Geschrieben: 18:00 - 18:30 Uhr
"Wohin gehörst du?"
Die Frage hallt durch meinen Kopf wie ein Echo durch eine Schlucht in den Bergen. Ich sitze fröstelnd im Schneidersitz unter der alten Eiche, die uns seit unserer Kindheit als Treffpunkt gedient hatte.
Im Gegensatz zu all den Jahren zuvor bin ich allein.
Von dir ist nichts zu sehen. Wahrscheinlich bist du bei deiner Freundin. Oder bei deinen populären neuen Freunden. Seitdem deine Medikation richtig eingestellt ist und du Lacrosse spielen kannst ohne alle zwei Minuten einen Asthmaanfall zu bekommen, gehörst du zu den Kids, die alle mögen, die jeder kennt.
Mich hast du zurückgelassen.
Ohne einen einzigen Blick zurück.
Und jetzt sitze ich hier und frage mich, wohin ich eigentlich gehöre.
Meine Mutter ist tot. Vor zehn Jahren hab ich ihr geholfen ihr Leiden zu beenden. Frontotemporale Demenz hat ihr alles genommen, was sie ausgemacht hat und sie wollte nicht mehr leben. Also hat sie ihren achtjährigen Sohn dazu gebracht, ihr zu helfen.
Ich habe kein schlechtes Gewissen deswegen, auch wenn ich es vermutlich haben sollte. Wenigstens haben dadurch die Schläge und das Schreien daheim aufgehört.
Dafür hielt der Alkohol Einzug in mein Leben und hat mir meinen Vater genommen. Er lebt. Aber nur für seinen Job und den Alkohol.
Ich bin einfach nur eine lästige Nebenerscheinung aus einem anderen Leben. Aus dem davor.
Wenn er wüsste, dass ich Mama geholfen habe, würde er mich vermutlich umbringen.
Ich fahre mir mit einer Hand durch meine brünetten Locken und blicke hinauf in den Himmel.
Der Gedanke zu sterben erschreckt mich nicht.
Im Gegenteil.
Ohne meine Eltern hatte ich nur noch meinen besten Freund und auch der hat mich zurückgelassen wie ein altes, kaputtes Spielzeug. Ganz so, als hätte ich nie eine Bedeutung für ihn gehabt.
Ich habe keine Ahnung, wo ich hingehöre.
Ich habe nichts, was mich noch hier hält.
Hier, in dieser Stadt in der ich aufgewachsen bin. Bei den Menschen, denen ich eigentlich wichtig sein sollte.
Für meinen besten Freund habe ich mich zurückhalten lassen. Ich könnte schon längst mit der Schule fertig und an einer weit entfernten Universität meiner Wahl sein.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und blicke in die Ferne. Mir ist kalt, wie so oft in letzter Zeit. Nicht körperlich, aber emotional. Trotzdem ziehe ich meinen Hoodie enger um mich und hänge meinen Gedanken nach.
Vielleicht ist das die beste Lösung. Mich in die Schule knien, sie so schnell ich kann beenden und einfach abhauen. Versuchen ein neues Leben zu starten, solange ich noch den Willen dazu habe.
Vielleicht finde ich dann einen Ort an den ich gehöre. Finde Menschen, denen ich etwas bedeute.
Meine Gedanken kreisen noch eine Weile über meine Möglichkeiten, bevor ich nach Hause zurückkehre. Wobei es eher das Haus, in dem ich wohne, ist, als ein Zuhause. Mein Zuhause ist mit der Gesundheit meiner Mutter zugrunde gegangen.
*~*~*~* Ein Jahr später *~*~*~*
"David? Wo bist du nur mit deinen Gedanken?"
Noels Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und ich bedecke mit meiner Hand reflexartig die aufgeschlagenen Seiten meines Tagebuchs, das auf meinem Schoss liegt.
Ich atme einige Male ein und aus, um meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, bevor ich ihm antworte: "Letztes Jahr um diese Zeit habe ich überlegt mir das Leben zu nehmen."
So … ich habe es ausgesprochen. Den Fakt, der mich schon eine Weile belastet.
Noel sieht mich ruhig an, auch wenn ich in seinen Augen Sorge erkennen kann.
"Warum?", will er wissen.
"Weil ich nichts mehr hatte, was mich auf dieser Welt gehalten hat … Meine Mutter ist gestorben, als ich acht war … Seitdem war mein Vater mit seinem Job und dem Alkohol verheiratet, aber ich hatte Scott … meinen besten Freund … zumindest dachte ich das … bis er Allison kennen gelernt hat und seine Medikamente gegen sein Asthma umgestellt wurden. Danach war ich mit einem Schlag nicht mehr existent … War nur noch allein. Ich habe mich in der Schule immer zurückgehalten, um mit ihm in einer Klasse zu bleiben. Als ich heute vor einem Jahr an unserem alten Treffpunkt unter der Eiche im Stadtpark saß und auf den See dort rausgeblickt habe, dachte ich, ich sollte es einfach beenden … Aber irgendwas hat mich zurückgehalten."
Ich schlucke, atme noch einmal tief ein, nur um dann weiterzusprechen: "Ich bin froh darüber, dass ich es nicht getan habe, sondern stattdessen die Schule beendet und über Stipendien und den College-Funds, den meine Eltern und Großeltern zusammen für mich angelegt haben, hierher gekommen bin."
"Gehst du deswegen zu dieser Beratungsstelle?", fragt Noel und legt seinen Arm um meine Schultern.
Ich lehne mich gegen seine Seite und schließe meine Augen.
"Hmm … ja. Sie helfen mir, wenn alles zu viel ist, um es allein zu ertragen."
Verstehend nickt Noel.
"Hast du seit du hierhergezogen bist irgendwas von Zuhause gehört?"
"Ich habe kein Zuhause mehr, Noel. Ich bezweifle, dass irgendwer dort überhaupt gemerkt hat, dass ich weg bin. Lydia vielleicht, weil sie nun Klassenbeste ist, aber ansonsten …"
Ich zucke gleichgültig mit den Achseln.
"Du hast ein Zuhause, David", erwidert er und legt meine Hand auf sein Herz. "Genau hier und wann immer du bereit dazu bist, kann aus unserer Freundschaft mehr werden … oder sie bleibt, wie sie ist"
Verblüfft sehe ich ihn an und dann beugt er sich vor und küsst meinen Mundwinkel.
Ich kann nicht verhindern, dass ich lächele. Ich muss einfach.
Meine Fingerspitzen berühren die Stelle, die er gerade noch geküsst hat, und ein warmes Gefühl macht sich in mir breit. Zum ersten Mal seit über einem Jahr ist mir nicht mehr kalt.
Ich glaube, ich weiß langsam, wo ich hingehöre. Ich kann es noch nicht mit fester Stimme und Bestimmtheit sagen, aber ich habe den Eindruck, dass ich angekommen bin.