Geschrieben: 18:00 - 18:20
Adelheid saß an ihrem Schreibtisch. Ihr Rücken gebeugt. Das Haar schlohweiß. Die Hände zitterten unkontrolliert. Ihre Augen milchig vom Katarakt, aber in ihnen wohnte eine scharfe Intelligenz.
Ihre Finger strichen über ein elfenbeinfarbenes Blatt Papier das vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Dann fuhr sie mit den Fingerspitzen die sorgsam geschwungenen Bögen der Worte vor ihren Augen nach. Die Schrift war Adelheid so vertraut wie ihre eigene.
Es war ein Brief aus der alten Zeit. Anders konnte sie ihn nicht beschreiben. Der Umschlag aus dickem Büttenpapier lag geöffnet neben dem Brief an sich.
»Robert«, murmelte sie leise. Ihre Stimme klang brüchig.
Dann lass sie die liebevoll geschriebenen Zeilen.
Meine liebe Adelheid,
Wenn du diese Zeilen hier liest, dann werde ich von dir gegangen sein.
Vermutlich wirst du dich darüber freuen, dass es endlich soweit ist.
Die Demenz nimmt mir mit jedem Tag mehr meiner Erinnerungen.
Der einzige strahlende Punkt an jedem Tag bist du.
Ich hoffe, dass ich mich bis zu meinem letzten Tag an dich erinnern kann.
Weshalb ich dir jetzt schreibe, wo ich es noch kann.
Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich immer lieben werde.
Vielleicht kann ich es dir irgendwann nicht mehr zeigen, aber tief in meinem Inneren, werde ich das immer fühlen.
Ich liebe dich, meine Heidelbeere.
Dein Robert
19.01.2005
Seine Unterschrift am Ende war etwas verwackelt. Das Schreiben hatte ihn sichtlich angestrengt, aber ihr Ehemann hatte ihr eine Liebesbotschaft zukommen lassen, die sie erst nach seinem Tod erhalten hatte.
Ihre Tochter hatte sie gefunden, als sie das Zimmer ihres Vaters im Seniorenheim ausgeräumt hatte.
Einerseits zerriss es Adelheid das Herz und andererseits füllte dieser Brief sie mit Freude. Robert hatte sich trotz seiner schweren Erkrankung noch Sorgen um sie gemacht und ihr versichern wollen, wie sehr er sie liebte.
Tränen rollten ihr über die Wangen und sie nahm ihre Brille ab, legte sie beiseite.
»Mama?«
Lieselotte trat zu Adelheid an den Schreibtisch.
»Es ist alles in Ordnung mein Kind. Der Brief, den du mir gegeben hast ... er ist von deinem Vater und vom Datum her hat er ihn geschrieben, kurz nachdem wir ihn ins Heim gegeben haben. Er wollte mir wohl ein letztes Mal versichern, dass er mich immer lieben wird«, erklärte sie ihrer Tochter.
Lieselotte schlug ihre Hände vor den Mund.
»Oh Gott«, sagte sie und dann liefen auch ihr die Tränen.
Einen Moment später umarmten sich die beiden Frauen und dachten an die Zeit zurück, wo noch alles gut war in ihrem Leben.