Geschrieben: 18:00 - 18:30 Uhr
Am Ende des Sommers wäre es soweit hatten sie ihr gesagt. Bis dahin würde sie vermutlich überleben, aber nicht länger.
Isabelle blickte aus dem Fenster ihres Hospizzimmers und betrachtete die bunte Farbenpracht, welche der Indian Summer nach New England gebracht hatte.
Die Blätter der Bäume, welche das Hospiz umgaben, strahlten in einem Regenbogen von saftigem Grün, über leuchtendem Gelb, warmen Orange, strahlendem Rot bis hin zu fast schokoladigem Braun. Der Herbst hatte Einzug in New England gehalten und ihr Herz schlug noch immer tapfer fast hunderttausend Schläge pro Tag, stolperte zwar manchmal merklich, aber fand seinen Takt immer wieder.
Ihr Körper hatte den Herbst des Lebens schon lange hinter sich gelassen und war Mitten im Winter. Fast ein ganzes Jahrhundert hatte er schon auf dem Buckel, aber wie der tapfere kleine Toaster machte er immer weiter und gab nicht auf, obwohl Isabelle sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich wieder bei ihrem Mann Edward und ihrem Sohn Jacob zu sein, die schon vor langer Zeit von ihr gegangen waren.
Sie war die Letzte, die von ihrer kleinen Familie noch lebte und sie hatte genug. Genug vom Leben ohne die Menschen, die sie am meisten liebte; genug von den leeren Versprechungen der Ärzte; genug vom Leben im Hospiz; genug vom ewigen Warten.
Zwar war ihr Körper zu schwach, um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, aber sie konnte um Hilfe bitten.
Und das hatte sie getan.
Viele Hürden hatte sie dafür überwinden müssen. Mit vielen Menschen, sogenannten Experten, sprechen müssen, aber man hatte ihrem Wunsch stattgegeben. Sie würde nicht mehr leiden müssen.
Es klopfte an der Tür zu ihrem Zimmer und einen Moment später wurde diese aufgeschoben.
"Isabelle? Bereit für unseren Ausflug?", fragte Jasper, ihr zuständiger Pfleger, sie.
Ein leichtes Lächeln zeigte sich auf Isabelles faltigem Gesicht.
"Ja. Noch einmal die See sehen, bevor ich meine letzte Reise antrete.", sagte sie leise und ließ sich von Jasper von ihrem Bett in den Rollstuhl helfen.
Leise unterhielten sie sich, während der blondgelockte Bursche sie durch die Gänge nach draußen zu einem kleinen Transporter schob. Wenig später waren sie auf dem Weg zur Küste.
Isabelle hatte sich gewünscht eine bestimmte Stelle noch einmal zu sehen. Die Klippe, an welcher sie ihren Edward zum ersten Mal geküsst und geliebt hatte. Jasper hatte sich bereit erklärt sie hinzubringen und das tat er auch.
Er parkte den Wagen und schob die alte Dame in ihrem Rollstuhl bis zu dem alten Aussichtspunkt, welcher schon lange als geheimer Datingplatz für die Jugend galt.
Isabelle sah sich mit einem Lächeln auf dem Gesicht um, studierte die wilden, warmen Farben des Indian Summer, welche die Bäume hier oben nicht verschont hatten, atmete tief die salzige Luft ein, welche von der See aus hier hoch geweht wurde. Sie wirkte glücklich auf Jasper.
Ihr Blick war auf den Horizont gerichtet, sie atmete gerade wieder so tief ein, wie sie nur konnte, als sie eine Stimme hörte, welche sie ewig nicht mehr gehört hatte, aber niemals vergessen konnte.
"Es ist Zeit, Liebes. Komm"
Im schimmernden Sonnenlicht stand ihr Edward und streckte ihr seine Hand auffordernd entgegen.
Isabelle streckte ihre Hand nach ihm aus und legte sie in Edwards. Sie atmete aus und das war das letzte Mal.
Als ihre Hände sich miteinander verschränkten, ließ Isabelle ihren Körper zurück und wurde wieder zu der jungen Frau, die einst mit Edward hier oben auf den Klippen getanzt hatte. Lächelnd schlossen sie sich in die Arme. Über Edwards Schulter hinweg blickte Isabelle zu Jasper, der ihren Körper sacht an der Schulter schüttelte, bevor er schmerzlich lächelte.
"Wenigstens musst du nicht mehr warten und leiden, Belle. Ich bin froh, dass ich dich kennen lernen durfte. Gute Reise, wo auch immer sie dich hinführen mag", murmelte er und strich mit der Hand über Isabelles Gesicht, um ihre Augen zu schließen.
Isabelle löste sich von Edward und trat zu Jasper, küsste seine Schläfe.
"Danke, mein Junge. Es war ein Privileg von dir versorgt zu werden. Gib gut auf dich acht", flüsterte sie, bevor sie zu Edward zurück kehrte.
"Jacob wartet schon", teilte dieser ihr mit und mit einem letzten Blick zurück ließ Isabelle ihr sterbliches Leben hinter sich, während Jasper im Hospiz anrief, um zu klären, was er nun zu tun hatte.
Sie starb nicht am Ende des Sommers, wie die Ärzte es ihr versprochen hatten, sondern am Höhepunkt des Indian Summer, aber vielleicht war das auch gut so. Sie hatte ein letztes Mal diese wunderschöne Farbenpracht erleben dürften, bevor sie in den Schoss ihrer Familie zurückkehrte, die sie so lange vermisst hatte. Letztendlich hatte sie bekommen, was sie wollte, auch ohne die Hilfe von Medikamenten.