Prompt: Tausendschön
Datum: 01.07.2020
Nachgeschrieben am: 31.07.2020 19:40 - 20:10 Uhr
Warnungen: Entführung, Brutalität, Mord, Tod
Tausendschön, so nennen sie dich.
Ich nenne dich Gänseblümchen.
Wegen deiner hellen Haut und deiner in der Sonne goldgelb schimmernden Augen. Eigentlich sind sie honigbraun, aber in der Sonne sehen sie anders aus.
Meine Fingerspitzen berühren die Muttermale, die über deinen Körper verteilt sind, als hätte ein Engel mit einem Pinsel Farbe auf dich gespritzt.
Als wir Kinder waren, habe ich sie mit einem Filzstift verbunden und Figuren und Sternbilder in ihnen gesucht.
Es war ein wunderbares Spiel.
Heute ist es mehr als ein Spiel.
Es ist das letzte, was von unserer Kindheit übrig geblieben ist.
Die letzte Erinnerung, die du hast.
Dein Blick ist leer.
Dunkle Ringe haben sich unter deinen Augen gebildet.
Du schläfst nicht.
Jedes Mal, wenn du deine Augen schließt, erlebst du den Albtraum, den wir gemeinsam durchlebt haben, wieder.
Während ich durch die Therapie wieder ins Leben zurück gefunden habe, hat sie bei dir zum Gegenteil geführt.
Je mehr sie mit dir über die Geschehnisse geredet haben, desto mehr hast du dich zurückgezogen.
Irgendwann hast du nicht mehr gesprochen, sie nicht mehr angesehen.
Dann kam der Tag, an dem du auch nicht mehr auf mich reagiert hast.
Du liegst nur noch auf dem Bett, starrst ins Leere, weigerst dich zu essen.
Dank deiner Patientenverfügung können sie dich nicht dazu zwingen.
Ich bin gezwungen zu akzeptieren, dass bald die Hälfte meiner selbst endgültig fehlen wird, aber ich weiß auch, dass ich es dir nicht zumuten kann, hier zu bleiben.
Nicht, nachdem wir gezwungen waren, Dinge zu tun, die wir uns nicht einmal in unseren schlimmsten Träumen vorstellen konnten.
Wenn du mitten in der Nacht aufwachst, weil du dich wachgeschrieen hast, und auf deine Hände starrst, dann weiß ich, was du gesehen hast, ohne dass du es sagst.
Du hast Scott gesehen.
Das Eisenrohr im Bauch …
Ausblutend …
Du siehst Allison …
Die Armbrustpfeile in ihrem Oberschenkel und ihrer Schulter …
Das Gesicht schmerzverzerrt …
Um Hilfe flehend …
Aber wir konnten nichts tun …
Waren in dieser kranken Battle Royale unseren Entführern ausgeliefert.
Ethan und Aiden habe ich die Kehle durchgeschnitten, bevor diese Drecksäcke sich an ihnen vergehen konnten.
Es ist ein schwacher Trost.
Mir ist dieses Schicksal nicht erspart geblieben und dir ebenfalls nicht.
Unser Alter und unser Geschlecht war ihnen egal.
Ich glaube, ich hätte deine Kehle damals auch durchtrennen sollen, aber ich konnte es nicht.
Ich konnte nicht meinen eigenen Zwilling töten.
Nicht meinen Bruder.
Letztendlich hat es nichts genutzt.
Stumm halte ich deine Hand, zeichne mit einem schwarzen Edding die vertrauten Muster auf deine Haut, um dich zu beruhigen.
Dein Blick ruht auf mir.
Ich sehe einen Funken deiner Persönlichkeit durchscheinen und ein flüchtiges Lächeln huscht über dein Gesicht.
Ich nicke.
Es ist soweit.
Wenn du heute deine Augen schließt, wirst du sie nie wieder öffnen.
Ich schmiege mich an dich, halte dich.
Synchron schlagen unsere Herzen.
"Ich hab dich lieb, Gänseblümchen", flüstere ich dir ins Ohr.
Der Moment in dem dein Herz aufhört zu schlagen, folgt mein Herz ihm in die Stille.
Zwar bleibe ich zurück, aber mein Grund zum Durchhalten ist gegangen.
Ich hoffe, ich finde einen anderen.
Denn ein Leben ohne mein Gänseblümchen kann ich mir nicht vorstellen.
Aber ich werde es leben müssen, denn ihm zu folgen, dazu fehlt mir der Mut.
Die ersten Schritte in diesem neuen Leben sind hart.
Aber ich gehe sie.
Hilflos.
Zunächst allein …
Aber dann ist er da …
Mein Creeperwolf.
Er ist nicht mein Gänseblümchen, aber er gibt mir einen Grund weiterzumachen.
Und jetzt ist er es, der die Muster und Sternbilder sucht in den Muttermalen, die wie ein Spiegelbild von Gänseblümchens meinen Körper bedecken.
Es ist vertraut und beruhigend und lässt mich in seinen Armen schlafen.