08.10.48 v. Chr. nach dem vorjulianischen Kalender
(04.08.48 v. Chr. nach dem julianischen Kalender)
In dieser Nacht liege ich lange wach und betrachte Caesars schlafendes Gesicht. Bis zu welchem Punkt kann und darf ich ihm vertrauen? In den letzten Tagen hat er mich regelrecht auf Händen getragen, aber ist das zwischen uns auch für ihn etwas Besonderes? Und wird das so bleiben? Er hat so viel mehr Erfahrung und mir fehlt schlicht und einfach der Vergleich. Solange es nur um mich geht, habe ich keine Bedenken, aber hier geht es um mein Land. Hier geht es um Ägypten. Und jeder Herrscher hat und hütet Geheimnisse. Trotz all dieser Gefühle und Übereinstimmungen zwischen uns darf ich nie vergessen, wer er ist: Der Herrscher Roms, mein Patron und ein brillanter Stratege, der genau weiß, wie er bei Menschen Emotionen und Reaktionen erzeugen kann. Wir sind beide Spieler und nicht nur Spielfiguren, hat er gesagt. Aber was passiert, wenn ich gegen seine Regeln spiele oder einen Zug mache, der ihm missfällt? Würde er mich ermahnen, bestrafen oder gar fallenlassen? Als hätte er meine Zweifel gespürt, dreht er sich plötzlich im Schlaf und zieht mich wieder in seine Arme. Seine Hand legt sich fest und beruhigend um meine Taille, ohne dass er dabei aufwacht. Seine Nähe ist so tröstlich. Egal was morgen ist, jetzt in diesem Moment ist er für mich da, selbst während er schläft. Ich schließe die Augen und lasse mich von seinem vertrauten Geruch und seiner Körperwärme umfangen. Mein Kopf ruht wie selbstverständlich auf seiner Schulter – als würde er genau dort hingehören. Meine Gedanken verstummen in seiner Umarmung und sein friedlicher Atem hüllt mich schließlich ein und lässt mich träumen.
Als ich am Morgen erwache, ist Caesar bereits aufgebrochen. Aber neben mir entdecke ich eine kurze Nachricht, in der er mir mitteilt, dass unser heutiger Besuch in der Bibliothek für die vierte Stunde geplant ist. Er hat bereits alles veranlasst.
~*~
Als Charmion, Khered-Anch und ich uns an diesem Morgen in die Augen schauen, bin ich sicher, dass keine von uns letzte Nacht wirklich viel geschlafen hat. Charmion hat die anderen Mädchen heute morgen damit beauftragt, neue Stoffe und Gewänder aus der Schneiderei abzuholen, so dass wir den Baderaum und das Ankleidezimmer ganz für uns allein haben.
„Was habt ihr entdeckt?“, komme ich sofort zur Sache.
Charmion greift an ihren Gürtel, um den Deckel des silbernen Röhrchens aufzuschrauben. Sie fördert ein winziges Papyrusblatt daraus zum Vorschein, das sie vorsichtig entrollt. Es ist mit Charmions feinen sauberen Notizen beschriftet. „Ich habe lieber alles notiert, damit ich nichts vergesse“, entschuldigt sie sich und beginnt dann, mir den Inhalt vorzulesen: „Also zunächst natürlich Homer. Dann gibt es Schriftrollen mit Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides, Komödien von Aristophanes, Menander, Plautus und Terenz, Abschriften philosophischer Texte von Platon und Aristoteles, Erzählungen über Nektanebos, Alexander den Großen und Ptolemaios Soter, Manethos Königsliste, Erzählungen und Gedichte von Pindar, Kallimachos, Alkaios, Sappho, Erinna, Theokritos und Poseidippos. Dazu kommen noch ein Buch von Herophilos über Geburtshilfe und verschiedene wissenschaftliche Schriften von Eratosthenes, Archimedes, Konon, Dositheos, Aristarchos und Euklid. Außerdem gibt es weitere Texte nicht so bekannter Autoren, Listen mit Namen, Briefe, eine Art Tagebuch und Notizen. Und dann sind da noch einige demotische Texte, die ich nicht lesen konnte. Was war das gleich, Khered-Anch?“
„Mythen über die ferne Göttin, die Geschichten über Setne Chaemwese und Merire, die Klagen der Isis und einige Weisheitslehren und Gedichte“, ergänzt die junge Priesterin.
„Also eine richtige kleine Bibliothek mit kostbaren Abschriften, aber kein Testament?“, fasse ich das Gehörte zusammen.
„Ja, Majestät“, erwidert Khered-Anch erleichtert.
„Und ihr seid wirklich alle Schriftrollen durchgegangen?“, hake ich nach.
„Ja, wir haben jede Buchrolle geöffnet und den Anfang gelesen. Und wir haben sie aufgerollt, um sicher zu sein, dass kein anderes Dokument darin verborgen ist.“, versichert Charmion.
„Das ist sehr gut. Ich danke euch. Was sind das für Tagebücher?“
„Notizen und Gedanken der Königin Kleopatra Berenike. Ich…ähm habe sie nur überflogen, weil der Inhalt sicherlich nur für deine Augen bestimmt ist, aber zumindest enthielten sie kein Testament.“
„Gut, ich schaue mir das selbst am Besten nochmal an“, beschließe ich und atme erleichtert durch. Vielleicht habe ich mir völlig unnötig Sorgen gemacht.
~*~
In Begleitung der beiden mache ich mich schließlich auf den Weg zu Seleukos. Bis zum Besuch in der Bibliothek ist noch genügend Zeit, mich um die dringlichsten Angelegenheiten zu kümmern. Sosigenes ist bereits informiert, aber ich muss noch einen Brief an Psenamounis verfassen und ihn für heute nachmittag zu mir bestellen, wenn möglich zusammen mit den Vertretern der übrigen Priesterschaft. Danach bleibt hoffentlich noch genügend Zeit, mich für Arsinoes Symposion umzuziehen. Während ich in Gedanken noch den Tagesablauf durchgehe, wäre ich fast in Ammonius hineingelaufen, der schnellen Schrittes um die Ecke gebogen kommt und sich gerade noch erschrocken vor mir zu Boden werfen kann.
„Verzeiht, Majestät“, stammelt er unglücklich und macht Anstalten den Boden vor mir zu küssen.
„Schon gut, schon gut“, beschwichtige ich ihn. „Steh auf und dann berichte, was es so Dringendes zu erledigen gibt, dass du hier ohne nach vorne zu schauen durch die Flure rennst!“ Ich blicke ihn erhaben, aber nicht unfreundlich an, was Charmion zu einem amüsierten Schmunzeln veranlasst. Sie kennt die Furcht der Höflinge, gegen das Protokoll zu verstoßen, aber auch meinen sarkastischen Ton. Schließlich bin ich die Einzige, die darübersteht – von Caesar und meinen Geschwistern einmal abgesehen.
„Majestät, ich bin untröstlich.“ Mein Schreiber sieht mich unglücklich an. Dann beginnt er zu berichten und seine Worte sprudeln plötzlich einfach ungehemmt aus ihm heraus.
Ich lausche seinem Gestammel und atme dann dreimal tief durch. Um mich zu beruhigen, greife ich mir den kleinen Straußenwedelfächer, den Charmion in der Hand hält und fächele mir selbst etwas Luft zu. „Lass es mich nochmal zusammenfassen, um sicher zu sein, dass ich es richtig verstanden habe: Der Dioiketes hat in seinem Schreiben gestern kundgetan, dass sein Büro sich aus organisatorischen Gründen doch erst ab der nächsten Dekade mit den Getreidelieferungen an Caesars Legionen befassen kann. Der Eilbrief, den Seleukos deshalb gestern zur Mittagsstunde an den Strategen der königlichen Speicher geschickt hat, war laut Auskunft des dortigen Schreibers angeblich nicht angekommen. Auf Seleukos Nachfrage hat derselbe Schreiber heute morgen mitgeteilt, dass der Brief doch aufgetaucht sei, aber versehentlich als private Post für den Strategen beiseite gelegt worden sei, der die ganze Woche über verreist ist. Jetzt hat der Schreiber die Anweisung zwar vorliegen, kann den Auftrag aber nicht ausführen, weil mein Siegel auf dem Brief nicht das neue offizielle Siegel des Palastes ist. Er beruft sich darauf, dass alle Beamten vom Dioiketes die Order erhalten haben, nur mit dem neuen Siegel versehene Befehle zu berücksichtigen. Aber diese neuen Siegel sind heute immer noch nicht eingetroffen, weil der königliche Goldschmiedemeister den Auftrag nicht ausführen konnte. Und das wiederum konnte er nicht, weil Potheinos alle Goldvorräte als Bezahlung für Caesar hat beschlagnahmen lassen. Habe ich noch irgendetwas vergessen?“
„Nein, so ist es, Majestät“, bekräftigt der Schreiber unglücklich und senkt den Kopf vorsichthalber noch tiefer, sodass ich nur noch seinen krausen Haarschopf vor mir sehe.
„Jetzt reicht es!“, murmele ich vor mich hin. Ich wechsele einen entnervten Blick mit Charmion, die stillschweigend ihren Fächer zurücknimmt und klatsche dann resolut in die Hände. Die beiden Wachen, die bisher mit unbewegten Gesichtern dagestanden haben, sehen mich überrascht an, als ich sie mit hoheitsvoller Geste zu mir winke. Ich wechsele ins Lateinische, als ich sie direkt anspreche: „Caesar hat mich mit der Zuteilung des Getreides für seine Legionen betraut. Der königliche Minister Potheinos sabotiert das seit Tagen. Er hat sich sofort und ohne Verzögerung in meinem Büro einzufinden! Sollte er nicht geneigt sein, freiwillig mitzukommen, dürft ihr Gewalt anwenden!“
Die römischen Wachen salutieren stumm und machen sich auf den Weg. Befriedigt schaue ich ihnen nach. Natürlich werden sie zunächst ihrem Centurio Bericht erstatten, oder einem von Caesars Stabsoffizieren, aber diese werden meinen Befehl bestätigen. Die Erwähnung von ägyptischem Getreide wirkt bei Römern immer wie ein Zauberwort. Jetzt werden wir doch mal sehen, wer hier die Regierungsgeschäfte führt und was passiert, wenn man meine Arbeit sabotiert! In Gedanken lasse ich Potheinos das verdorbene Getreide, dass er an die römischen Soldaten liefert, selbst essen, bis es ihm zu den Ohren wieder herauskommt.