Geschrieben: 18:05 - 18:25 Uhr
Müde räkelte Marie sich in den Laken. Sie war erst spät ins Bett gekommen und trotzdem ging der Wecker wieder um halb sechs in der Früh. Ihre Hand tastete nach dem fröhlich piepsenden Ding und schaltete es ab.
Langsam setzte sie sich auf, streckte sich, um ein wenig Leben in ihre müden Glieder zu bringen, bevor sie aufstand.
Nur mit einem Shorty und einem Spaghettiträger-Topp bekleidet schlurfte sie durch die stockdustere Wohnung ins Bad. Nach einem kurzen Toilettengang wusch sie sich die Hände. Noch im Dunkeln packte sie Zahnpasta auf ihre Zahnbürste, legte mit der morgendlichen Zahnpflege los und schaltete geistig noch weitestgehend abwesend das Licht über dem Spiegel ein.
Helles Licht flutete das Bad. Marie blinzelte gegen die Helligkeit an, blickte dann hoch in den Spiegel und stieß einen spitzen Schrei aus. Ihr Herz raste in ihrem Brustkorb und sie brauchte einen Moment, um sich wieder zu beruhigen.
Ihre Hand streckte sich aus, berührte zunächst ihr Spiegelbild, bevor sie sich an den Kopf griff.
»Ich seh aus wie eine Vogelscheuche«, murmelte sie um ihre Zahnbürste herum und schrubbte weiter. Dann beugte sie sich vor, spuckte aus und studierte ihr Spiegelbild einen Moment lang ausgiebig. Ihr Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab. Die Strähnen wirkten teils strohig, teils fettig und auch ihr Hautbild war katastrophal.
»Egal ob ich zu spät komm oder nicht ... ich muss unter die Dusche«, murmelte sie zu sich selbst. Zunächst marschierte sie jedoch zurück ins Schlafzimmer, schnappte sich ihr Handy und machte ein Selfie, um ihr Vogelscheuchenhaar für die Ewigkeit festzuhalten.
Dann stapfte sie zurück ins Bad und sprang unter die Dusche. Ihr Haar wurde mit Shampoo, Spülung und Conditioner verwöhnt, bevor sie sich daran machte ihrer Haut noch etwas Gutes zu tun.
Während sie frühstückte, trug sie noch eine Pflegemaske auf. Nachdem Bagel und Kaffee verdrückt waren, ging sie zurück ins Bad und legte ihre Kriegsbemalung, wie ihr Neffe Nikita ihr Make-Up nannte, an.
Eine dreiviertel Stunde zu spät schlug sie schließlich auf der Arbeit auf. Sie marschierte direkt zu ihrer Chefin durch und entschuldigte sich für die Verspätung und hielt dieser dann gleich das Selfie vom Morgen entgegen.
»Sorry ... so bin ich aufgewacht. Da wir heute das Meeting mit den Typen aus Shanghai haben, konnte ich schlecht als Vogelscheuche hier auflaufen«, sagte sie.
Martina, ihre Chefin lachte. »Okay ... ja ... da wäre ich auch lieber zu spät gekommen. Aber lass das nicht zur Gewohnheit werden«, mahnte sie dann doch.
»Habe ich nicht vor. Nur dank der Konferenzschaltung mit Peking und Nagoya gestern Abend war meine Nacht etwas zu kurz. Das hat alles länger gedauert als gedacht, weil die Herren der Schöpfung sich nicht einig wurden. Ich musste ihnen sagen, dass es hier bei uns bereits 2 Uhr in der Früh ist und sie sich entweder entscheiden konnten oder wir die Entscheidung vertagen. Und plötzlich wurde es was, weil alles andere ja unhöflich wäre«, sprach sie noch kurz von ihrem Abend.
»Zwei Uhr in der Früh? Ich dachte, die Konferenzschaltung war für 22 Uhr angesetzt und sollte eine Stunde dauern«, sagte Martina.
Marie nickte.
»Sollte es ... aber die Herren haben diskutiert und wollten dann auch noch frühstücken, weil es doch noch so früh ist und ja ... 5:00 Uhr in Asien ist 22:00 Uhr bei uns, nur das hat denen irgendwie keiner gesagt, glaub ich.«
»So war das nicht geplant. Kein Wunder, dass du nach drei Stunden Schlaf so aussahst. Wer hat den Termin gemacht?«, hakte Martina nach.
»Herr Reichenbach soweit ich weiß. Ich habe nur eine E-Mail bekommen, dass ich an der Konferenz teilnehmen soll«, erwiderte Marie.
»Gut. Dann werde ich Herrn Reichenbach über seine unzureichende Planung in Kenntnis setzen und du machst heute bitte nur die halbe Schicht. Hast ja ein bisschen Schlaf nachzuholen. Wir sehen uns dann Morgen in gewohnter Frische wieder«, sagte die Chefin und griff nach ihrem Telefon.
Marie nickte und trollte sich an ihren Platz. Lediglich einen Umweg zur Kaffeemaschine gestattete sie sich noch, um sich mit dem schwarzen Gold den Rest des Vormittags wachzuhalten.