Nach dieser kleinen Pause beginnt Sosigenes seinen Vortrag mit einem Zitat des Dichters Aratos von Soloi:
„Mit Zeus wollen wir beginnen; ihn lassen wir Sterblichen nie ungenannt…Denn auch wir sind seine Nachkommen; und er gibt in seiner Menschenfreundlichkeit günstige Zeichen...Er war es, der die Zeichen am Himmel gesetzt und die Sternbilder gezeichnet und für das Jahr erdacht hat, welche Sterne den Menschen vor allem die rechten Zeichen der Jahreszeiten geben sollten, damit alles untrüglich wachsen könne. Darum verehren die Menschen ihn immer als Ersten und Letzten. Gegrüßt seist du, o Vater, mächtiges Wunder, mächtiger Segen für die Menschen. Gegrüßt seist du und die Älteren! Seid gegrüßt, ihr Musen, recht freundlich, alle! Aber auch für mich, als Antwort auf mein Gebet, lenke alle meine Gedanken, um in rechter Weise von den Sternen zu künden.“[1]
Und nach dieser Einleitung fängt er an, die Funktionsweise des Planetariums zu erläutern. „Dieses Gerät wurde vom großen Erathostenes persönlich entwickelt, um die Umlaufbahn der Sonne durch die Sternbilder und die Zeiträume der Äquinoktien im Verlauf eines Jahres zu demonstrieren…“, erklärt er und bewegt dabei die innere, von metallenen Ringen umgebene Kugel.
„Was sind Äquinoktien?“, fragt Maios leise.
„Die Frühlings- und Herbsttagundnachtgleichen, wenn Tag und Nacht gleich lang sind“, flüstere ich zurück.
„Eine Drehung der Kugel entspricht einem Tag“, fährt Sosigenes fort. „Dieser schmale Ring verkörpert die Ekliptik, also die Umlaufbahn der Sonne, wie wir sie von der Erde aus wahrnehmen. Auf diesem breiten Ring sind hingegen die zwölf Monate und die Tierkreiszeichen des Zodiacs verzeichnet, welche die Sonne im Laufe eines Jahres durchläuft. An den beiden Schnittpunkten der Ringe liegen die Äquinoktien…“ Und wieder demonstriert er durch Drehungen der Kugel die unterschiedliche Länge der Tage und die sich daraus ergebende Entstehung der Jahreszeiten. „…Von der Erde aus muss es so wirken, als würde die Sonne innerhalb eines Jahres einmal alle 12 Sternzeichen des Fixsternhimmels durchlaufen. Aber wenn in Wirklichkeit die Erde diese Drehung um die Sonne vollzöge, würde es für uns genauso aussehen. Ich persönlich präferiere das heliozentrische Weltbild des Aristarchos von Samos, nachdem die Erde sich um die Sonne dreht, statt umgekehrt“, merkt er an und erntet dafür nur ein Schnauben aus der Reihe der Priesterschaft. „Aber davon abgesehen, macht das keinen Unterschied in Bezug auf die Neigung der Erdachse, welche die jahreszeitlichen Wetterphänomene hervorruft“, fährt er fort, während er mit ruhiger Präzision die drehbaren Metallringe bewegt, um das Gesagte zu illustrieren. „Um ihre ursprüngliche Position wieder einzunehmen, benötigt die Erde etwa 365 Tage und 6 Stunden. Das ist die Länge des natürlichen Jahres. Nach 365 ¼ Tagen befindet sie sich also wieder am Frühlingspunkt.
„Ist der Frühlingspunkt dasselbe wie die Frühlingstagundnachtgleiche?“, fragt Maios laut.
„Vereinfacht gesagt, ja, Königliche Hoheit“, antwortet Sosigenes, sichtlich erfreut über das Interesse seines jungen Zuhörers. „Im Prinzip kennzeichnet dieser Zeitpunkt den Beginn des natürlichen oder siderischen Jahres, wie wir das in der Astronomie ausdrücken.“
„Aber wenn das Jahr im Frühling beginnt, warum beginnt der ägyptische Kalender dann im Sommer?“, fragt mein Bruder weiter.
„Weil der ägyptische Sothis-Kalender mit dem jährlichen Wiedererscheinen des Sterns Sirius am Himmel beginnt, Königliche Hoheit“, antwortet Psenamounis mit feierlichem Ernst. Der Priester ist nach vorne getreten und bedenkt Maios mit einem bedeutungsvollen Blick. „Der heilige Stern der Göttin Isis-Sothis kündigt die Nilflut an, die Ägypten am Leben erhält.“
„Das ist richtig. In der Astronomie bezeichnen wir das als heliakischen Aufgang!“, ergreift nun wieder Sosigenes das Wort und führt den Gedanken weiter. „Der ägyptische Sothis-Kalender beginnt im Sommer, der makedonische im Herbst und der römische im Winter. Und das bringt uns in der Tat zum nächsten Problem. Das siderische Jahr hat 365 ¼ Tage. Um diesen Vierteltag zu berücksichtigen, müssen in all diesen Kalendern in regelmäßigen Abständen Schalttage oder Schaltmonate eingefügt werden. Da der ägyptische Kalender nur 365 Tage hat, verschiebt er sich alle 4 Jahre um einen Tag.“
„Der ägyptische Verwaltungskalender verschiebt sich zwar alle 4 Jahre um einen Tag!“, korrigiert Psenamounis, „aber er fungiert mit seinen festgelegten 360 Tagen und den hinzugefügten 5 Festtagen der Götter auch nur als Kontrollinstanz zum Sothis-Kalender! Der Sothis-Kalender spiegelt das natürliche Jahr in perfekter Weise und ist in der Lage, das Erscheinen der Sothis und das Neujahrsfest exakt zu berechnen.“
„Das ägyptische Kalendersystem hat sicherlich seine Vorzüge, Psenamouis“, meint Sosigenes in beschwichtigendem Ton, „aber es basiert auf dem Zusammenspiel von zwei unterschiedlichen Kalendern. Das siderische Jahr damit zu berechnen, erfordert enormes Wissen. Genau aus diesem Grunde ließ ja Pharao Ptolemaios Euergetes vor rund 200 Jahren einen regelmäßigen Schalttag alle 4 Jahre einführen, um die beiden Kalender miteinander in Einklang und das Jahr auf die durchschnittliche Länge von 365 ¼ Tagen zu bringen. Eine einfache, aber gute Regel, mit der es möglich war, das Neujahrsdatum auf den 1. Tag des Monats Payni festzulegen. Das entsprach damals dem 15. Tag des römischen Monats Quintilis[2]“, fügt er mit einem Blick auf Caesar hinzu. „Leider wurde diese Schaltregel nach dem Tod des Königs wieder aufgegeben, so dass der Neujahrstag sich nun wieder alle paar Jahre um einen Tag verschiebt.“
„Die damalige Schaltregel war für ein paar Jahre akzeptabel, aber nicht, wenn es um Jahrhunderte geht!“ hält Psenamounis dagegen. „Das uralte Wissen um das Zusammenspiel der Kalender ist für Uneingeweihte schwer zu begreifen. Aber unsere heiligen Aufzeichnungen und der Kalender basieren auf den genauen Beobachtungen der Gestirne während der Stundenwachen in den großen Tempeln Ägyptens. Unsere Aufzeichnungen sind älter, als alles, was Ihr Euch vorzustellen vermögt!
„Glaubt mir, junger Mann, ich kann mir eine Menge vorstellen! Aber auch wenn dieser Kalender seit Jahrtausenden funktioniert, er ist viel zu kompliziert zu berechnen. Die Leute kommen nicht mal mit dem makedonischen Kalender zurecht und – verzeiht, verehrter Konsul – mit dem römischen erst recht nicht! Wir brauchen ein genaues und einfaches System für alle.“
„Ein Kalender mit 365 Tagen und einem festen Schalttag alle 4 Jahre wäre aber nicht genau!“, bemerkt Psenamounis spitz.
„Da gebe ich Euch sogar Recht! 365 ¼ ist nur ein Näherungswert. Aber die Abweichung ist minimal. Man müsste den Schalttag nur etwa einmal alle 130 Jahre aussetzen und schon würde es funktionieren. Ein Tag Abweichung alle 130 Jahre ist allemal einfacher zu berechnen, als ein Tag Abweichung alle 4 Jahre!“[3]
„Diese Abweichung alle 4 Jahre hat aber einen Sinn. Sie ist Teil des Sothis-Zyklus, wie Ihr sehr genau wisst. Und ein Sothis-Zyklus dauert 1460 Jahre! Der ägyptische Kalender ist perfekt, so wie er ist. Er wurde für die Ewigkeit konzipiert. Doch das kann man nur vor dem Hintergrund von Jahrtausenden überblicken.“
„Diese Debatte hatten wir bereits so oft“, ereifert sich nun Sosigenes. „aber dieses komplizierte System, das zudem auf genaue Beobachtungen angewiesen ist, ist einfach nicht mehr zeitgemäß, wenn man es auch durch eine einfache mathematische Lösung ersetzen kann. Sothis-Zyklus hin oder her, wenn Hipparchos‘ astronomische Berechnungen stimmen, wird sich auch der heliakische Aufgang des Sirius im Laufe der Jahrtausende verschieben, genau wie die Äquinoktien. Es braucht ein Weltenjahr von 25800 Jahren, bis die Sterne wieder ihre heutige Position einnehmen!“
„Denkt Ihr, wir Priester wissen nichts von der Verschiebung der Äquinoktien? Euer griechischer Astronom Hipparchos hat darüber geforscht, das räume ich ein – aber er hat sie nicht entdeckt!“, beharrt Psenamounis in herablassendem Ton.
„Um was genau geht es bei diesen 25800 Jahren?“, unterbricht Caesar mit seiner Frage die Diskussion.
„Verzeiht, Imperator“, wendet Sosigenes seine Aufmerksamkeit wieder Caesar zu. „Es geht um die Erkenntnis, dass auch der Frühlingspunkt nicht feststeht, sondern sich ebenfalls – kaum wahrnehmbar, aber kontinuierlich – verschiebt. Vor etwa 2000 Jahren fand die Frühlingstag- und Nachtgleiche im Sternbild Stier statt. Momentan erfolgt sie noch im Widder. Doch im Lauf der nächsten hundert Jahre wird sie ins Sternbild Fische wechseln und in etwa 2200 Jahre ins Sternbild Wassermann und so weiter. Ein Weltenjahr dauert etwa 25800 Jahre, der Zeitraum, den der Frühlingspunkt braucht, um alle 12 Sternbilder zu durchlaufen.“[4]
„Und was für Auswirkungen soll das haben?“, erkundigt sich Caesar mit hochgezogener Braue.
„Das weiß niemand“, bekennt Sosigenes, „aber vermutlich keine gravierenden, denn es muss auch in der Vergangenheit bereits mehrmals geschehen sein.“
„Es wird Auswirkungen haben!“, hält Psenamounis dagegen, „so jedenfalls prophezeien es die Orakel. Ägypten ist das einzige Land, das den letzten Übergang nahezu unbeschadet überstanden hat. Und wieder einmal wechselt die Erde in ein neues Weltzeitalter. Ein Umbruch steht bevor, ähnlich einer Waage, die ins Ungleichgewicht gerät. Und um die Waage nicht zu irritieren, sondern zu beruhigen, sollte man gerade jetzt keine neuen Systeme einführen, sondern auf das Altbewährte vertrauen. Und dazu gehört auch die Einhaltung der Feste zu den richtigen Zeiten!“
„Die Feste zu den richtigen Zeiten?“, fragt Sosigenes skeptisch. „Ohne Einfügung von Schalttagen würden wir irgendwann die Feste des Sommers im Winter feiern und umgekehrt. Pharao Ptolemaios Euergetes hat das vor 200 Jahren schon verhindern wollen, indem er den Schalttag einfügte!“
„Ihr spielt auf das Kanopus Dekret an?“, fragt Psenamounis. „Damals herrschte eine besondere astronomische Konstellation, weshalb die Priestersynode die Einführung von festen, statt flexiblen Schalttagen alle 4 Jahre für eine bestimmte Dauer akzeptierte. Außerdem wollte man den König ehren, da er die geraubten Götterbilder aus Persien zurückgebracht und eine Hungersnot in Ägypten verhindert hatte. Als die Priestersynode damals in der Stadt Kanopus tagte, erkrankte die kleine Tochter des Königs plötzlich und starb. Der Prinzessin zu Ehren bestimmte man einen 6. Epagomenentag als Schalttag während der Regierungszeit dieses Königs. “
„Warum hat sich diese Kalenderreform nicht dauerhaft durchgesetzt, wenn man hier in Alexandria doch über solch genaue Berechnungen verfügt?“ Caesar sieht Sosigenes fragend an, doch es ist Psenamounis, der darauf antwortet: „Ganz einfach, Imperator. Manche Feste folgen dem Wandeljahr des bürgerlichen Kalenders, diese wurden tatsächlich vor Jahrhunderten zu anderen Jahreszeiten gefeiert als heute. Aber die mit der Ernte verbundenen Feste – wie das Neujahrsfest – folgen dem Sothiskalender. Der Sothis-Zyklus ist heilig und darf nicht gestört werden. Seit Beginn der Geschichte schwört jeder Pharao einen heiligen Eid, den Kalender nicht zu verändern.“
„Da seht Ihr, Imperator, woran das Ganze scheiterte…“, meint Sosigenes trocken. „Wir haben weiterhin drei Kalender, deren Daten bei jedem offiziellen Dekret genannt werden. Ich will Euch ein Beispiel geben. Acoreus, bitte sei doch so gut und nenne uns das Datum des Neujahrsfestes – sagen wir: Aus dem 9. Regierungsjahr von Pharao Ptolemaios Euergetes!“
Der Astronom nickt und blättert in seinen Tabellen, bis er das entsprechende Datum gefunden hat: „Im 9. Regierungsjahr der wohltätigen Götter Ptolemaios Euergetes und Berenike Euergetis fiel das Neujahrsfest am 1. Wepet-renpet nach dem Sothiskalender, auf den 1. Payni des ägyptischen Verwaltungskalenders und auf den 10. Artemisios des makedonischen Kalenders. Das entspricht momentan nach dem römischen Kalender dem 18. September, aber müsste eigentlich nach Sosigenes Berechnungen…“, und wieder blättert er in seinen Tabellen, „auf den 15. Quintilis[5] fallen.“
„Danke für diese Zusammenfassung, Sosigenes, Acoreus, Psenamounis“, meint Caesar langsam. „Ich denke, die Komplexität des Themas ist klargeworden. Vielleicht könnten wir jetzt zu Euren aktuellen Berechnungen kommen, Sosigenes?“
„Sehr gerne, Imperator. Nach dem römischen Kalender haben wir heute den 8. Oktober. Astronomisch gesehen müsste heute jedoch der 4. Sextilis[6] sein.“ Sosigenes wendet sich wieder dem Planetarium zu und verstellt die Skalen, um die Länge des heutigen Tages und den Zenit des Sonnenstandes zuerst für Alexandria und dann für Memphis anzuzeigen. Dabei dreht er jedes Mal an der inneren Kugel, bis der Ekliptik-Ring den höchsten Punkt anzeigt. Nachdem er die Markierungen studiert hat, fügt er hinzufügt. „Wie man an der Höhe des Zenits der Sonne deutlich sieht, befinden wir uns astronomisch gesehen mitten im Sommer. Der römische Kalender ist dem natürlichen Jahr also um 67 Tage vorraus.“
„Und wie genau sind die Berechnungen?“, fragt Caesar nach.
„Kleine Ungenauigkeiten von etwa 48 Stunden können sich ergeben“, räumt Sosigenes ein, „weil uns momentan nur genaue Vergleichsdaten für Alexandria und einige griechische und ägyptische Städte vorliegen. Man müsste die Zeiten der Tageslängen und auch die Sternenbeobachtungen in Rom noch einmal genau dokumentieren und mit unseren Daten abgleichen…“
„Also kann man mit diesem Planetarium das exakte astronomische Datum für jeden Punkt der Erde errechnen, sofern man die exakte Dauer des Tages und der Nacht kennt?“, erkundigt sich Caesar. Mit einer schwungvollen Bewegung hat er sich erhoben, um nun selbst neben Sosigenes die Markierungen auf den Skalen und Ringen des Planetariums zu studieren.
„Das ist der Umkehrschluss, Imperator“, nickt Sosigenes erfreut, „mit der Einschränkung, dass die genauen Koordinaten bekannt sein müssen. Aber dieses von Erathostenes entwickelte Planetarium kann noch mehr. Mit Hilfe dieser Markierungen“, und wieder deutet er auf die entsprechenden Ringe, „ist es möglich, auch die Bewegungen des Mondes zu simulieren und Mond- und Sonnenfinsternisse vorauszuberechnen.“
„Nur weil man sie berechnen kann, heißt das aber noch lange nicht, dass ihre schicksalhaften Auswirkungen als göttliche Vorzeichen in irgendeiner Weise berechenbar wären“, meldet sich Psenamounis aus der priesterlichen Ecke zu Wort.
„Das behauptet auch niemand!“, bemerkt Sosigenes mit einem entnervten Seitenblick.
Caesar studiert noch für einen Augenblick die Skalen, bevor er sich wieder an Sosigenes wendet: „Angenommen, man würde dem römischen Kalender diese 67 Tage hinzufügen, das Jahr auf 365 Tage bringen und zukünftig alle vier Jahre einen Schalttag einführen – dann würden natürliches und kalendarisches Jahr in Zukunft übereinstimmen. Zumindest in den nächsten 130 Jahren?“
„Genauso so ist es, Imperator“, bestätigt Sosigenes voller Eifer.
„Dann ist dieser Sonnenkalender tatsächlich genauer und vor allem praktikabler, als alles, was wir in der Vergangenheit jemals hatten. Ich danke Euch, Sosigenes und würde Euch gerne nach Rom einladen, um eine Kalenderreform zu planen. Die Details besprechen wir später.“ Mit einem anerkennenden Blick auf den Astronomen und das Planetarium, kommt Caesar zurück und setzt sich wieder an meine Seite, während sich auf Sosigenes Gesicht ein überwältigtes Strahlen ausbreitet.
Psenamounis wirkt dagegen alles andere als glücklich. Mit einem beschwörenden Gesichtsausdruck nähert er sich und vollführt kurz vor meinem Stuhl eine knappe Verneigung.
„Göttliche Isis, darf ich sprechen?“
Ich würde dieses Gespräch lieber intern führen, doch bei seinem eindringlichen Blick nicke ich. Psenamounis‘ Blick wandert kurz zu meinem Bruder, der eher unbeteiligt schaut, und dann wieder zu mir.
„Majestäten, ich bitte Euch, erinnert Euch an den Eid. Kein König darf den Kalender verändern, das ist so seit den Tagen der ersten Pharaonen. Denn der Sothiskalender steht für das perfekte Jahr der Götter, der bürgerliche, mangelhafte Kalender aber für die zwar feste, aber menschliche Ordnung auf Erden, die sich dem Ewigen nähern, es aber nicht ganz erreichen kann. Die Göttlichen sind die Vermittler zwischen diesen beiden Systemen und halten die Kommunikation mit den Göttern aufrecht, wie auch die Daten der beiden Kalender ineinandergleiten. Der ägyptische Kalender reguliert sich im Laufe einer Sothisperiode selbst, da die Tage astronomisch bestimmt werden, aber bei einem festgelegten Schalttag würde es im Laufe der Jahrhunderte zu einer irreversiblen Verschiebung kommen, die künstlich korrigiert werden müsste.“[7]
Nachdenklich blicke ich von dem jungen Priester vor mir, der alles beim Alten lassen will, zu Sosigenes, dem alten Astronomen, der an Reformen glaubt. Ich bin eine Tochter beider Welten und kann beide verstehen, so unterschiedlich sie auch manchmal sein mögen. Caesars Idee einer Kalenderreform ist verlockend. Ich vermute jedoch, dass Psenamouis auch wegen der niedrigen Nilflut so sehr auf die strikte Einhaltung der gewohnten Ordnung besteht. Ein Umstand, den er mir zu Liebe nicht öffentlich ausspricht. Die Priesterschaft will die bereits geplanten Riten nicht durch eine Neuberechnung der Festdaten gefährden. Die Götter müssen gnädig gestimmt werden. Innerlich seufzend beschließe ich, erstmal alles so zu belassen.
„Der Kalender funktioniert in dieser Form seit 3000 Jahren, in Ägypten besteht deshalb momentan keine Veranlassung, ihn zu verändern“, verspreche ich und sehe fragend zu meinem Bruder, der meine Aussage gleichmütig abnickt. „Aber für Rom scheint es eine gute Idee zu sein, einen Sonnenkalender nach dem Vorbild meines Vorfahren Ptolemaios Euergetes einzuführen“, wende ich mich lächelnd an Caesar. „Es wäre uns eine Ehre, dir das dafür erforderliche Wissen zur Verfügung zu stellen, Imperator.“
„Und dieses Wissen nehme ich gerne an, meine Königin“, erwidert er mit einem Lächeln in den Augen.
„Können wir dann jetzt endlich essen?“, fragt Ptolemaios leise und auch Maios schaut bittend in unsere Richtung. Olympos nimmt das als Zeichen, den Aufbruch einzuleiten und uns in Richtung des Speisesaals der Gelehrten zu eskortieren, wo für unsere Gesellschaft in der Zwischenzeit ein leichtes Mahl vorbereitet wurde.
Unterwegs und beim Essen führen Sosigenes und Psenamounis ihren Disput in gemäßigter Form weiter, während Sextus und Diodorus über die Königin Berenike Euergetis und das nach ihr benannte Sternbild – die Locke der Berenike – fabulieren. Und irgendwie drehen sich die Gespräche weiterhin um astronomische Beobachtungen, Planetarien, Himmelsgloben und Astrolabien, sowie die Berechnung der verschiedenen Sonnen- und Mondkalender.
Caesar erklärt meinen Brüdern während des Essens geduldig das Prinzip des römischen Kalenders, während beide Erdmandelkonfekt kauend, lauschen.
„Warum heißt der zehnte Monat eigentlich Oktober? Bedeutet Oktober nicht auf Latein: Der achte Monat, statt der zehnte?“, will Ptolemaios in diesem Zusammenhang wissen, während er gleichzeitig dem Diener bedeutet, ihm eine zweite Ente zu bringen.
„Stimmt“, meint Caesar gutgelaunt, „genau wie Quintilis eigentlich der fünfte Monat ist, Sextilis, der sechste, September der siebte, November der neunte und Dezember der zehnte Monat. Ursprünglich waren sie das auch, da das römische Jahr früher im März begann. Aber vor etwa 100 Jahren hat man das geändert, so dass die Bezeichnungen der Monate nun nicht mehr mit ihrer Reihenfolge im Jahr übereinstimmen. Eine gute Anmerkung, Ptolemaios. Aber wie so oft greift dann einfach das Gewohnheitsrecht und die alten Namen werden übernommen.“
„Wenn du den Kalender reformierst, kannst du ja einige Monate umbenennen! Wie wäre es mit Iulius für deinen Geburtsmonat – oder Iuli?“, schlage ich ihm augenzwinkernd vor.
Caesar schaut mich belustigt an und hebt eine Augenbraue. „Ja, wieso nicht, Iulius klingt zumindest besser als Quintilis!“, entgegnet er trocken.
Ich lache bei seinem ironischen Unterton und auch Maios fängt an zu kichern.
................................................................................................................................
[1] Aratos von Soloi, Phaenomena, 3. Jh. v. Chr., https://www.theoi.com/Text/AratusPhaenomena.html
[2] 15. Juli 237 v. Chr.
[3] Ich mutmaße hier, dass Sosigenes diese Abweichung bereits kannte, sie aber in den folgenden Jahrhunderten, wie auch zunächst die Schaltregel alle 4 Jahre in Rom nicht richtig umgesetzt wurde, so dass eine Korrektur erst 1582 durch Papst Gregor erfolgte.
[4] https://www.astronomie.de/einstieg-in-die-astronomie/unsere-erde/die-praezession/
[5] Eigene Überschlagsrechnung, falls jemand genauere Tabellen hat, wäre ich sehr dankbar, denn die Kalenderberechnungen sind so komplex, dass ich mir nicht einbilde, sie mit allen Komplikationen (unterschiedliche Tageanzahl der Monate, Schalttage, Schaltmonate usw.) wirklich verstanden zu haben.
[6] Nach modernen Berechnungen kommt man auf den 4. Sextilis bzw. den 4. August, wie der Monat heute heißt. Sosigenes kam bei seinen Berechnungen aber wahrscheinlich eher auf den 6. Sextilis (6. August). Letztendlich waren es 67 Tage, die Caesar dem Jahr 45 v. Chr. hinzufügte, zusätzlich zu dem in diesem Jahr ohnehin fälligen Schaltmonat Mensis Intercalaris. Das so genannte „Verworrene Jahr“ (45 v. Chr. / 709 nach der Gründung Roms) hatte somit 445 Tage.
[7] Die Argumentation von Psenamounis beruht auf einer These von Anne-Sophie Bomhard, Ägyptische Zeitmessung: Die Theorie des gleitenden Kalenders, in: ZÄS 127 (2000); zum Kanopus-Dekret siehe: Siegfried Schott, Altägyptische Festdaten (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse. (AM-GS). 1950, 10), Mainz u. a. 1950.