Geschrieben: 18:10 - 18:50 Uhr
Warnungen: Suizidversuch und seine Folgen
Julien schob den Vorhang beiseite und blickte hinaus zum Publikum. Die Ränge füllten sich langsam, aber stetig. Ein kleines Lächeln zeigte sich auf seinem bis dato unbewegten Gesicht. Die erste Emotion des heutigen Tages.
Hier und heute würde Julien auf der Bühne stehen. Es wäre seine erste und gleichzeitig auch die letzte Vorstellung seines Lebens. Er sollte hier in der Schule den Romeo geben. Zusammen mit dem Mädchen, welches er liebte, aber mit dem er nicht zusammen sein konnte.
Ihre Geschichte war keine klassische Romeo-und-Julia-Story. Im Gegenteil. Sie hatten einander gehabt, sich einvernehmlich getrennt und während sie mit ihrem Leben weitergemacht hatte, konnte Julien das nicht.
Er ertrug den Gedanken nicht, sein Leben ohne Mathilde leben zu müssen. Also wollte er es beenden und er hatte den passenden Zeitpunkt dafür gewählt.
Julien überprüfte noch einmal das Messer mit welchem er sich das Leben nehmen wollte und steckte dieses dann sorgsam weg. Das Bühnenmesser, welches er nutzen sollte, um als Romeo aus dem Leben zu scheiden, hatte er in seiner Tasche versteckt.
Eine Glocke tönte durch den Theatersaal und dann ging es auch schon los.
Bald, bald würde Juliens Leiden ein Ende haben.
Er gab einen überzeugenden Romeo ab, verführte seine Mathilde und dann war es so weit. Er fand seine leblose Julia, küsste sie und zückte das Messer. Lächelnd stieß er sich die Stichwaffe unter dem Brustbein hindurch ins Herz. Julien grunzte erstickt auf, weil der Schmerz ihm die Luft aus den Lungen trieb.
Blut quoll rot und heiß wie eine Sturzflut aus der Wunde, als seine Hand mit dem Messer sich zurückzog.
Er hörte Mathilde panisch aufschreien, während es dunkel um ihn herum wurde. Es fiel ihm schwer zu atmen und er fühlte seinen Herzschlag langsamer werden. Dann war es dunkel und still. Julien hoffte, dass dies das Ende war.
oOo
Ein regelmäßiges und vor allen Dingen nerviges Piepsen war das Erste, was Julien wahrnahm. Er versuchte zu ergründen, was passiert war und wo er sich befand. Langsam flatterten seine Lider auf und nahmen die Umgebung in sich auf. Steril-weiße Wände, ein Fenster, welches nicht nach draußen in Richtung Natur, sondern auf einen Gang gerichtet war, Unmengen an Geräten, die seinen Zustand überwachten.
Julien verzog sein Gesicht, als ihm klar wurde, das er im Krankenhaus war. Er versuchte sich vom Fenster wegzudrehen, wurde aber von etwas in Position gehalten. Langsam hob er seinen Kopf, blickte an seinem Körper herunter. Man hatte ihn in die Gurte gelegt. Vermutlich, damit er sich nicht selbst verletzen oder abhauen konnte.
Mathilde lag mit dem Kopf neben seinem Arm auf der Matratze und schlief. Ihre Hand hielt die seine fest umschlossen. Julien bemühte sich still zu halten, um sie nicht zu wecken, denn die dunklen Ringe unter ihren Augen sprachen Bände.
Sein Kopf sackte zurück in das plattgelegene Kissen und er blickte zum Fenster. Erst jetzt sah er, dass zwischen den beiden Scheiben eine Türöffnung war. Darin tauchte jetzt ein junger Mann auf.
»Sie haben ihrer Partnerin einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Herr Pastors«, sagte der Mann, während er ans Bett trat. Er stellte sich mit den Worten, »Ich heiße Daniel und bin ihr zuständiger Pfleger«, vor.
Julien nickte langsam und räusperte sich leise. Sein Hals war wahnsinnig trocken und schmerzte.
Daniel trat an die Anrichte unter dem Fenster und kam einen Augenblick später mit einem Glas Wasser und einem Strohhalm zurück. Seine Hand schob sich in Juliens Nacken und er half ihm zu trinken.
»Langsam ... nicht das sie sich verschlucken, Herr Pastors. Husten würde in ihrer Situation ziemlich wehtun«, sagte Daniel.
»Julien ... ich heiße ... Julien«, schaffte er es hervorzubringen, bevor er einen weiteren Schluck Wasser nahm. Sein Bauch und seine Brust schmerzten, aber Julien beschwerte sich nicht. Er wusste, dass er sich das selbst zuzuschreiben hatte.
»Okay, Julien«, erwiderte Daniel und lächelte freundlich, während er die Anzeigen um Julien herum überprüfte. »Der Doktor kommt gleich, um mit ihnen alles weitere zu besprechen.«
Julien nickte langsam.
»Okay ... nur ... können sie die ... Dinger abmachen, ich würde mich gern auf die Seite drehen«, flüsterte Julien.
Daniels Hand legte sich auf seine Schulter.
»Tut mir leid, aber die werden ihnen ... dir noch ein Weilchen erhalten bleiben. Nicht nur wegen dem, was du versucht hast die anzutun, sondern auch, damit du dich eben nicht drehst«, erklärte der Pfleger.
Julien seufzte und ergab sich seinem Schicksal. Sein Blick landete wieder auf Mathilde und er hob fragend seine Braue.
»Ihre Freundin ist seit ihrer Einlieferung hier. Sie weicht nicht von ihrer Seite. Das ist das erste Mal, dass ich sie schlafen sehe«, sagte Daniel.
Julien blinzelte. »Wie lange?«, wollte er wissen.
»Vier Tage ... eine Weile sah es wirklich nicht gut aus für sie, Herr Pastors«, sagte eine Stimme von der Tür her.
Julien blinzelte und schluckte schwer. Als hätte er nicht schon genug angerichtet, so stand er jetzt seinem Onkel gegenüber.
»Onkel Jonas ... ich ...«, begann er, aber die harsche Handbewegung seines Onkels unterbrach ihn.
»Du musst nichts sagen, Julien. Ich weiß genau, was passiert ist. Ich war dabei ... von Anfang bis Ende«, sagte er und gab Julien damit zu verstehen, dass er sich die Aufführung angesehen hatte.
Julien schluckte. Er drehte seinen Kopf zur Seite und blickte direkt in Mathildes warme braune Augen.
Um all den auf ihn hereinstürzenden Emotionen zu entfliehen, schloss er seine eigenen, aber das hinderte die Tränen nicht daran überzufließen und seine Wangen zu benetzen.
Niemand sprach ein Wort. Daniel zog sich zurück und Jonas nahm Juliens freie Hand in die seine. Er drückte sie sanft, mit Rücksicht auf den Zugang, der in ihrem Rücken lag.
»Mein dummer Junge«, flüsterte Jonas leise, »warum hast du denn nicht mit uns geredet?«
Harsch schluchzte Julien auf, verbiss sich ein Stöhnen, ob des Schmerzes, der ihn durchzuckte.
»Ich konnte nicht«
Mathilde sprach zum ersten Mal: »Du musst, Julien. Ich will nicht, dass das unsere letzte gemeinsame Vorstellung bleibt!« Nach diesen Worten stand sie auf und beugte sich über ihn. Warme trockene Lippen streiften die seinen, bevor sie das Zimmer auf der Intensivstation verließ. Julien in der Obhut seines Onkels wissend.
Julien blickte ihr nach, bevor er seinen Onkel ansah. »Ich will das auch nicht«, flüsterte er.
Jonas lächelte. »Das ist ein guter Anfang, mein Junge. Das wird ein langer Weg für dich, aber er ist es wert. Und du bist nicht allein. Wir sind alle bei dir.«, sagte er und streichelte durch Juliens dunkles Haar.
»Danke«, hauchte Julien.
»Schlaf, mein Kleiner. Ich werde auf dich aufpassen«, versprach Jonas.
Julien nickte und ließ sich zurück in die Dunkelheit ziehen. Dieses Mal war sie warm.