Nachdem Ganymedes die letzten Gäste begrüßt hat, tritt er in die Mitte des Saales. Er schaut kurz zu Ptolemaios und auf dessen Nicken hin beginnt er mit einer offiziellen Ansprache, um die Ehren- und Festgäste noch einmal im Namen der Prinzessin zu begrüßen und das Thema des Abends festzulegen. „…Das heutige Symposion ist den ehrwürdigen Ahninnen der großen Dynastie der Ptolemäer geweiht – den vergöttlichen heiligen Königinnen – und ihren Vorfahrinnen, den legendären Königinnen der Amazonen…“
„Ist das wieder eine der eigenwilligen Geschichtsinterpretation deiner Schwester?“, fragt Caesar leise.
„Du kennst sie inzwischen ganz gut. Ich bin gespannt, was sie sich heute wieder ausgedacht hat“, bemerke ich augenzwinkernd. Ganymedes fährt indes mit seinem Lobgesang auf die Königinnen unserer Dynastie fort, bevor er schließlich verstummt. Untermalt von einer dramatischen Geste bedeutet er den Dienern, die Lampen bis auf wenige zu löschen. Caesars Wachen und Liktoren werfen sich an den Wänden unruhige Blicke zu, erstarren jedoch bei Caesars gelassenem Blick wieder in ihrer bewegungslosen Routine.
„Läuft ein Symposion hier in Alexandria immer so ab?“, höre ich Khered-Anchs geflüsterte Frage, die auf einem Stuhl neben meiner Kline Platz genommen hat.
„Nein“, flüstert Charmion zurück, „aber Prinzessin Arsinoes Symposien sind…speziell.“
In diesem Moment betreten 12 weiß gekleidete Hofdamen den Raum. Sie halten Fackeln in den Händen und flankieren eine Reihe muskulöser junger Männer mit freien Oberkörpern, die mit Hilfe von Tauen ein riesiges Podest durch die gewaltigen Eingangsportale des Saales ziehen. Darauf befindet sich ein etwa mannsgroßer Tempel in griechischem Stil, der von Bäumen und Sträuchern eingerahmt wird. Im Halbdunkel des Raumes sind alle Augen auf die Inszenierung gerichtet und für einen Moment hört man nur den Gleichtakt der Ziehenden und das Knarzen der schweren Rollen, mit denen die Installation bewegt wird. Dann kommt das Podest kurz vor dem Bodenmosaik in der Mitte des Saales zum Stillstand.
Während der nun einsetzenden erwartungsvollen Stille tritt ein einzelner weißhaariger Mann in die Mitte. Es ist ein bekannter alexandrinischer Aretaloge, ein Geschichtenerzähler, der die Mythen meisterhaft wiedergeben kann. Alles wartet gespannt.
Als der Aretaloge beginnt, beschwört er mit seinen Worten längst vergangene Welten wieder zum Leben. „…Lasst uns nun zurückgehen, in die Zeiten, als Bacchantinnen Dionysos in den Wäldern durch archaische Opfer und wilde Jagden verehrten. Als Mänaden in ungezähmter Kriegslust durch die Wälder tanzten...“ Und weiter erzählt er vom wilden Gefolge des Dionysos, den Jagden der Artemis und dem Gesang des Orpheus, der selbst die Tiere des Waldes, das Meer und die Unterwelt besänftigten konnte. Die Fackeln erzeugen tanzende Schatten und beschwören die Worte auf unheimliche Weise zum Leben. Ein Raunen geht durch den Saal, als die Bäume und Sträucher rund um den Tempel plötzlich zum Leben erwachen und sich als, am ganzen Körper bemalte, Menschen herausstellen. Biegsame Leiber junger Männer und Frauen, die das Gefolge der Artemis und des Dionysos darstellen und nun vom Podest in die Mitte des Saales strömen, wo sie einen Kreis um den Geschichtenerzähler bilden. In virtuosen Abfolgen lösen und verbinden sie sich miteinander, schlagen Räder und zaubern Figuren – Equilibristen, Schlangenmenschen, die ihre Körper meisterhaft beherrschen und unglaubliche Verrenkungen damit vollführen können. Dazu ertönen die Klänge von Lyren und der Gesang eines Chores.
„Glückselig der Mensch, der sich dem Tanz hingibt und so in göttlicher Begeisterung sein Gemüt von jedem Leiden befreit; die ganze Erde tanzt dann mit . . .“[3]
Und für einen Moment scheint diese mythische Vergangenheit mitten unter uns wirklich und real zu sein.
Der Aretaloge beginnt nun von der sagenhaften Amazonenkönigin Myrina zu erzählen, die zur Zeit des Gottes Horus lebte und berichtet dann in den poetischen Versen der Aithiopis[4] von den drei Töchtern des Gottes Ares mit der Amazonenkönigin Otrere: Hippolythe, deren Gürtel von Herakles geraubt wurde, Antiope, die den Helden Theseus heiratete und Penthesilea, die im trojanischen Krieg gegen Achillas kämpfte. Mit dramatischen Worten und Gesten schildert er die Tapferkeit der Penthesilea, die den Tod ihrer Schwester Hippolyte nicht ertragen konnte und ihr Schicksal in der Schlacht suchte.
Alles was er sagt, wird vom Tanz der Equilibristen auf seltsam stimmige Weise aufgegriffen und untermalt. Als der Aretaloge schließlich mit seiner Erzählung endet, erstarren auch die Tänzer und Tänzerinnen nach und nach in ihren Bewegungen, bevor sie sich unter tiefen Verbeugungen aus dem Raum zurückziehen. Eine gewaltige Feuerschale wird nun vor dem Tempel entzündet. Zwei der weißgekleideten Hofdamen begeben sich an die beiden Tore des Tempels und öffnen sie langsam nach beiden Seiten. Inmitten des erleuchteten Heiligtums steht meine Schwester vor einer weißen Alabasterstatue der Göttin Artemis. Die silbernen Applikationen, mit denen Arsinoes weißer Chiton bedeckt ist, reflektieren den Feuerschein und lassen sie wie die blitzende Rüstung einer archaischen Kriegerin erscheinen.
Erneut geht ein bewunderndes Raunen durch den Saal.
Ich blinzele: vor uns steht eine Amazonenkönigin, oder eine Hohepriesterin der Artemis, deren Halbmond sie als Stirnschmuck in ihren schwarzen Locken trägt. Langsam tritt die silberne Prinzessin aus dem Tempel bis vor das Feuerbecken, während ihr zahmer Gepard um ihre Beine streicht – das muss sie mit Mithras geübt haben! Arsinoe hebt die Arme zum rituellen Gebet und beginnt mit klarer Stimme eine Hymne an die Göttin zu rezitieren, während ihre Hofdamen Weihrauch und Myrrhe in das Kohlebecken streuen. Eine duftende Wolke verbreitet sich im Raum und alle lauschen gebannt ihren Worten. Eines muss man Arsinoe lassen, sie weiß zu inszenieren. Das hier hat nichts mit den traditionellen rituellen Opferhandlungen zu tun und auch nichts mit dem klassischen griechischen Theater und seinen Masken. Und dennoch hat die Inszenierung eine unwirkliche Sogwirkung, die fast prophetisch wirkt.
„Nachdem der Artemis nun ein Opfer gebracht wurde“, wendet sich Arsinoe an die Versammelten, „wollen wir Dionysos das ihm zustehende Weinopfer darbieten.“
.............................................................................................................................
[3] Euripides, Die Bacchantinnen, zitiert nach: K.G. Kachler, Der Tanz im antiken Griechenland, S.3.
[4] Ein episches Gedicht, das Arktinos von Milet zugeschrieben wird und unter anderem über den Kampf der Amazonen auf der Seite der Trojaner berichtete.