmolz zu grünem Schleim zusammen.
"Aus dem Weg!", brüllte der Captain, drückte mich beiseite und warf sich durch die Öffnung. Er schoss, die Siks schossen, dann schoss ich eben auch. Auf Annadora, die Thulius gegenüber stand und beide brachen zusammen.
"Thulius!", rief der Captain, dann entdeckte er zwei Siks, die abseits standen. "Ihr Idioten, wie konntet ihr das zulassen?"
So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Moritz stand mit aufgerissenen Augen neben Sergej, der seine harte Maske vergessen hatte und fassungslos auf den dampfenden Körper des alten Mannes starrte. Es war Chaos. Das war das Schlimmste, was hätte passieren können.
Doch ich irrte mich. Das Schlimmste kam erst noch. Hinter den Siks öffnete sich die Tür und noch mehr Siks tauchten auf, angeführt von einer Frau, die sonderbar blass aussah. Ein bläulicher Schimmer umspielte ihre grauen Haare. Ich blinzelte und der Schimmer war verschwunden.
"Nehmen Sie jeden der Anwesenden fest!", befahl sie mit eisiger Stimme.
"Majorin Melnikowa, wir haben die Situa…" Der Captain wollte protestieren. Wollte er sich für uns stark machen? Oder nur verhindern, dass man auch ihn festnahm?
"Schweigen Sie, Captain Lover! Mit Ihnen werde ich mich später befassen."
Ich sah wieder zu Sergej. Er hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Ja, er wollte kämpfen! Das sahen auch die Siks und schossen. Auf ihn, auf Moritz und auf mich. Mir wurde schwarz vor Augen.
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Das unangenehme Geräusch von Metall, das kratzend über den Boden geschoben wurde, riss mich aus meinem Dämmerschlaf.
Ich blickte im schwachen Licht einer Stromsparlampe, die mir Kopfschmerzen bereitete, durch meine kleine Zelle zur Tür. Sie hatten mir wieder irgendeinen Fraß aus dem Nahrungssynth hingestellt. Das war die zweite Mahlzeit, die ich bekam, also mussten schon einige Stunden vergangen sein, seit sie mich hier eingesperrt hatten.
Das war also der Dank für unsere Unterstützung in der Sache mit den Reformern. Ich starrte an die Decke und ignorierte das Essen. Ich wollte weg von hier, aber ohne meine Ausrüstung war das undenkbar. Die hatten sie mir abgenommen und nur Klamotten aus dem billigsten und dünnsten Synthgewebe bedeckten jetzt meine Haut. Nun wartete ich darauf, dass sich etwas tat, und versuchte zwischendurch, etwas zu schlafen. Wenigstens war ich noch nicht wieder gefoltert worden. Beim Gedanken an diese Tortur begann mein Fingerstumpf erneut zu pochen.
Ich schwang die Beine von der Pritsche und ging zur Eingangstür. Vielleicht würde mich das Essen doch ablenken. Es war erstaunlich, dass man mit dem Nahrungssynth, den es keine Mühe kostete, ein Essen gut aussehen zu lassen, trotzdem so widerlich grünen Schleim herstellen konnte. Ich stocherte darin herum und hob den Löffel vor mir in die Luft. Ich erwartete, dass er sich dampfend und zischend auflösen würde, aber er gab nur ein langweilig schmatzendes Geräusch von sich.
Ich führte den Löffel zum Mund. Es schmeckte nach nichts. Etwas zu essen, das nach nichts schmeckte, war noch schlimmer, als etwas, das schlecht schmeckte. Ich zwang es herunter und warf Schale und Löffel in ein Loch in der Ecke. Dort zerlegten sie sich in ihre Einzelteile, nachdem sich die Abdeckung darüber geschoben hatte. Mit der nächsten Mahlzeit würde ich mich an der Zellenwand verewigen. Den Löffel als Pinsel benutzen und ein kleines Kunstwerk hinterlassen. Zu schade, dass mir die Idee erst jetzt gekommen war.
Ansonsten gab es während der Wartezeit nicht viel zu tun. Ich konnte mir vorstellen, dass Sergej sich die Zeit mit Training vertrieb, aber ich war nicht so der Liegestützen-Typ. Moritz hatte sicher angefangen, seine Zelle zu demontieren, nachdem er aus einer Feder der Matratze ein Werkzeug gebaut hatte.
Ich legte mich wieder hin.
Gerade als mein Bewusstsein dabei war, in einen Dämmerzustand überzugehen, pochte es an meine Tür und sie wurde geöffnet. Zwei junge Siks standen davor. Die hatten doch genau auf diesen Moment gewartet, um mich zu holen, oder?
"Wü-würden Sie bitte mitkommen", stammelte einer von ihnen. Das Sicherheitskorps musste unter dem Angriff schwer gelitten haben, wenn sie schon solche Hasenfüße als Bewacher für mich abstellten. Sie brachten mich in einen kleinen Raum, nicht weit von meiner Zelle. Er war karg eingerichtet. Zwei Stühle, ein Tisch dazwischen und ein großes Medienpanel an der Wand. Keine Folterwerkzeuge, aber die konnten ja noch kommen. Sie wiesen mich an, mich so hinzusetzen, dass ich einen guten Blick auf das Medienpanel hatte. Bekam ich etwas Unterhaltung geboten, solange ich warten musste? Die Hoffnung wurde nicht erfüllt und ein paar Minuten später erschien die Frau, die uns festgenommen hatte.
Ich kannte mich mit der Rangordnung und den Abzeichen nicht wirklich aus, keine Ahnung wie hoch sie tatsächlich stand. Wäre ich ihr irgendwo sonst in der Zitadelle begegnet, wäre sie mir nicht einmal aufgefallen. Unscheinbar und vielleicht irgendwo zwischen 40 und 50. Aus der Nähe fiel mir auf, dass ihre Haare eigentlich blond waren und sich nur verdammt viele graue Strähnen hindurchzogen. Sie waren in einem strengen Dutt auf dem Hinterkopf zusammengeflochten, der absolut zu ihrem ernsten Gesicht passte.
"Untersuchung des Falls X25104A", sagte sie vollkommen emotionslos. "Die Befragung führt Majorin Katharina Melnikowa. Der Name des Befragten lautet?" Sie strahlte eine Kühle aus, die mich frösteln ließ.
"Meinen Namen scheint inzwischen jeder zu kennen, muss ich darauf wirklich antworten?"
"Für das Protokoll, ja."
"Daniel Adler."
"Herr Adler." Mein Name klang so hart, als er aus ihrem Mund kam. "Sie besitzen keinen eingebauten ID-Chip. Wo haben Sie ihn entfernen lassen?"
"Ich … Sie haben noch nicht mit Captain Lover geredet, oder?"
"Captain Lover sitzt momentan ebenfalls in Arrest."
"Ich nehme an, wegen unethischer Verhörmethoden?" Ich zauberte ein schiefes Grinsen auf mein Gesicht. Vielleicht konnte ich ihre Eisschicht ja mit meinem unwiderstehlichen Charme knacken und irgendwie aus dieser unangenehmen Situation entkommen.
Doch ich hatte keine Chance und sie blieb weiter ernst. "Nein, grobe Missachtung seiner Aufgaben als Offizier und Verdacht auf Kollaboration mit Verrätern an der Zitadelle. Aber genug von anderen. Meine Frage wurde noch nicht beantwortet."
Falls der Captain sein Wissen bisher für sich behalten hatte, bestand die Chance, dass das auch so blieb. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er besonders kooperativ war, nachdem er für die Rettung der Zitadelle festgenommen wurde.
"Das muss ein Irrtum sein", versuchte ich, den Unwissenden zu spielen. Bei Lover hatte das nicht geklappt. Vielleicht hier? "Noch gestern bin ich mit meinem Chip durch die Zitadelle spaziert. Habe Ratsmitglied Thulius Rede mit angesehen. Irgendwo bei dem Attentat auf ihn oder beim Angriff dieser Terroristen muss der Chip beschädigt worden sein. Ehrlich, ich habe mich heldenhaft dafür eingesetzt, unsere Heimat zu schützen. Ist das der Lohn dafür?"
Ich zeigte auf meine Kleidung und trug das Ganze im theatralischten Tonfall vor, den ich hinbekam. Ein Grinsen schlich sich in ihr Gesicht. Endlich! Es verlor am Ende aber den Kampf gegen die Ernsthaftigkeit. Sie hob mahnend die Augenbrauen.
"Ich sehe schon, Sie wollen nicht kooperativ sein. Nun, ich will Ihnen sagen, was auf dem Spiel steht. Eine Gerichtsverhandlung wird darüber entscheiden, ob Sie und die Mitangeklagten als Verbrecher in den Äußersten Ring verbannt werden. Anders als wir es der Öffentlichkeit offenbaren, gibt es regelmäßig Individuen, die diesen Weg gehen. Nicht die freundliche Art Menschen." Sie fixierte mich mit ihren eisgrauen Augen. "Minenarbeiter, die ihre Kollegen absichtlich verschüttet haben, größenwahnsinnige Meds, die unerlaubte Experimente an ihren Patienten durchführen und reiche Spinner aus der Oberwelt, die des Nachts zu Serienkillern mutieren und die Unterwelt heimsuchen."
Ich schluckte. Falls wir tatsächlich im Äußersten Ring landen würden, war alle Hoffnung verloren, dass wir das Geheimnis unserer Vergangenheit aufklärten. Was allerdings kaum einen Unterschied machte, da es auch keine Aussicht auf eine Zukunft gab. Das Leben dort war ein ewiger Kampf. Mit Sergej an unserer Seite würden wir eine Weile durchhalten. Gegen Verbrecher, die ich mir weit schlimmer vorstellte, als jede Maske, die er aufsetzen konnte, aber sicher nicht lange.
"Verstehen Sie, worum es hier geht, Herr Adler?" Ihre Stirn legte sich in Falten. "Sie und Ihre Freunde stehen im Verdacht, bewusst mit den Verbrechern zusammengearbeitet zu haben, die den Anschlag auf das ehrenwerte Ratsmitglied Thulius verübt haben und, was noch viel schwerwiegender ist, den einzigen Schutz gegen die Außenwelt zerstören wollten."
Wenn man wollte, konnte man das so hindrehen. Tatsächlich hatten wir Annadora ja erst vor Kurzem überhaupt kennengelernt, von ihren wahren Plänen hatten wir nichts gewusst. Unsere anderen Taten standen natürlich auch im Raum, die hatten damit aber nichts zu tun.
"Aber wir haben doch mit dem Sicherheitskorps und Ratsmitglied Thulius zusammengearbeitet. Die Aufzeichnungen des Einsatzes und der Gespräche mit Thulius zeigen das sicher. Alles andere ist reine Fantasie."
"Es gibt keine Aufzeichnungen." Sie lächelte schwach. "Als Ratsmitglied genoss Thulius gewisse Sonderrechte, die ihn auch von einer Überwachung ausschlossen. Die Reformer haben alle Kameras, auch die beim Tor abgeschaltet. Vom Einsatz mit Captain Lover gibt es ebenfalls keine Aufzeichnung, er selbst ist momentan als glaubwürdiger Zeuge ungeeignet."
"Thulius genoss einen gewissen Schutz? Ist er kein Ratsmitglied mehr?"
"So kann man das auch sehen. Er ist tot."
Mein Magen zog sich zusammen. Das Ratsmitglied war unsere Hoffnung gewesen, endlich Antworten auf die Lücken zu erhalten, die in unserer Erinnerung und in den Aufzeichnungen Numbakas klafften. Moritz war zu ihm durchgedrungen. Wir waren so nah dran! Und jetzt war diese Aussicht schon wieder verloren?
"Wie können Sie überhaupt irgendwelche Rückschlüsse ziehen, auf welcher Seite wir stehen, wenn es überhaupt keine Aufzeichnungen gibt?" Ich schüttelte den Kopf. "Wenn sämtliche Personen, die sich zur Zeit des Angriffs auf das Tor in der Gegend befunden haben, potenzielle Anhänger der Reformer sind, können Sie gleich den ganzen Rat einsperren und das halbe noch lebende Sicherheitskorps. Und sich selbst auch!"
Ich war sauer. Das war nicht fair! Sollte im Zweifel nicht zugunsten des Angeklagten entschieden werden?
"Werden Sie nicht unverschämt!" Sie funkelte mich an und ich hatte das Gefühl, dass es gleich 5 Grad kälter im raum wurde. "Selbstverständlich gibt es andere Beweise, die darauf hindeuten. Wir haben die Kommunikation der Reformer zurückverfolgen können, nachdem sie ihre Bekennernachricht abgeschickt haben. Unglücklicherweise hat es zu lange gedauert, um die nachfolgenden Geschehnisse zu verhindern. Ein Gespräch wurde zur Ebene U102 zurückverfolgt, einem Laden, der von einem gewissen Numbaka Godwin geführt wird. Aber sehen sie selbst."
Hinter ihr begann auf dem Medienpanel das Gespräch, das wir mit Annadora geführt hatten. Wir waren alle darauf zu erkennen. Falls das der einzige verwertbare Beweis war, es keine Aufzeichnungen von unserem Kampf gegen die Reformer gab und alle potenziellen Zeugen selber auf der Anklagebank saßen, dann sah es übel für uns aus. Mein Kopf wurde leicht und meine Gedanken wollten davonrennen. Wie kamen wir aus dieser Sache nur raus?
"Gleich nach Ihrer Festnahme haben wir ein Einsatzkommando in besagten Laden geschickt und alle weiteren Beteiligten festnehmen lassen. Und präventiv alle anderen Angestellten."
Nein! Dann hatten sie auch Numbaka und Klara in ihrer Gewalt. Ich wollte schreien, doch der Schock lähmte mich und mir sank das Herz.
"Wie sieht es aus? Kooperieren Sie? Wie bereits erwähnt, kann das eine positive Auswirkung auf das Urteil haben."
"Wir waren das mit dem Anschlag und den Angriff auf das Tor nicht", sagte ich und meine Stimme zitterte. "Wir haben versucht, Thulius und das Tor zu retten."
"Wie sieht es mit dem Anschlag auf die Ebenen U8 bis U1 aus? Zeitlich gesehen und nach Durchsicht des eben gezeigten Gesprächs, scheint Ihre Gruppe zumindest damit in Verbindung zu stehen. Allein diese Handlung kann schon zu einer Inhaftierung im Äußersten Ring führen. Falls Sie nicht kooperieren und wir es Ihnen nachweisen."
Das Gespräch mit Annadora bewies, dass wir es getan hatten. Aber es zeigte auch, dass wir vom Tor und dem Anschlag nichts wussten. Wenn ich es jetzt zugab, machte es ja keinen Unterschied, oder? Außer, dass wir nicht in den Ring mussten.
"Das waren wir, ja", gab ich zähneknirschend zu. "Uns war das Ausmaß des Schadens aber nicht bewusst. Von den Reformern wussten wir aber nichts. So etwas hätten wir nie unterstützt."
Das Gesicht von Major Katharina Melnikowa hellte sich auf.
"Wunderbar. Das ist doch schon mal etwas. Ich freue mich, Sie morgen beim Gerichtstermin wiederzusehen."
Sie erhob sich. War das schon alles? Wollte sie vielleicht gar keinen Zusammenhang zwischen uns und den Reformern herstellen, sondern nur den wahren Schuldigen für den Anschlag auf die Ebene mit der Kühlhalle finden? Wozu, wenn das schon in der Aufnahme zu erkennen war?
Die Tür öffnete sich, sie verließ eiligen Schritts den Raum und meine Eskorte betrat ihn, um mich zurück zu meiner Zelle zu führen, begleitet von einer bösen Vorahnung auf den nächsten Tag.