Prompt: Scharlatan
Warnungen: Tod, Gewalt und ihre Folgen
"SIE SIND EIN BETRÜGER!!! EIN SCHARLATAN!!! SIE SIND SCHULD!!! SIE SIND Schuld, dass meine Helga tot ist"
Die wütenden Schreie von Herrn Schefzik hallen über die gesamte Station. Ich weiß, ich sollte etwas sagen, versuchen ihn zu beruhigen. Das Schlimme ist nur, ich kann es nicht. Ich schaffe es nicht meinen Mund zu öffnen und auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen.
Stattdessen starre ich hinab auf meine Hände. Sie sind blutverschmiert und umklammern den Tourniquet so fest, dass meine Finger unter dem ganzen Blut weiß sind.
Durch meine Entscheidung die Aderpresse abzunehmen, ist Frau Schefzik verblutet, aber ich habe keinen anderen Weg gesehen. Die zerfetzte Arterie war genäht und ich konnte eine längere Unterbrechung des Blutflusses einfach nicht mehr rechtfertigen. Sonst hätten wir ihr Bein amputieren müssen.
Niemand konnte ahnen, dass die Ader wenige Zentimeter unterhalb der genähten Stelle reißen und die arme Frau einen solch heftigen Blutsturz erleiden würde, dass sie daran verstarb.
Trotzdem war da diese kleine Stimme in meinem Inneren, die versuchte mich vom Gegenteil zu überzeugen. Die mir sagte, dass ich Schuld am Tod dieser Frau war, weil ich meinen Job nicht ordentlich gemacht hatte. Weil ich dank der mittlerweile mehr als 36 Stunden andauernden Schicht nicht mehr klar denken konnte. Weil ich weder genug gegessen, noch getrunken, geschweige denn geschlafen hatte, während dieser Zeit.
Und ich gab dieser Stimme Recht. Das waren Tatsachen. Wenn ich nur ein wenig aufmerksamer gewesen wäre, wäre mir der Zustand der Arterie vielleicht aufgefallen und ich hätte den Tourniquet erst abgenommen, nachdem ich auch diese Beschädigung repariert hatte.
Herr Schefzik schrie weiter, schubste mich und schlug auf mich ein, aber ich hatte nicht die Kraft mich zu wehren. Ich fiel zu Boden und schloss die Augen. Ich war so müde und wollte einfach nicht mehr. Die Schläge, Beschimpfungen und Tritte hielten einen Moment an, bevor zwei der anwesenden Anästhesiepfleger eingriffen und ihn von mir wegzerrten.
Eine der Schwestern kniete neben mir und sprach mich an.
Widerwillig öffnete ich die Augen, blinzelte und kniff dann das rechte wieder zu, weil mir Blut hineinlief.
"Na kommen sie, Doktor … wir flicken sie wieder zusammen, dokumentieren das hier und dann gehen sie heim. Schwester Maria hat schon den Oberarzt angerufen und der hat das so angeordnet", instruierte Schwester Marita mich.
Ich folgte dem sanften Zug ihrer Hand und stand auf, schwankte und ließ mich direkt wieder an der Wand entlang zu Boden sinken. Mein Körper registrierte endlich, wie erschöpft er war und wo er überall schmerzte.
"Ich kann nicht mehr", murmelte ich leise und ließ meinen Kopf nach hinten fallen. Der dumpfe Aufprall meines Schädels an der Wand ließ einen weiteren pochenden Schmerz entstehen, den ich zu ignorieren versuchte.
Schwester Marita versuchte abermals mich zum Aufstehen zu bewegen, aber ich ignorierte ihre Bemühungen.
Wenige Minuten später knieten der Oberarzt und Martin, mein Kollege neben mir.
"Peter, komm, mach die Augen auf. Wir müssen dich durchchecken", sagte Martin drängend.
Ich schüttelte langsam den Kopf, merkte, wie Übelkeit in mir hochstieg. Ich würgte und war Sekunden später im Besitz einer Nierenschale, in die ich pure Galle spuckte. Mein Magen war also vollkommen leer.
"Herzlichen Glückwunsch, eine Gehirnerschütterung hast du also auf jeden Fall von der Auseinandersetzung mit Herrn Schefzik davon getragen", diagnostizierte Martin.
Gemeinsam mit Schwester Marita zog er mich auf die Beine und einen Moment später fand ich mich in einem unserer Schockräume wieder. Jetzt erlebte ich das Schauspiel zum ersten Mal von der anderen Seite und war wenig begeistert davon, dass meine Kollegen mich so am Ende sahen.
Als mir jemand den Tourniquet abnehmen und meine Hände säubern wollte, wehrte ich mich so sehr dagegen, dass mir unser Oberarzt schließlich eine Beruhigungsspritze gab, obwohl die bei einem Schädel-Hirn-Trauma eigentlich kontraindiziert war. Er sah allerdings die Notwendigkeit und so kam es, dass ich am nächsten Morgen statt in meinem Bett auf unserer Intermediate Care Station aufwachte.
Mein Schädel brummte und die Übelkeit war sofort wieder da, als ich versuchte mich aufzusetzen. Ob die allerdings von der Gehirnerschütterung kam oder dem Schmerz, der von meinen Rippen und meinem Handgelenk ausging, verursacht wurde, konnte ich nicht beurteilen. Ich blinzelte, atmete langsam ein und aus, um die Übelkeit und den Schmerz beiseite zu schieben, bevor ich mich umsah.
"Wie fühlst du dich, Peter?", fragte Martin, als er leise die Tür zu meinem Zimmer hinter sich schloss. Anscheinend hatten die Monitore einen stillen Alarm im Schwesternzimmer ausgelöst und er hatte sich als erster hierher begeben.
Ich verzog mein Gesicht ein wenig und es ziepte an meinem rechten Auge. "Hast du das Kennzeichen von dem LKW, der mich überfahren hat?", erwiderte ich.
Martin lachte trocken auf. "Immer zu Scherzen aufgelegt", stellte er amüsiert fest, wurde dann aber ernst. "Du wirst hier erstmal ne ganze Zeit lang ausfallen, Peter. Herr Schefzik hat dich ordentlich zugerichtet. Er hat dir drei Rippen gebrochen, dein Handgelenk ist durch. Du stehst für Morgen auf dem OP-Plan. Mittelschwere Gehirnerschütterung und mehr Prellungen, als gut für dich sind, stehen auch noch auf dem Plan. Warum hast du dich denn nicht gewehrt?"
Ich lauschte aufmerksam seinen Worten und nahm sie in mich auf. Einen Moment lang zögerte ich, bevor ich antwortete: "Ich war mir nicht sicher, ob er nicht Recht hat. Ich bin ein Scharlatan, Martin. Ich hab die Entscheidung gefällt den Tourniquet abzunehmen und Frau Schefzik ist mir unter den Händen weggestorben. Ich hab das hier verdient. Wegen mir ist sie tot."
Mitleidig sah Martin mich an und schüttelte dann den Kopf. "Selbst wenn du schuld daran wärst, hättest du es nicht verdient zusammengeschlagen zu werden. Aber ich kann dir mit Sicherheit sagen, dass du nicht an ihrem Tod schuld bist. Ja, sie hat massiv aus dem Bein nachgeblutet, aber das war laut dem Pathologen nicht die Todesursache. Genaueres wird dir Oberarzt Möntgen später mitteilen, aber du sollst wissen, dass es nicht deine Schuld war", sagte er mit fester Stimme.
"Nicht?", fragte ich leise und selbst für mich klang meine Stimme, wie die eines kleinen Kindes.
Martin nickte bestätigend. "Du bist nicht schuld, Peter. Du bist kein Scharlatan."
Ich biss mir auf die Unterlippe und ließ mich zurück in die Kissen sinken.
"Übrigens hat der Oberarzt auch eingesehen, dass die doppelten Doppelschichten eventuell doch keine so gute Idee sind. Er sitzt gerade beim Klinikdirektor und versucht uns Verstärkung zu organisieren", sagte Martin und klopfte mir auf die Schulter.
Ich murrte leise. "Willst du mich nicht durchchecken?", fragte ich ihn.
Hätte ich mal lieber nicht gefragt. Die Bösartigkeit, die sich Stiftlampe nennt, war sofort in seinen Händen und er kontrollierte meine Pupillen, bevor er das Pflaster an meiner Schläfe lüpfte, den Verband, der meine Rippen hielt überprüfte und sich den Sitz der Gipsschiene besah.
Während der ganzen Prozedur sah ich Sterne und verbiss mir mit Mühe meine Schmerzenslaute. Martin grinste amüsiert und zog eine Spritze aus seiner Kitteltasche.
"Sag "Gute Nacht", Peter", meinte er noch und injizierte den Inhalt bevor ich fragen konnte, was er da gutes für mich hatte, in meinen Zugang.
Der Schmerz wurde weggeschwemmt und mein Bewusstsein verabschiedete sich auch langsam.
"Du Sack", murmelte ich.
Martin drückte mit einen Schmatzer gegen die Schläfe. "Aber deiner. Träum süß", flüsterte er und dann versank die Welt um mich herum in Dunkelheit.