Rufio wirkt merklich erleichtert, als er mich heil und unversehrt aus dem Grabtempel meiner Mutter zurückkommen sieht und gibt seinen Legionären sogleich den Befehl, ihre Positionen wieder einzunehmen. Ein kurzer Blick über die Nekropole offenbart mir indes, wo das Gefolge meiner Geschwister sich inzwischen aufhält. Ich tausche einen beklommenen Blick mit Charmion und mache mich dann auf den Weg zu Berenikes Heiligtum – dem Grab meiner älteren Schwester, in dem sie zusammen mit ihrem Gemahl Archelaos ruht.
Vor der Umfassungsmauer der kleinen Anlage wirft mir Rufio einen fragenden Blick zu. Doch ich bedeute ihm, mir mit den anderen durch das Eingangsportal zu folgen, das mit den Abbildungen der drei Schicksalsgöttinnen dekoriert ist – Klotho, die den Lebensfaden spinnt, Lachesis, die ihn vermisst und Atropos, die ihn durchtrennt.
Im Vorhof haben sich viele Mitglieder des königlichen Gefolges um die Opferkapelle versammelt und machen respektvoll Platz, als ich mit meinen Hofdamen und Leibwächtern an ihnen vorüberschreite. Doch mein Blick huscht unwillkürlich zu dem eigentlichen Grabgebäude, dessen schlichte Eleganz selbst im hellen Schein der Sonne eine unheimliche Kälte auszustrahlen scheint. Ich schaudere und wende mich schnell der Kapelle zu, aus der bereits die Stimmen meiner Geschwister zu mir herüberdringen.
„Also ich bin hier fertig und von mir aus können wir aufbrechen. Wenn Kleopatra diese endlos langen ägyptischen Zeremonien veranstalten will, kann sie ja nachkommen“, höre ich die Worte meiner jüngeren Schwester, noch bevor ich die Schwelle übertreten habe. Und im nächsten Moment erblicke ich auch schon Arsinoe, die gerade die Hände ausgestreckt hat, um sich von Nephoris Rosenwasser darüber gießen zu lassen, während Maios etwas abseits wartet und Ptolemaios sich darum bemüht, seinen Hustenanfall zu unterdrücken.
„Dem Weihrauch nach zu urteilen, war die Zeremonie, die du hier abgehalten hast, auch nicht gerade kurz, Arsinoe“, entgegne ich und deute vielsagend auf die Duftwolken, die den gesamten Innenraum der Kapelle durchziehen und die zarten Formen der Sirenen und Moiren auf den Wandmalereien noch blasser erscheinen lassen. Lediglich das sporadische Aufblitzen der vergoldeten Inschriften unterbricht diesen Eindruck einer Nebelwand. Es handelt sich um Trauerverse der Dichterin Erinna, die Arsinoe für die Kapelle unserer Schwester ausgewählt hat.
„An Vaters Grab habe ich dich nicht gesehen“, fahre ich fort. „Hast du wenigstens deine Mutter besucht?“
„Wozu?“ antwortet Arsinoe mit einem Schulterzucken. „Ptolemaios und Maios waren doch da! Wie du weißt, hat meine Mutter ihre Söhne stets bevorzugt. Genau wie unser Vater dich. Und da sie zu Lebzeiten keinen Wert auf meine Anwesenheit gelegt haben, tun sie es im Tode sicher auch nicht.“
„Es geht manchmal nicht nur um die Toten, sondern auch um die Lebenden, Arsinoe“, entgegne ich mahnend. „Deshalb lass dir nicht einfallen, der Feier heute Abend fernzubleiben, nur weil Pompeius vielleicht keinen Wert auf deine Anwesenheit gelegt hätte.“
„Oh, danke, dass ich das von dir auch nochmal zu hören bekomme, edle Schwester! Der König hat mich bereits unterrichtet und einem Befehl Caesars kann ich mich natürlich unmöglich widersetzen!“ Ihre Stimme klingt süß, doch ihre Worte triefen vor Ironie.
„Es ist kein Befehl, sondern eine Sache des Anstands!“, entgegne ich erbost. „Pompeius war lange Zeit unser Patron und dafür schulden wir ihm Respekt.“
„Respekt? Aber natürlich, wenn du meinst! Wollen wir dann endlich gehen?“ Ihre betont zur Schau getragene Langeweile ist eine einzige Provokation und ich muss mich gerade sehr beherrschen, ruhig zu bleiben.
„Natürlich, liebe Schwester!“, erwidere ich bewusst kühl und nicke Charmion, Apollodorus und Rufio zu, woraufhin diese sich mit mir zum Gehen wenden.
~*~
„Wann beginnt ein König eigentlich mit dem Bau seiner Grabanlage?“ fragt Maios, der die bemalten Reliefs der Moiren auf der Mauer betrachtet, während wir darauf warten, dass unsere Gefolgsleute ihre Plätze einnehmen.
„Idealerweise kurz nach der Thronbesteigung“, antworte ich, „da niemand weiß, wieviele Regierungsjahre uns die Götter zugedacht haben. Aber manche Herrscher beginnen damit auch erst später. So wie Ptolemaios und ich.“
„Warum müssen wir überhaupt sterben, wenn wir doch Götter sind?“, bemerkt er mit einem Blick auf Klotho, die eine goldene Spindel in ihren Händen dreht, während Lachesis schon dabei ist, den Faden zu messen und Atropos sich bereitmacht, ihn zu durchschneiden.
Ich überlege kurz, bevor ich antworte: „Auch Götter können sterben, Maios. Weil auch Götter, wenn sie einen materiellen Körper angenommen haben, dem Wandel der Materie unterworfen sind. Aber der Unterschied ist, dass Götter nicht im Tod bleiben, sondern wieder auferstehen, so wie auch Osiris auferstanden ist.“
„Also werden auch wir wiedergeboren, weil wir Halbgötter sind?“, fragt er unschlüssig.
„Ja genau“, mischt sich nun auch Arsinoe in die Unterhaltung ein, „und weil wir Halbgötter sind, will Hades unsere Seelen nicht in der Unterwelt haben, Zeus im Olymp aber auch nicht. Also bleibt uns nur die Erde.“
„Erzähl nicht so einen Unsinn, Maios glaubt das sonst am Ende noch!“ Ich werfe Arsinoe einen mahnenden Blick zu.
„Maios kennt meinen Humor, nicht wahr, kleiner Bruder?“ Und damit zwinkert sie ihm zu und entlockt ihm damit tatsächlich ein Grinsen.
„Aber du solltest auf deine Worte achten, Arsinoe. Du bist bald Königin von Zypern und als solche ein religiöses Vorbild. Wenn du so respektlos über die Götter sprichst, könnte das befremdlich wirken.“
„Weißt du was, Kleopatra: Nicht jede Königin kann so eine erhabene Philosophin sein wie du – oder so ein moralisch-religiöses Vorbild!“ Einen kurzen Moment funkeln wir uns an – nehmen dann aber wieder königliche Haltung an, denn unser Gefolge hat sich inzwischen formiert und ich bin mir der lauernden und neugierigen Blicke um uns herum wohl bewusst. Glücklicherweise setzt sich die Prozession daraufhin in Bewegung und wieder spüre ich ein leichtes Schaudern, als ich Berenikes Grabanlage verlasse – diesmal vor Erleichterung.