Im Schein der Lampe blitzten Saphire und Smaragde auf, die in den Deckel einer mit persischen Motiven verzierten Schatulle eingelassen sind.
„Ist das etwa…?“ Verblüfft ist Caesar näher an das kostbare Behältnis herangetreten, um es genauer zu betrachten.
„Ja, die berühmte Schatulle, die Alexander im Lager des Dareios erbeutete“, bestätige ich seine Vermutung. „Das Behältnis für Alexanders persönliche Ausgabe der Ilias mit den Anmerkungen seines Lehrers Aristoteles.“ Jenes Buch, das Alexander stets mit sich führte und das ihn bei der Eroberung Asiens inspirierte.
„Das Original ist noch erhalten?“
„Aber ja!“, versichere ich ihm. Auch wenn ich nicht weiß, in welchem Zustand. Bei so alten Papyri weiß man nie! Und zuletzt habe ich das Buch vor vielen Jahren gesehen, als mein Vater es mir zeigte. In Erinnerung daran umfasse ich die beiden geflügelten Sphingen, die den Deckel zieren und schiebe sie zusammen, was den verborgenen Mechanismus aktiviert, um das Behältnis zu öffnen. Ein leises Klicken ertönt und ich hebe den Deckel, um hineinzuspähen, vorsichtig, als sei es die Büchse der Pandora. Doch das Buch scheint nach wie vor in gutem Zustand zu sein, dem trockenen ägyptischen Klima sei Dank! Erleichtert öffne ich den Deckel ganz und trete beiseite, sodass auch Caesar einen Blick auf den Inhalt werfen kann.
„Ein Codex?“, fragt er verblüfft, denn die Ilias Alexanders besteht tatsächlich nicht aus mehreren Schriftrollen, sondern aus einem dicken Stapel Papyrusseiten, die zwischen zwei Holzdeckeln plaziert und an einer Seite mit einem Faden zusammengeheftet sind.
„Vielleicht erschien ihm das praktischer, weil man die Seiten umblättern kann, statt in den Schriftrollen nach den richtigen Stellen suchen zu müssen“, mutmaße ich und erinnere mich, solche Codices auch schon bei Caesars Sekretären gesehen zu haben.
„Es ist in der Tat praktischer, besonders wenn man sich auf einem Feldzug befindet, aber ich wusste nicht, dass auch Alexander das bereits so handhabte!“[6] Behutsam greift Caesar nach dem Buch und beginnt dann, vorsichtig darin zu blättern und die Anfangsseiten zu überfliegen, bevor er es in der Mitte aufschlägt. Die dunkel verfärbten Papyrusseiten sind mit einer feinen griechischen Handschrift bedeckt, deren Farbe ein wenig verblasst ist. Aber die Strophen aus den Gesängen der Ilias sind dennoch klar lesbar:
„Kennen wir doch des andern Geschlecht und kennen die Eltern,
Hörend die längst berühmten Erzählungen sterblicher Menschen;
Nie haben wir sie geschaut, weder du die meinigen, noch ich die deinen
Doch man sagt, dich zeugte der unvergleichbare Peleus,
Dem dich Thetis gebar, des Meeres schönlockige Göttin.
Aber ich selbst, ein Sohn des hochgesinnten Anchises
Rühm' mich entsprossen zu sein der Tochter des Zeus, Aphrodite...“[7]
„Die Rede deines Vorfahren Aeneas!“, realisiere ich überrascht.
Und auch Caesar wirkt einen Moment erstaunt, ausgerechnet diese Seite aufgeschlagen zu haben. „Ja, die Stelle, als er Achilles auf dem Schlachtfeld begegnet und die Götter eingreifen, um den Kampf der beiden Helden zu verhindern. Denn anders als Achilles, musste Aeneas den trojanischen Krieg ja überleben, um die Weltmacht Rom zu gründen und mein Ahnherr zu werden.“ Caesar schmunzelt. „Nun soviel zu unseren altehrwürdigen Genealogien!“, meint er abschließend, bevor er das Buch noch einen Moment lang betrachtet, um es dann wieder vorsichtig zuzuklappen und zurück in die Schatulle zu legen.
„Es gibt Abschriften von Alexanders Ausgabe der Ilias in der Bibliothek, aber wenn du möchtest, kann ich auch das Original ausleihen“, biete ich an, „wir müssen nur sehr sorgsam damit umgehen.“
„Alexanders persönliches Lieblingsbuch? Gerne.“ Um Caesars Mundwinkel spielt ein Lächeln und in seinen Augen blitzt es ironisch, bevor er mir einen Arm um meine Taille legt und seine Finger federleicht über meinen Rücken streicheln. „Ich bin immer sehr behutsam mit kostbaren Dingen, die man mir bereitwillig anvertraut.“
Und im Halbdunkel der Kammer schmiege ich mich in seine Umarmung, gehe auf die Zehenspitzen und drücke ihm einen Kuss auf seine wunderbar sinnlichen Lippen, den er sanft, aber ausgiebig erwidert.
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[6] Die ersten Bücher in Codexform, also den heutigen Büchern vergleichbar sind bereits im ptolemäischen Ägypten belegt und waren auch in Rom bekannt, setzten sich aber erst im 4. Jahrhundert n. Chr. als neue Buchform durch. Dass bereits die Ilias Alexanders als Codex gebunden gewesen sein könnte, ist jedoch der Phantasie der Autorin entsprungen.
[7] Homer, Ilias, 20, 205f, eine deutsche Übersetzung findet man auch bei: https://www.gottwein.de/Grie/hom/il20.php