Ich bin gerade damit fertig, Seleukos einen abschließenden Brief an die Priesterschaft zu diktieren, als die Wachen Apollodorus melden.
„Seid gegrüßt, meine erhabene Königin“, verneigt er sich gut gelaunt und mit der ihm eigenen Übertreibung.
„Du kannst für heute gehen, Seleukos“, entlasse ich meinen Sekretär, der angesichts Apollodorus‘ freimütiger Rede schon wieder verdrießlich das Gesicht verzieht. Charmion grinst nur und selbst Khered-Anch muss schmunzeln. Offenbar hat sie sich inzwischen an die internen Umgangsformen und Eigenheiten meines inneren Kreises gewöhnt.
Ich deute auf den freigewordenen Stuhl. „Setz dich und erzähl! Was gibt es Neues, Apollodorus?“ Dieser beginnt in seiner typisch ungezwungenen Art mit seinem Bericht. Während ich ihm lausche, wird mir bewusst, wie viele Angelegenheiten Apollodorus stillschweigend und selbstverständlich während der letzten Tage im Hintergrund für mich erledigt hat. Er berichtet von den Treffen mit seinen Informanten, den Kaufleuten und der Priesterschaft der verschiedenen Tempel, die er gemeinsam mit Psenamounis besucht hat, und fährt dann fort: „Potheinos hat übrigens tatsächlich Wort gehalten und die Zahlungen an die Getreidehändler heute morgen veranlasst, weshalb die Kaufleute sich erstmal beruhigt haben. Die Aussicht auf künftige Importe aus Zypern sorgt zudem für allgemeines Entzücken. Es gibt natürlich jetzt schon Streitereien, wer den Zuschlag erhält, aber das sind nur die üblichen Reibereien zwischen den Handelsherren. Allerdings ist die Stimmung in der Stadt wegen der gestiegenen Getreidepreise immer noch gereizt. Und das dürfte sich angesichts der beunruhigenden Nilstandsmessungen auch nicht so schnell ändern“, meint Apollodorus abschließend mit einem Schulterzucken.
„Meinst du, die Leute sind eher wegen der Getreidepreise so aufgebracht, oder wegen der Gerüchte und Caesars Aufenthalt hier?“
„Naja, die Getreidepreise hängen ja nun einmal mit den römischen Sondersteuern und Exporten nach Rom zusammen. Zypern hat zwar die Gemüter etwas beruhigt, aber wenn die Leute sich kein Getreide mehr leisten können, ist der nächste Aufstand nicht weit. Und wenn dann auch noch Skandalgeschichten kursieren, sind die einfachen Bürger gern bereit, die Schuld auf den römischen Konsul zu schieben. Und mit Verlaub, auf Euch, Majestät.“
Ich nicke nachdenklich. Als Angehöriger meines inneren Kreises darf Apollodorus frei sprechen und ich weiß seine Offenheit zu schätzen. Die Nachrichten der Nilstandsmessungen bereiten auch mir Sorge. Die Pharaonen sind seit jeher als Mittler zwischen Göttern und Menschen für die Höhe der Nilflut verantwortlich. Und wenn der Nil während der Überschwemmung – warum auch immer – nicht genug oder zuviel Wasser führt, dann fällt das auf meinen Bruder und mich zurück. Nun wäre es eigentlich die Aufgabe meines Bruders gewesen, vorrausschauend zu planen, denn ich war ja während des letzten halben Jahres – dank seines Bürgerkrieges, den er gegen mich führen musste – nicht einmal in Ägypten. Trotzdem macht der Mob von Alexandria mich nun dafür verantwortlich. Und dank Potheinos‘ Verzögerungstaktik habe ich bisher nicht einmal Zahlen vorliegen. Das ist doch wieder mal alles entzückend! Ich seufze und wechsele das Thema: „Ist alles für den heutigen Ausflug vorbereitet?“
„Ja, Eure Pferde sind bereits angespannt und warten vor dem Palast, meine Königin“,
„Sappho und Dido? Hat Caesar das angeordnet?“, frage ich überrascht. Bei dem Gedanken an einen Ausflug mit Caesar im Wagen hebt sich sogleich meine Stimmung.
„Höchstwahrscheinlich. Der Befehl kam allerdings von Rufio. Er hat auch die Leitung über sämtliche Sicherheitsvorkehrungen, die mit dem heutigen Ausflug zur großen Bibliothek zusammenhängen.“
„Gut. Ich bin dir wie immer dankbar, Apollodorus.“ Ich schenke ihm ein anerkennendes Lächeln, das er mit einem gutmütigen Grinsen erwidert. Ich bin wirklich froh, ihn zu meinen Freunden und Vertrauten zu zählen, denn ganz nebenbei wacht Apollodorus auch noch über meine Sicherheit und die kleinen aber wichtigen Details bezüglich der Inszenierung meiner öffentlichen Auftritte. Und doch strahlt er eine Leichtigkeit und Fröhlichkeit aus, als wäre das alles eine Kleinigkeit. In den letzten Tagen habe ich hauptsächlich durch Charmion mit ihm kommuniziert, aber die beiden sind seit langem ein eingespieltes Team. Und ein gewisser römischer Feldherr fordert momentan ohnehin meine ganze Aufmerksamkeit. Und dann ist da noch dieser geheime Gang, über den ich Apollodorus wahrscheinlich unterrichten sollte…aber bevor ich noch mehr Leute ins Vertrauen ziehe, sollte ich es vielleicht lieber Caesar sagen?
~*~
Mein Herz klopft deutlich schneller, als ich zur verabredeten Zeit an den stummen Wachen vorbei die Tür durchschreite, um meinem römischen Liebhaber und Patron gegenüberzutreten.
Bereits im Vorraum klingt mir Julius Caesars selbstsichere und befehlsgewohnte Stimme entgegen: „…und wenn du mit den Listen für Gaius Oppius fertig bist, schreib noch an Dollabella, dass ich mit seinem Gesetzesentwurf zur Senkung der Mieten einverstanden bin. Ach ja, und richte noch Grüße an Tullia und die ganze Familie aus und so weiter.“ Im Raum herrscht emsige Betriebsamkeit. Aulus Hirtius, Faberius und mehrere Schreiber haben sich um Caesar versammelt, der auf seinem kurulischen Stuhl thront wie ein König und offenbar gerade dabei ist, mehrere Briefe gleichzeitig zu diktieren: Bei meinem Anblick senkt Hirtius sein Schreibrohr und neigt wie die übrigen Römer höflich den Kopf. Caesars dunkle Augen gleiten über meine Gestalt und ein Lächeln zupft an seinen Mundwinkeln.
„Ah, Kleopatra, meine Liebe. Dein Anblick ist wie immer bezaubernd. Komm, setz dich noch einen Augenblick zu mir! Wir brechen gleich auf.“ Auf seine Geste hin wird sofort ein weiterer Stuhl neben seinen gestellt. Caesars legere Missachtung jeglichen Protokolls ist auch heute wieder beeindruckend. Innerlich erheitert, lasse ich mich neben ihm nieder und nicke der ganzen Versammlung hoheitsvoll zu, so selbstverständlich, als säße ich neben meinem königlichen Gemahl. Und irgendwie ist er das ja auch. Zumindest fühlt es sich so an. Und in seiner Nähe fühle ich mich sofort wieder beschwingt und energiegeladen.
„Ich habe gehört, dass Potheinos heute bei dir war?“, erkundigt Caesar sich beiläufig. Sein ironischer Blick trifft einen Moment den meinen. Natürlich ist ihm das nicht entgangen.
„Ja, wir hatten ein amüsantes Gespräch“, entgegne ich trocken.
„Das kann ich mir denken! Arsinoe hat sich übrigens für den Museionsbesuch entschuldigen lassen, weil sie ihr Symposion vorbereiten muss, aber deine Brüder haben zugesagt. Wir brechen auf, sobald die beiden eintreffen“, teilt er mir mit, bevor er dazu übergeht, weitere Anweisungen zu geben und eine Anzahl römischer Namen zu nennen, die offensichtlich alle noch Nachrichten erhalten sollen. Neugierig lausche ich seinen Worten. Es geht um Steuerabgaben, Truppenbewegungen und Gesetzesentwürfe für den Senat. Caesar regiert von hier aus ein Weltreich, geht mir auf. Und er tut das mit einer Energie und Souveränität, die ich nur bewundern kann…während ich schon an der Regierung Ägyptens manchmal verzweifle. „…und ich verlasse mich darauf, dass alles noch heute Mittag mit einem der Schnellsegler rausgeht, Hirtius!“, mahnt er abschließend, bevor er sich schwungvoll erhebt und mir mit einem charmanten Lächeln die Hand reicht. „Wollen wir, meine schöne Königin?“
Ein wohliges Prickeln durchfährt mich, als sich unsere Hände berühren. „Sehr gerne, Imperator.“
~*~
„Und was hat der gute Potheinos getan, weshalb du ihn hierher zitiert hast?“, erkundigt Caesar sich unterwegs, während wir mit unserem Gefolge die Flure durchqueren.
„Ah, der übliche bürokratische Wahnsinn. In Kurzform: Er hat die Auslieferung meiner königlichen Siegel verhindert, indem er die Goldvorräte in den Werkstätten beschlagnahmt hat und gleichzeitig bestimmt, dass keine Briefe ohne diese Siegel bearbeitet werden dürfen. Er sorgt dafür, dass sich meine Schreiber mit Nichtigkeiten beschäftigen müssen, aber bekommt es nicht hin, mir die Berechnung der Nilstandsmessungen vorzulegen! Als ich ihn damit konfrontiert habe, hat er versucht, sich rauszureden und schiebt alles auf die langsam arbeitende Bürokratie.“
„Tja, Bürokratie arbeitet leider langsam. Manchmal frage ich mich, ob Dummheit, Faulheit oder Korruption in diesen Bereichen überwiegen…“, lautet Caesars ironischer Kommentar.
„Und wenn Bestechungsgelder fließen, arbeitet sie sogar noch langsamer“, füge ich lakonisch hinzu.
„Meinst du, Potheinos unterschlägt Gelder?“, erkundigt er sich interessiert.
„Würde mich nicht überraschen, aber es ist nur eine Vermutung. Ich habe ihm ein Ultimatum von drei Tagen gestellt, um endlich all die angeforderten Unterlagen vorzulegen. Er hat es zugesichert, aber gleichzeitig behauptet, die räumliche Distanz sei schuld an den Missverständnissen – wie er sich ausgedrückt hat. Und dann hat er mir allen Ernstes nahegelegt, in den Lochias Palast umzuziehen!“, schließe ich empört.
„Um dich von mir zu isolieren?“ Caesars Ton ist plötzlich ernst geworden.
„Ja, ich denke, das war sein Hintergedanke“, räume ich ein.
„Das ist gefährlich, Kleopatra. Die Lage in der Stadt ist alles andere als sicher. Ganz unabhängig davon, dass ich dich in meiner Nähe haben will, kann ich dich nur hier wirkungsvoll schützen. Ich hoffe, das ist dir bewusst!“
Ich nicke und schaue ihm einen Augenblick in seine dunklen Augen. „Ich weiß und ich habe ihm gesagt, dass es ihn nichts angeht, wo die Königin von Ägypten sich aufhält!“ Oder mit wem sie ihre Nächte verbringt.
„Gut!“ Caesars Miene entspannt sich zu einem Lächeln. „So etwas Ähnliches habe ich ihm übrigens auch geantwortet, als er mir bei meiner Ankunft empfahl, doch am Besten gleich wieder abzureisen.“
Das bringt mich zum Schmunzeln. „Ich habe ihm übrigens mit deinem Zorn gedroht, sollte er die Getreidelieferungen weiterhin sabotieren.“
„Also hast du mich als Druckmittel benutzt?“, droht er mir spielerisch.
„Darf ich das nicht?“, frage ich unschuldig.
Seine Augen blitzen amüsiert. „Doch, du darfst das, meine kleine Göttin. In diesem Fall war es sogar mehr als angebracht.“
Lächelnd drücke ich seine Hand ein wenig fester.
~*~
Meine Brüder warten bereits in ihren prunkvollen Streitwagen vor dem Palast, als Caesar und ich zusammen mit unserem Gefolge und Geleitschutz ins Sonnenlicht treten und unsere Plätze in der Prozession einnehmen.
Ich schaue kurz zu Ptolemaios und Maios. Der König lenkt sein Gespann heute selbst und wirkt sichtlich selbstzufrieden auf seinem vergoldeten Streitwagen. Maios lehnt sich über den Rand seines eigenen Wagens und winkt mir vergnügt zu, während Serapion ruhig neben ihm steht. Als einem der Freunde des Königs ist ihm offenbar heute die Ehre zuteil geworden, die Pferde des Prinzen zu führen. Auch die Gefolgschaft meiner Brüder ist heute mit ihren Pferdegespannen erschienen, direkt hinter Maios lenkt Dioskorides den Wagen von Maios‘ Amme und Erzieherin. Ihre eigenen Kinder sind heute auch mit dabei. Nur Potheinos glänzt durch Abwesenheit.
Direkt vor uns warten Apollodorus, Sextus und Rufio bereits neben meinem Gespann. Wie gestern übernimmt Caesar sogleich die Zügel meiner Stuten. Dido und Sappho wiehern erfreut und ich lasse es mir nicht nehmen, kurz ihre Stirnen zu streicheln, bevor ich neben Caesar meinen Platz auf dem Streitwagen einnehme. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Charmion und Khered-Anch neben Apollodorus auf einem weiteren Wagen steigen, während Sextus und Rufio sich in die Sättel ihrer Pferde schwingen.
Als alles bereit ist, gibt Caesar das Zeichen zum Aufbruch und lenkt unseren Wagen in die Mitte der Prozession. Meine Brüder folgen uns und damit setzt sich der ganze Zug in Bewegung. Vor unseren Wagen streuen junge Dienerinnen Blütenblätter auf den Boden und verwandeln die Straße vor uns in ein duftendes Farbenmeer. Die weißen Wände der Paläste reflektieren das helle Sonnenlicht und heben sich strahlend vom frischen Grün der Perseabäume, Dumpalmen und Sykmomoren ab, die in idyllischen Gartenanlagen zwischen den Palästen in die Höhe wachsen und angenehmen Schatten spenden. Es sind nur wenige Menschen auf den Straßen, die sich ehrerbietig verneigen, als wir vorüberziehen. Die Stimmung ist feierlich und friedlich, als wir samt unserem Gefolge und der Militäreskorte die Prachtstraßen Alexandrias passieren. Aber bei genauerem Hinschauen erkenne ich römische Legionäre auf jedem Häuserdach. Caesar hat die Sicherheitsvorkehrungen in der Tat noch einmal verschärft.
„Ist bei dem Verhör des Mannes etwas herausgekommen?“, frage ich beim Gedanken an den gestrigen Zwischenfall.
„Nein. Anscheinend war es ein unzufriedener Bürger mit persönlichen Problemen und ohne nennenswerte politische Verbindungen.“
„Die Getreidepreise sind gestiegen“, gebe ich zu bedenken.
„Ja, das sorgt auch in Rom immer wieder für Aufruhr. Die einfachen Leute sind von den günstigen Preisen abhängig und können sich schon so kaum über Wasser halten.“
„Immerhin werden die römischen Bürger kostenlos mit ägyptischem Getreide versorgt. Getreide, das meinem Volk bei der nächsten Ernte fehlen wird. Und das sorgt hier in Alexandria für Unmut auf den Straßen.“ Ich habe die Worte sanft und ohne Wertung gesprochen, beobachte aber mit klopfendem Herzen Caesars Reaktion. Mir ist bewusst, dass ich mich auf gefährliches Terrain vorwage. Doch Caesars Blick ist konzentriert auf die Köpfe der Pferde gerichtet, deren Ohren aufmerksam in Richtung ihres Lenkers zucken.
„Ist die Prognose für die nächste Nilflut wirklich so schlecht?“, erkundigt er sich.
„Sieht so aus, ja.“
Er wirft mir einen mahnenden Blick zu. „Wir finden eine Lösung, Kleopatra. Aber nicht jetzt.“
„Ja, Caesar.“ Erleichtert nicke ich. Immerhin ein Anfang. Gerade hat nicht mein Liebhaber zu mir gesprochen, sondern der Konsul und Herrscher Roms. Und zumindest ist er geneigt, sich anhören, was ich zu sagen habe. Ein Lächeln huscht über meine Züge, als ich meinen Blick wieder auf die Pferde richte. Gerade durchfahren wir das Eingangsportal zu den blühenden Gärten, die das Museion umgeben. Und dann erstrahlt vor uns die große Bibliothek in ihrer monumentalen und ästhetischen Pracht.
„Ein eindrucksvolles Gebäude!“, gibt Caesar anerkennend zu, als er die eleganten Arkaden mit den meisterhaft ausgeführten Statuen mustert.
„Das Innere ist sogar noch viel eindrucksvoller. Du wirst schon sehen. Die große Bibliothek ist das geistige Zentrum der Stadt, sie enthält die größte Sammlung an Büchern, die je zusammengetragen wurde – das gesamte Wissen der Menschheit. Außerdem ist sie eine Stätte der Forschung und ein Tempel für die Musen, die Göttinnen der Künste. So etwas gibt es nur in Alexandria“, berichte ich voller Stolz.
„Du scheinst sie zu lieben.“
„Ich habe hier viele Jahre studiert“, erwidere ich versonnen, während mein Blick zu der überdachten Promenade gleitet. Unter diesen Arkaden habe ich oft zusammen mit Sosigenes über die Bücher Platons diskutiert. In diesen Stunden war ich keine Prinzessin, sondern einfach nur eine Schülerin, eine Gelehrte unter Gleichgesinnten. In Gedanken erschufen wir damals ganze Universen und die Welt der Politik erschien in diesen Stunden profan und weit entfernt. Jetzt flanieren keine Philosophen auf den Arkadengängen, dafür haben sich zahlreiche Gelehrte samt ihren Schülern im Eingangsbereich versammelt, um der königlichen Familie und dem römischen Konsul ihren Respekt zu erweisen.
Die Palastdienerinnen mischen sich unter die Versammelten und beginnen damit, Blumen und kleine Geschenke zu verteilen, während unsere Prozession schließlich vor dem gewaltigen Tempel der Musen zum Stehen kommt.
Gemeinsam mit Caesar, meinen Brüdern und unserem Gefolge nähere ich mich dem Epistates. Der altehrwürdige Priester verneigt sich tief vor uns und begrüßt uns dann salbungsvoll. Als Priester der Musen steht er dem Museion vor, während die Bibliothek traditionell von einem führenden Gelehrten geleitet wird, der meist zugleich als königlicher Tutor fungiert. Da die Stelle des Tutors nach der Verbannung von Theodotos jedoch momentan nicht besetzt ist, hat der königliche Leibarzt Olympos diese Rolle heute offensichtlich übernommen, denn er steht hinter dem Epistates und heißt uns nun ebenfalls willkommen. Zusammen mit den beiden beginnen wir nach dem obligatorischen Austausch von Begrüßungsfloskeln und Gastgeschenken mit einem Rundgang durch das Museion und die Bibliothek.
Der weißhaarige Epistates lässt es sich nicht nehmen, uns durch das imposante Gebäude zu führen. „…Museion und Bibliothek gehören zusammen und befinden sich innerhalb eines Gebäudekomplexes, zu dem auch der königliche Zoo und die botanische Sammlung gehören. Die Bibliothek von Alexandria ist zugleich eine Schule des Wissens, Palast und eine heilige Stätte...“
Caesar neben mir lauscht mit interessiertem Gesichtsausdruck, während Ptolemaios sich ebenfalls um einen solchen bemüht.
„…Dieser Arkadengang dient den Gelehrten zur Bewegung, da körperliche Ertüchtigung auch den Geist anregt. Hier auf diesen Gängen haben schon viele philosophische Gedanken und brillante Erfindungen ihren Anfang genommen“, berichtet der Epistates, wird jedoch von einem „Wer zuerst bei der Sokrates-Statue ist!“, unterbrochen, als Maios und zwei weitere Jungen in seinem Alter plötzlich an uns vorbeirennen. Offenbar hat mein kleiner Bruder das Gesagte wörtlich genommen. Ich unterdrücke ein Schmunzeln.
„Das sind die Kinder seiner Amme, Maios‘ Spielgefährten und Milchbrüder“, kommentiert Ptolemaios neben mir altklug den Wettlauf des Prinzen und wendet sich dabei an Caesar. „Immer wenn er mit den beiden zusammen ist, benimmt er sich vollkommen kindisch!“ Sagt mein 14-jähriger Bruder, der sich vor ein paar Tagen selbst bei seinem öffentlichen Trotzanfall das Diadem vom Kopf gerissen hat. Doch ich behalte meine Gedanken hübsch für mich.
„Da ja körperliche Ertüchtigung offenkundig den Geist anregt, sei es ihm vergönnt“, meint Caesar nur milde. „Bitte fahrt fort, werter Epistates“. Der Priester der Musen fährt mit seinem Vortrag über die Geschichte der einzelnen Gebäude fort, während eine griechische Adelige mittleren Alters – Maios‘ Amme – mit einem „Prinz Maios, nicht so schnell“ den Kindern hinterherläuft und ebenfalls hinter der nächsten Ecke des Arkadenganges verschwindet.
Caesar schaut der Szene belustigt hinterher und lauscht mit einem Ohr weiterhin den Ausführungen des Epistates, der währenddessen unbeirrt weitergeredet hat: „…Während der Tempel für die Musen noch unter seiner Majestät König Ptolemaios Soter errichtet wurde, war es vor allem sein Sohn und Nachfolger, Seine Majestät König Ptolemaios Philadelphos, der den Bau der großen Bibliothek vollendete und die ersten Schriften für die Sammlung erwarb…“ Und er redet stetig weiter und zählt die zahlreichen Verdienste meiner Vorfahren und der berühmten Gelehrten auf, die in diesen heiligen Hallen gewirkt und die Bibliothek weltberühmt gemacht haben. „…So war es der geniale Erathostenes, der Leiter der Bibliothek unter Seiner Majestät Ptolemaios Euergetes, dem es gelang mittels der Messung von Schatten am Tag der Sommersonnenwende in Alexandria und Assuan den Umfang der Erde zu berechnen. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Entfernung zwischen diesen beiden Städten ein Fünfzigstel des Erdumfangs ausmachen müsse…“.
In der angenehmen Kühle des kuppelförmigen Baus, den wir betreten haben, betrachte ich, die lebensgroße Statue des Erathostenes in seiner Nische. Hier in diesem Gebäudeteil sind die berühmten Leiter der Bibliothek und andere bedeutende Gelehrte als Statuen verewigt, zum ewigen Ruhm der Musen denen sie ihr Leben geweiht haben und deren monumentale Statuen über denen der Gelehrten aufragen. Ich betrachte die marmornen Gesichter der neun Göttinnen: Klio, Euterpe, Melpomene, Erato, Terspichore, Urania, Thalia, Polyhymnia und Kalliope – in deren Schönheit sich die Vollendung der alexandrinischen Bildhauerkunst widerspiegelt. Direkt über Erathostenes erhebt sich Urania, die Muse der Astronomie und neben ihr steht Klio, die Rühmende, die Muse der Geschichtsschreibung über einer Statue des Manetho, des Priesters, der die Chronik des Pharaonenreiches verfasst hat. Inzwischen sind es dreitausend Jahre ägyptischer Geschichte, vom ersten König Menes bis zu meinem Bruder und mir.
„…Die Muse Klio trägt eine Papyrusrolle und einen Calamus in der Hand, damit entspricht sie doch der ägyptischen Göttin Seschat, welche die Regierungsjahre jedes Königs aufzeichnet, oder?“, unterhält sich Charmion interessiert mit Khered-Anch, die ihr darauf ebenso leise antwortet: „Ja, das stimmt. Die ägyptische Seschat wird oft mit der griechischen Klio vergleichen. Aber Seschat ist zugleich eine Schicksalsgöttin, eine Moira, die den Anfang und das Ende der Regierungszeit eines jeden Königs festlegt. Deshalb wird sie auch mit der Erntegöttin Thermuthis gleichgesetzt. Letzendlich ist sie ein Aspekt der großen Göttin Isis.“ Das Gesicht der Priesterin ist ehrfürchtig zu dem der Göttin erhoben.
„Gibt es auch eine Entsprechung für Kalliope, die Muse der Rhetorik und epischen Dichtung? Ich muss heute abend ein Gedicht auf dem Symposion der Prinzessin vortragen und brauche dringend göttlichen Beistand“, mischt sich nun auch Sextus in das Gespräch der beiden ein und ich registriere mit einem Seitenblick, wie Khered-Anch zuerst rot anläuft, aber dann überlegt und damit beginnt, ihm schüchtern die Eigenschaften der entsprechenden ägyptischen Gottheiten darzulegen.
Rechts von mir erzählt der Epistates dem König und Caesar gerade eine Anekdote aus der alexandrinischen Zeit des Archimedes, während im Hintergrund Maios‘ Amme leise schimpfend damit beschäftigt ist, die Kinder vom Erklettern des Sockels der Aristoteles-Statue abzuhalten. Lachend reißt Maios sich los und kommt zu mir herübergerannt.
„So, da bin ich wieder!“ Grinsend schaut mein kleiner Bruder zu mir auf und ich kann nicht anders, als zurückzugrinsen und seine Hand zu drücken. Nun wendet auch Caesar seine Aufmerksamkeit wieder mir zu und für einen Moment treffen sich unsere Blicke. "Wollen wir, meine Königin?", fragt er leise. Ich hake mich mit der anderen Hand bei ihm unter und wir folgen dem Epistates und Olympos zum Haupteingang der großen Bibliothek.
Ein Stück des Weges führt uns unter den Arkaden entlang, die uns und unser Gefolge vor dem gleißenden Sonnenlicht schützen. An der zum Garten offenen Seite des Weges wachsen Rosen und Lilien, deren intensiv duftende Blüten von Bienen und Schmetterlingen umschwärmt werden, während wilde Weinreben sich an den Arkaden hochranken und den Gang in ihr schattiges Grün tauchen. Maios ist inzwischen zu Ptolemaios vorgelaufen, der sich mit Olympos und dem Epistates über seine Unterrichtsstunden unterhält. An der Hand Caesars folge ich in einigem Abstand.
Meine Hofdamen und Sextus sind rechts von uns immer noch in ihr Gespräch vertieft: „…Das ist richtig, Tribun.“ Erwidert Khered-Anch gerade auf Sextus‘ Frage und traut sich dabei inzwischen, ihm offen ins Gesicht zu sehen. „Aber soweit ich weiß, ist Kalliope auch die Muse der Philosophie und Wissenschaft. Das sind zwei Aspekte, die sehr eng mit der Göttin Isis und ihrem göttlichen Vater Thot verbunden sind, den die Griechen Hermes Trismegistos nennen…“
„Willst du da nicht eingreifen?“, frage ich Caesar leise mit einem Seitenblick zu den Dreien.
„Aber wieso denn? Sie unterhalten sich doch nur“, meint er gelassen.
„Er flirtet mit ihr!“, flüstere ich.
„Meinst du?“, fragt er spöttisch.
„Das weißt du ganz genau!“
„Er kennt meinen Befehl. Aber auch die Mitglieder meines inneren Kreises versuchen hin und wieder ihre Grenzen auszutesten. Nicht wahr, Kleopatra?“
Der Inhalt seiner Worte dringt glasklar zu mir durch: Julius Caesar zählt mich inzwischen zu seinen Vertrauten, aber beobachtet mich auch genau. Der ewige Taktierer. „Wie kannst du nur bei all dem den Überblick behalten?“
Er schmunzelt. „Ich weiß nicht. Eine göttliche Gabe, vielleicht?“
„Wahrscheinlich von deinen göttlichen Vorfahren Ares und Aphrodite.“
„Wahrscheinlich“, meint er amüsiert, wird dann aber wieder ernst. „Aber ich weiß, dass kein anderer außer mir es vermag. Also muss ich diese Verantwortung tragen und meinen Weg gehen, genau wie du, Kleopatra.“