Meine Brüder stehen zusammen mit unseren Begleitern bereits an der Tür und unterhalten sich mit dem Epistates und Olympos, der nun tatsächlich die Führung übernommen hat. Und so folgen wir dem königlichen Leibarzt durch die Gänge der medizinischen Forschungsräume – vorbei an den Statuen berühmter Ärzte – bis ins sonnendurchflutete Peristyl mit dem Kräutergarten.
Caesar, meine Brüder und ich suchen uns einen schattigen Platz im Schutz der Arkaden, von dem aus wir einen guten Blick auf die gepflegte Gartenanlage haben, während unser Gefolge sich weitläufig verteilt. Olympos sieht sich noch einmal gewichtig um und streicht dabei über seinen kurzen, lockigen Bart, bis er sicher ist, die volle Aufmerksamkeit zu haben. Dann deutet er auf den eingezäunten Bereich inmitten der grünen Beete vor uns. „In jenem abgesteckten Bereich werden hochgiftige Pflanzen wie Schierling und Schwarzes Bilsenkraut angebaut. Ihre Einnahme kann bereits in kleinen Mengen tödlich sein oder zumindest zu schweren Schäden führen. Ich bitte deshalb um entsprechende Vorsicht. Jeder der hier Arbeitenden ist sich der Gefahr des Umgangs mit diesen Giften bewusst. Bei den Pflanzen auf den übrigen Beeten handelt es sich dagegen um Heilpflanzen. Doch manchmal ist der Übergang fließend, denn wie bereits der weise Hippokrates von Kos darlegte, kann das, was uns am Leben hält, uns auch krank machen.“ Olympos deutet auf die Statue des berühmten Arztes, die aus ihrer Nische heraus den Garten überblickt, bevor er fortfährt: „Und so wirken viele dieser Pflanzen in der richtigen Menge als Medizin, in der falschen Menge aber als Gift. Auch die Art der Zubereitung kann entscheidend sein. Ein gutes Beispiel dafür ist der Rizinus“, erklärt er mit gewichtiger Miene und gibt den Zuhörern Zeit, über das Gesagte nachzudenken, während er uns auf dem Weg zwischen den Beeten entlangführt und schließlich neben einigen Rizinussträuchern mit prachtvollen purpurnen Blüten und dunkelgrünen fingerartigen Blättern stehen bleibt. „Rizinus ist überall in Ägypten verbreitet und wächst nach einigen Jahren zu einem hohen Baum heran. Das Öl, das aus seinen Samen gewonnen wird, ist beliebt und kann sowohl als Brennstoff für Lampen, als auch zu kosmetischen und medizinischen Zwecken verwendet werden. Doch hier liegt das Paradoxon: Obwohl das Öl ungiftig ist und wie gesagt sogar heilsame Eigenschaften besitzt, sind die Samen, aus denen es gewonnen wird absolut tödlich.“
„Wie kann es sein, dass das Öl ungiftig ist, die Samen aber hochgiftig!“, fragt Caesar interessiert.
„Das ist eine sehr gute Frage, verehrter Konsul“, antwortet Olympos nachdenklich. „Die naheliegendste Antwort ist, dass das Gift nicht in Öl löslich ist und daher in den Samen verbleibt, selbst wenn man sie auspresst. Doch warum das so ist…dazu gibt es mehrere Theorien.“
Während Olympos diese Theorien ausführt und Caesar noch einige Fragen stellt, durchqueren wir den Garten und passieren mehrere Reihen von Anispflanzen, deren doldenartige kleine Blüten einen intensiven Duft verströmen und von Insekten umschwärmt werden.
„In diesem Teil des Gartens wachsen die Pflanzen, die zur Herstellung des berühmten Mithridatikums erforderlich sind, wie beispielsweise Anis, Fenchel und Kümmel...“, erläutert Olympos mit einem Blick auf die Beete.
„Handelt es sich dabei um dieselbe Rezeptur, die auch am Hof des Mithridates von Pontos verwendet wurde?“, stellt Sextus eine Frage zu dem berühmten Gegengift.
„Ja, unter anderem, Tribun. Aber wir experimentieren hier mit verschiedenen Rezepturen“, räumt Olympos ein. „Als Ausgangsbasis dient das Rezept des Heilgottes Asklepios, wie es von der Priesterschaft seines Tempels auf Kos seit alters her überliefert wird.“
„Unser Vater lebte einige Zeit auf Kos und danach am Hof des Mithridates“, werfe ich ein. „Das Wissen um die Heil- und Giftwirkung von Pflanzen wurde dort intensiv erforscht.“
„Ja, Eure Majestät“, Olympos nickt mir dankbar zu und fährt dann fort: „Euer verehrter Vater hat die Forschung in Alexandria neu belebt. Die Herstellung des Mithridatikums als Antidot und Heilmittel ist ein wichtiger Teil davon.“
„Konnte König Mithridates wirklich jedes Gift trinken, ohne dass es ihm schadete, weil er jeden Morgen Mithridatikum getrunken hat?“, will Maios wissen.
„Tatsächlich behaupten das die Legenden, Königliche Hoheit“, räumt Olympos ein. „Es gibt die Geschichte, er habe dasselbe Gift wie ein zum Tode Verurteilter getrunken. Doch während der Verurteilte starb, hatte das Gift auf König Mithridates nicht die geringste Wirkung. Er war offenbar immun gegen das Gift, deshalb nannte man ihn auch den Giftkönig.“
„Und warum trinken wir es dann nicht?“, will Maios wissen.
„Willst du wirklich jeden Morgen einen Trank mit Entenblut und Krötenfleisch zu dir nehmen?“, meint Ptolemaios abfällig.
„Igitt, das ist da drin?“ Maios verzieht angeekelt das Gesicht.
„Nun ja, in der Rezeptur des pontischen Königs durchaus“, schmunzelt der Arzt. „Aber wie gesagt: die Hauptbestandteile sind Anis, Fenchel und Kümmel. Wir experimentieren hier mit verschiedenen Mischungen und über 60 Zutaten, die teils pflanzlichen, teils aber auch tierischen und mineralischen Ursprungs sind. Die pflanzlichen Bestandteile werden, soweit wie möglich, direkt hier im bibliothekseigenen Garten angebaut.“
Und damit verlassen wir die Hitze des Peristyls und folgen Olympos in den angenehmen Schatten der angrenzenden Räumlichkeiten. Im Herbarium sind zahlreiche Assistenten damit beschäftigt, Kräuter zu waschen und zu trocknen. Eine duftende Wolke ätherischer Öle empfängt uns, als wir die Parfümwerkstatt betreten, wo viele Diener große Destilliergeräte überwachen.
Charmion bleibt bei einem der duftenden Gefäße stehen und lässt sich von einem der Assistenten Parfüm auf die Handgelenke träufeln.
„Diesen Duft nennt man Metopian.[4] Er wird aus Myrrhe, Kardamom, Zimt und Olivenöl hergestellt“, informiert sie Khered-Anch. Die junge Priesterin lässt sich daraufhin ebenfalls eine Probe von dem Öl geben – was die anderen Damen unseres Gefolges dazu animiert, ihrem Beispiel zu folgen.
„Und im folgenden Raum“, erklärt Olympos, als wir die große Statue des Gottes Aeskulap passieren, der von seinen Töchtern Hygiaia und Panakeia umrahmt wird, „befindet sich die Pharmazie.“
Auch hier umweht uns ein Hauch von Zimt, Wein und Myrrhe, der aus großen Kesseln und Destilliergeräten aufsteigt, an denen einige Ärzte experimentieren. Auf langen Arbeitstischen liegen Schalen und Körbe mit Pfeffer, Safran, Petersilie und andere Zutaten, die von Lehrlingen zerkleinert und verarbeitet werden. Unter ihnen sind auch zwei Frauen, in denen ich die Töchter zweier Mediziner erkenne. Eine von ihnen ist Thais, die mir als Hofdame dient, aber heute offenbar nicht zum Dienst eingeteilt ist. Bei unserem Eintreten halten alle inne und verneigen sich respektvoll.
Ein älterer und ein jüngerer Arzt eilen sogleich zu uns und Olympos stellt die beiden vor: „Darf ich Euch den Leiter der Pharmazie Apollonios von Kition[5] und seinen Stellvertreter Sostratos vorstellen! Apollonios ist der Experte für die Herstellung des Mithridatikums und ein Schüler des berühmten Zopyros, der die Rezeptur ursprünglich entwickelt hat. Der junge Sostratos arbeitet gerade an einem Buch über Gift und Vergiftungen.“
„Appollonios, es ist lange her und ich freue mich, dass es Euch gut ergangen ist“, wende ich mich an den Älteren und füge an Caesar gewandt hinzu. „Appollonios hat lange am Hof meines Onkels auf Zypern gelebt und einige medizinische Bücher verfasst.“
„Über welchen Bereich der Medizin?“, fragt Caesar interessiert.
„Über Gelenke und die richtigen Einrenkungsmethoden, sowie über Therapeutika, Imperator.“ Sein aufmerksamer Blick wandert von Caesar zu mir und er schenkt mir ein respektvolles Lächeln. „Ich habe mein erstes Buch Eurem Onkel, König Ptolemaios von Zypern gewidmet, dem ich für die Förderung meiner Forschung bis heute dankbar bin, Majestät.“ Ich nicke freundlich und er wendet sich noch einmal an Caesar: „Daneben gilt mein Forschungsinteresse – und auch das meines Kollegen Sostratos - aber vor allem der Pharmakologie und Chirurgie, Imperator.“
„So ein Wissen ist militärisch von großem Nutzen“, räumt Caesar ein und nickt den beiden Ärzten zu. „Falls Ihr je an einem Feldzug teilnehmen wollt, wärt Ihr mir höchstwillkommen Apollonios und Sostratos. Natürlich nur, wenn unsere verehrte Königin dies gestattet.“, fügt er mit einem charmanten Lächeln hinzu.
„Die Gelehrten des Museions sind frei in ihren Entscheidungen“, entgegne ich diplomatisch. „Selbstverständlich würde Alexandria so einen Verlust bedauern, aber gleichzeitig wäre es für mich natürlich beruhigend, meinen verehrten Patron gut versorgt und in den besten medizinischen Händen zu wissen.“
Caesars Augen funkeln mich belustigt an und ich kann seinen ironischen Kommentar förmlich hören. „So, so, dein verehrter Patron also?“
Der ältere Arzt bedankt sich sichtlich geschmeichelt für das Angebot und fügt dann hinzu. „Ich muss gestehen, dass ich mein Leben der Wissenschaft geweiht habe und mir keinen besseren Ort als das Museion für meine Forschungen vorstellen kann, Imperator.“
„Auch ich bin leider durch familiäre Verpflichtungen an Alexandria gebunden, Imperator“, wendet Sostratos ein. „Doch wenn Ihr erlaubt, würden wir uns gerne mit Euren Militärärzten austauschen und unser Wissen teilen.“
„Das wäre mir sehr recht. Ihr seid willkommen. Mein Militärtribun wird das veranlassen“, fügt Caesar mit einem Blick auf Sextus hinzu, der sogleich aufschaut und aufmerksam nickt.
Es ist interessant zu beobachten, wie schnell Sextus‘ Blick von jungenhaftem Übermut zu militärischer Effizienz und Wachsamkeit wechseln kann. Ist diese unbekümmerte Gelassenheit nur Tarnung, oder macht genau das den römischen Drill aus, den diese Offiziere alle haben? Oder ist es der Respekt gegenüber Caesar, der selbst wenn er so umgänglich und wohlwollend wie heute auftritt, unbestritten der große, mächtige Feldherr ist, vor dessen Namen die ganze Welt zittert?
„Mich würde die Teilnahme an einem Feldzug schon reizen. Doch da mein Vater zu alt ist, bin ich auch für meine jüngeren Geschwister verantwortlich. Meine Schwester Thais kennt Ihr ja bereits, Imperator“, fügt Sostratos entschuldigend hinzu.
Meine Augen huschen zu der jungen brünetten Frau an den Zutatentischen, die bei der Erwähnung ihres Namens ein paar Schritte zurückgewichen ist und verlegen den Kopf senkt. Und plötzlich wird mir siedend heiß bewusst, dass sie eine der Hofdamen war, die an dem Abend mit im Bad waren und bei Caesars Auftreten geflohen sind. Er hat sie nackt gesehen. Wenn auch nur beiläufig. Das hat Thais ihrem Bruder wohl zum Glück nicht erzählt, denn der schaut Caesar voller Heldenverehrung an.
„Vorsicht, Königliche Hoheit! Die Samen des Rizinus enthalten ein starkes Gift!“, reißt Olympos‘ Stimme mich aus meinen Überlegungen. Alarmiert schaue ich den Arzt an, der blitzschnell an die Seite meines kleinen Bruders getreten ist und nun resolut die Hand ausstreckt. Maios legt den Samen erschrocken in die Hand des Arztes.
„Prinz Maios“, erklingt die aufgebracht-ängstliche Stimme seiner Amme, die nun ebenfalls an seine Seite hechtet. Ich habe Euch doch eingeschärft, hier nichts anzufassen!“
„Ich wusste ja nicht, dass das Rizinussamen sind“, verteidigt Maios sich kleinlaut und wirft einen Blick auf die Glasschale auf dem Tisch vor sich, in der noch mehr dieser harmlos glänzenden mandelgroßen Samen lagern.
„Das hat Olympos doch vorhin erklärt!“, meint Ptolemaios besserwisserisch, der sich nun auch an die Seite unseres kleinen Bruders begibt und das Glas missmutig mustert.
„Bitte Majestät, ich habe dem Prinzen eingeschärft, nichts anzufassen.“ Plötzlich höre ich Panik in der Stimme der Amme, die übergangslos vor dem König auf die Knie fällt und mit der Stirn den Boden berührt.
„Mama“, ertönt darauf der Aufschrei eines ihrer Kinder. Und im nächsten Moment sind ihre beiden kleinen Söhne an ihrer Seite und schauen ihren Milchbruder hilfesuchend an. Auf einen Schlag sind alle Gespräche um uns herum verstummt. Die Freunde des Königs beäugen die Szene unbehaglich, während die Männer der königlichen Leibwache mit ausdruckslosen Gesichtern abwarten. In der plötzlichen Stille hört man nur noch das stete Tropfen einer Wasseruhr, das nun in der marmornen Weite des Saals ein bedrohliches Echo erzeugt.
„Sie kann nichts dafür!“, sagt Maios leise und seine kindliche Stimme klingt auf einmal eindringlich und entsetzlich ernst, als er dem König in die Augen sieht.
„Aber sie war unaufmerksam. Es ist ihre Aufgabe, dich zu beschützen, Maios“, sagt Ptolemaios langsam. Seine Stirn ist gerunzelt und er blickt unschlüssig auf die vor ihm kniende Frau herab. „Warum war das Glas überhaupt unbeaufsichtigt?“, wendet er sich dann an Olympos, der nun ebenfalls leicht unruhig geworden ist. Sein Blick zuckt über die zu Stein erstarrten Gehilfen an den Arbeitstischen und verweilt dann einen Augenblick auf Thais. Meine Hofdame ist kreidebleich geworden und hat angefangen zu zittern.
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[4] Bei Metopian handelte es sich um einen Duft, der von der ägyptischen Elite sehr geschätzt wurde: https://www.iflscience.com/archaeologists-recreate-ancient-egyptian-perfume-worn-by-cleopatra-53381
[5] Kition war eine Stadt im Südosten Zyperns und befand sich im Stadtgebiet der heutigen Hafenstadt Larnaka.