Geschrieben: 18:00 - 18:10 Uhr
Raureif schmolz unter Kilians nackten Füßen. Sein Atem bildete sichtbare weiße Wolken in der eisigen Morgenluft. Ein Schauer durchfuhr seinen Körper, während er langsam über den alten Waldweg schritt.
Tannennadeln hafteten an seinen Fußsohlen und seine Fingerspitzen strichen über die raue, reifbenetzte Rinde der Bäume, an welchen er vorbeiging.
Seine Gedanken waren weit vom Hier und Jetzt entfernt. Sie blickten in die Vergangenheit. Das letzte Mal, dass er diesen Weg entlang geschritten war, hatte er Alexis im Arm gehalten, ihr Bauch schon wohl gerundet durch den in ihr wachsenden kleinen Jungen. Bei diesem Spaziergang hatten sie beschlossen ihn Nico zu nennen.
Kilian war sich nicht sicher, was ihn dazu getrieben hatte, mitten in der Nacht aufzustehen und im Schlafanzug rauszugehen. Er hatte noch nicht einmal seinen Hausschlüssel mitgenommen.
Aber anscheinend hatte er ein Ziel. Zumindest setzte er einen Fuß vor den anderen, während seine Gedanken sich wieder auf Alexis konzentrierten. Auf die wunderbare Zeit, die er mit ihr an seiner Seite hatte. Er liebte sie nach wie vor, obwohl er sie schon vor so langer Zeit verloren hatte.
Seine Füße schmerzten. Der Raureif und die Kälte sorgten dafür, dass die Haut an seinen Füßen sich rötlich-blau verfärbt hatte und er konnte keinen Schritt mehr weitergehen.
Kraftlos ließ er sich auf die Knie sinken. Ungewollt strömten Tränen über seine Wangen, während er seine Arme auf der Suche nach Wärme um seinen Oberkörper schlang und begann langsam vor und zurück zu wippen.Seine Zähne klapperten aufeinander, so durchgefroren war er. Kilian sehnte sich nach Wärme, wie er sie für Alexis empfunden hatte, aber er hatte keine Kraft mehr.
Nicht um Aufzustehen und weiterzugehen oder auch nur, um einfach weiter zu machen. Er wollte schon seine Augen schließen und einfach aufgeben. Loslassen und hier draußen im Wald erfrieren, als er Schritte näher kommen hörte. Sie trafen rhythmisch auf den Waldboden und ließen den Raureif knirschend zerbersten.
Als sie um die Ecke kamen, stoppten sie unvermittelt.
»Hallo? Kann ich ihnen helfen?«, sprach ihn eine liebliche Stimme an.
Kilian sah die junge Frau an, als wäre sie eine Erscheinung. Er versuchte zu sprechen, bekam aber keinen Ton heraus. Selbst Nicken fiel ihm schwer, aber es hatte wohl ausgereicht, um der jungen Frau klar zu machen, dass er Hilfe brauchte.
Sie zückte ihr Mobiltelefon und setzte einen Notruf ab, bevor sie sich neben ihn kniete und ihn in den Arm nahm. Ein vorsichtiges Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie sich ihm vorstellte: »Ich heiße Marie.«
Kilians Mundwinkel zuckten zu einem kurzen Lächeln hoch und dann gab er nach, ließ sich in ihre Arme sinken und vertraute darauf, dass sie ihm helfen würde.
Wie sehr sie ihm helfen würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber er würde es in naher Zukunft herausfinden.