„Auch dir [Artemis] haben die kriegerischen Amazonen in Ephesos am Meer ein Bildnis unter einem Eichenstamm errichtet, und Hippo [=Otrere] vollzog für dich einen heiligen Ritus, und sie selbst, O Opis Königin, tanzten um das Bildnis herum einen Kriegstanz - zuerst in Schilden und Rüstungen, und dann im Kreis mit einem großen Chor. (…) Und sie schlugen laut mit den Füßen und rasselten mit ihren Köchern. Und danach wurde um das Bild herum ein Heiligtum von breitem Fundament errichtet [= das Heiligtum der Artemis von Ephesos]. Nichts Göttlicheres, nichts Reicheres soll es geben. Mit Leichtigkeit würde es Pytho [= Delphi] übertreffen."
Kallimachos, Hymne an Artemis (3. Jh. v. Chr.)[1]
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Noch während die ersten zarten Töne der Lyren durch den Saal klingen, werden die Tore geöffnet und eine Formation von Tänzerinnen strömt hindurch, um sofort einen Kreis um uns herum zu bilden. Alle sind wie archaisch anmutende Kriegerinnen gekleidet, an den Beinen tragen sie mit Leder gefütterte Eisenschienen und Rüstungen aus silbernen Schuppen. Einige halten runde Rahmentrommeln in den Händen, die wie Schilde bemalt sind und mit denen sie einen dumpfen Rhythmus erzeugen. Andere tragen Zimbeln und Tanzschwerter, die sie klirrend gegeneinander schlagen, während sie sich in einem stampfendem Rhythmus um uns herum bewegen und dabei langsame Drehungen um sich selbst vollführen.
„Was genau ist das hier für ein Tanz?“, frage ich irritiert.
„Das Motto des heutigen Abends sind die kriegerischen Königinnen.“ Ein herausforderndes Lächeln liegt auf Arsinoes Gesicht und ein wildes Feuer spiegelt sich in ihren Augen, als ihr Blick über die Tänzerinnen gleitet. „Also ehren wir Artemis-Astateia, die Große Göttin der Amazonen mit einer Pyrrhiche[2], einem Waffentanz. Die Kostüme habe ich selbst entworfen, passend oder? Aber keine Angst, die Schwerter sind nicht scharf – reine Dekoration.“ Arsinoe zwinkert mir zu und greift nach einem Krummschwert – einem ägyptischen Chepesch – das eine der Frauen ihr reicht. Eine weitere Tänzerin sinkt vor mir auf die Knie und hält mir ein zweites Tanzschwert auf ihren ausgestreckten Handflächen entgegen. Die Klinge ist abgerundet, doch ich bin mir sicher, dass eine falsche Bewegung dennoch schmerzhafte Folgen haben kann.
„So etwas haben wir kaum geübt. Und wenn, dann mit Stäben!“, erwidere ich leise, während ich das Chepesch vorsichtig ergreife. Es ist schwerer als erwartet.
„Das ist auch nichts anderes als mit Stäben. Berenike hat mir die Waffentänze gezeigt. Während du mit Vater in Rom warst!“, antwortet meine Schwester leichthin, doch ich höre den anklagenden Unterton in ihrer Stimme. Ein kalter Schauder läuft mir über den Rücken und ich lasse Arsinoe nicht aus den Augen, während ich die Muskeln anspanne und ihre Schwerthaltung intuitiv imitiere.
„Einen Moment, Prinzessin. Darf ich mal sehen? Als Römer interessiere ich mich für jede Art von Schwertern.“ Sextus ist wie selbstverständlich in den inneren Kreis zwischen uns getreten und streckt mit ruhiger Autorität die Hand nach Arsinoes Waffe aus. Das charmante Lächeln auf seinem Gesicht erreicht diesmal nicht seine Augen.
„Aber natürlich, Tribun“, erwidert Arsinoe mit honigsüßer Stimme und überreicht ihm demonstrativ ihr Tanzschwert. Während Sextus die Waffe begutachtet, huschen meine Augen zu Caesars Kline. Äußerlich wirkt er gelassen, aber bei seinem durchdringenden Blick wird mir sofort klar, dass er diese Überprüfung befohlen hat. Dieser Tanz war nicht zuvor abgesprochen.
„Warum ein ägyptisches Schwert? Ich dachte die Amazonen benutzten Doppeläxte!“, bemerkt Sextus amüsiert, bevor er das Chepesch mit dem Griff voran an Arsinoe zurückreicht.
„Wir sind hier nun einmal in Ägypten“, erwidert sie hochmütig. „Mit dieser Art von Schwertern haben die Pharaonen früher die Feinde Ägyptens erschlagen. Die Feinde aus dem Süden genauso wie die Feinde aus dem Norden.“
„Tu mir den Gefallen und erschlag damit heute niemanden, Prinzessin!“, sagt er leise, bevor er sich von ihr abwendet. Mit einem höflichen „Majestät“ neigt er kurz den Kopf vor mir und begibt sich dann zu Rufio in den äußeren Kreis, dessen Männer inzwischen auch die Waffen der Tänzerinnen begutachtet haben. Beide Offiziere tauschen einen amüsierten Blick und kehren dann zu den Klinen zurück, während nun im Hintergrund noch weitere Instrumente in die Melodie der Lyren mit einstimmen. Der Reigen um uns herum beginnt sich erneut zu formieren. Meine Schwester funkelt mich mit kaum verhohlener Wut an.
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[1] Kallimachos, Hymne 3, Englische Übersetzung: Callimachus, Hymns and Epigrams. Lycophron. Aratus. Translated by Mair, A. W. & G. R. Loeb Classical Library Volume 129. London: William Heinemann, 1921, S. 240ff., https://www.theoi.com/Text/CallimachusHymns1.html#3, https://www.theoi.com/Heroine/AmazonOtrera.html
[2] Die Pyrrhiche war ein antiker Waffentanz, der auch als Vorbereitung für Krieger auf den Umgang mit Waffen diente, da er ähnliche Bewegungsabläufe enthielt. Waffentänze zählten nach Platon zu den Emmeleia, den wohlangemessenen Tänzen, die im Gegensatz zu den wilden bacchantischen Tänzen standen. Die Pyrrhiche war Teil der Panathenäischen Spiele sowie der Erziehung und des Rituals. Ein bekanntes mythologisches Motiv ist die Pyrrhiche der Amazonen in Ephesos. Stella Douka/Yannis Mouratidis, Herkunft und Charakter des Tanzes Pyrrhiche, Musik-, Tanz- und Kunsttherapie11, 2000, 11, S. 90-94. https://econtent.hogrefe.com/doi/10.1026//0933-6885.11.2.90