Vor uns erhebt sich das Mausoleum unseres Vaters, das auf der rechten Seite vom Totentempel meiner Mutter und auf der linken von vier makedonischen Grabtürmen flankiert wird. Ich war lange nicht mehr hier und für einen Moment wappne ich mich gegen die Bilder der Vergangenheit. Doch der Schmerz der Erinnerung bleibt diesmal aus. Stattdessen sehe ich nur die hellen Farben der Statuen und Gebäude inmitten eines friedlichen Gartens mit Lilien- und Rosenbeeten, die von den laubgrünen Kronen mächtiger Sykomoren voller orangeroter Früchte und rosa blühender Tamarisken beschattet werden.
Hymnischer Gesang klingt von einem der Grabtürme zu uns herüber und bei näherem Hinsehen, erkenne ich die Silhouetten von Arsinoes Hofdamen und Gefolgsleuten im Schatten des Eingangsportals zu Berenikes Opferkapelle. In diesem Moment treten einige ägyptische Priester aus dem Gebäude und kommen uns entgegen. In ihrer Mitte erkenne ich Psenamounis zwischen Pakhom und Pa-Amon-Paeni.
Der Stellvertreter des Hohepriesters des Ptah nähert sich Ptolemaios und mir bis auf wenige Schritte, um sich dann tief zu verneigen.
„Psenamounis, ich freue mich, dich und deine Gesandtschaft so bald schon wiederzusehen“, begrüße ich ihn.
Auch Psenamounis äußert seine Freude über das Wiederzusehen und berichtet dann von seiner Begegnung mit Arsinoe. „Ihre königliche Hoheit hat mich gebeten, sie zu entschuldigen, da die Zeremonie im Heiligtum Eurer verstorbenen Schwester noch andauert.“
Ptolemaios nickt nur gleichmütig und hat sich bereits wieder in Bewegung gesetzt, so dass auch ich ihm in Richtung des Hauptgebäudes folge und Psenamounis einlade, uns zu begleiten, worauf seine Gruppe sich den uns begleitenden Priestern anschließt. Arsinoe drückt sich mal wieder erfolgreich vor ihren Pflichten, allerdings war das Verhältnis zwischen ihr und unserem Vater schon zu Lebzeiten schwierig gewesen.
„Erweist du uns die Ehre, die ägyptischen Opfertexte für unseren Vater zu rezitieren?“, wende ich mich erneut an Psenamounis, als wir das Innere des königlichen Mausoleums betreten und die kühlenden Wände der dicken Steinmauern uns bereits umfangen. „Natürlich, Majestät. Es ist mir eine Ehre.“ Psenamounis bespricht sich leise mit dem Vorsteher der Ahnenpriester über den Ablauf der Zeremonie, während die beiden jungen Priesterinnen den Altar mit Blumen und Opfergaben schmücken und die Wächter damit beginnen, die Öllampen in den Nischen zu entzünden.
Die Bemalung der Kultkammer erstrahlt nach und nach in leuchtenden Blau- und Goldtönen. Griechische Friese werden auf harmonische Weise von ägyptisch gestalteten Darstellungen ergänzt. Und von ihrem Sockel aus ägyptischem Alabaster blickt die monumentale, lebensecht bemalte Statue unseres Vaters würdevoll auf uns herab, während seine eigentliche Grabkammer sich tief unter uns befindet.
„I Anchu tepiu Ta, sewati-sen her is pen – oh ihr Lebenden auf der Erde, wenn ihr vorrübergehen werdet an diesem Grab…“[2], verkünden die Hieroglyphen auf dem Altar und schließen dann mit der Bitte, die Opferformel für den Verstorbenen zu rezitieren und seinen Namen zu nennen: den Sohn der Sonne und Herrn der Kronen, Ptolemaios Neos Dionysos, den von Isis und Ptah geliebten, der ewig leben möge.
Psenamounis reicht mir einem Räucherarm, dessen Griff wie der Kopf eines Falken geformt ist und ich werfe etwas Myrrhe auf die glühenden Kohlen. Der beruhigende Duft steigt mir sofort in die Nase. Ptolemaios opfert indessen Weihrauch, worauf Maios seinem Beispiel folgt. „Ein Opfer, das der König gibt für Osiris-Chontamenti, den Herrn von Busiris, den großen Gott, den Herrn von Abydos und für Isis, die Zauberreiche, die Gottesmutter, die Gebieterin aller Götter und für Anubis, den Herrn des heiligen Landes, den Vorsteher der Gotteshalle, der auf seinem Berg ist…“ Psenamounis hat bereits damit begonnen, die uralten heiligen Worte auf Ägyptisch zu intonieren und die anderen Priester stimmen in seinen monotonen Singsang mit ein, während Ptolemaios mir die Schale mit dem Wasser reicht. „…damit sie geben mögen, tausend Opfergaben aus Brot und Bier, Rindfleisch und Geflügel, Wein, Alabaster und Leinen und allen guten und reinen Dingen, von denen ein Gott lebt…“ Ich gieße etwas von dem Wasser in die dafür vorgesehene Vertiefung auf dem Opfertablett und reiche das Gefäß dann an Maios weiter, während Psenamounis nun die Namen und Titel unseres Vaters und seiner Königinnen rezitiert, um ihre Ba-Seelen anzurufen und ihre Ka-Kräfte gnädig zu stimmen.
Durch den Nebel des nun aus dem Räucherbecken aufsteigenden Weihrauchs hebe ich langsam meinen Blick, der sofort von den schimmernden Kristallaugen der Kultstatue erwidert wird. Einen bangen Moment ist es so, als würde ich meinem Vater selbst in die Augen schauen und wappne mich gegen seinen möglichen Unmut. Doch der Gottkönig blickt weiterhin wohlwollend auf mich herab. Die Statue stellt ihn als idealen Herrscher auf dem Höhepunkt seiner Macht dar, ohne die vertrauten Linien des Alters, an die ich mich erinnere. Und dennoch hat der Künstler so viel von seiner Persönlichkeit eingefangen, dass ich seine Präsenz spüre.
„Vater“, bete ich innerlich. „Ich weiß nicht, ob du mich jetzt sehen kannst und ob du meine Entscheidung gutheißt, aber du warst auch einmal jung und du hast meine Mutter geliebt. Das hast du mir immer wieder erzählt. Ich habe mich für Julius Caesar entschieden und mich mit ihm verbunden. Ich weiß, du hattest stets Vorbehalte gegen ihn. Aber er hat mich gegen Ptolemaios verteidigt und ihn dazu gebracht, sich wieder mit mir zu versöhnen. Caesar ist unser neuer Patron. Und er macht mich glücklich. Bitte hilf mir trotz all dieser verwirrenden Gefühle, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Bitte hilf mir, seine Gunst zu behalten und beschütze mich. Bitte gib uns deinen Segen.“ Ich kann meinen eigenen Herzschlag hören, während ich mit angehaltenem Atem den Blick der kristallenen Augen erwidere, die mir bis ins Innere zu blicken scheinen. Der Blick meines Vaters wirkt weiterhin gütig, aber auch ein wenig… traurig.
Plötzlich ertönt ein Ruf über mir und ich schaue erschrocken zur Decke, wo eine einzelne Schwalbe in hektischen Bahnen die Säulen umkreist. Nein, es sind sogar zwei Schwalben, die sich gegenseitig verfolgen. Oder suchen sie nur einen Ausgang aus diesem Raum, in den sie sich verirrt haben? Beide stoßen dabei aufgeregte Laute aus und absolvieren noch mehrere Runden, bis sie schließlich den Ausgang entdecken, um dann so schnell ins Freie zu entkommen, wie sie hineingelangt sind.
Ptolemaios und Maios starren auf die Türöffnung, in der die Schwalben verschwunden sind. Auch Psenamounis schaut ihnen nach und ich sehe, wie es in seinem Geist arbeitet. Die anderen Priester werfen sich indes unbehagliche Blicke zu.
„Die Schwalben sind Botinnen der Göttinnen Isis und Nephthys. Und beide trauern noch immer um unseren Vater“, deute ich das Zeichen, bevor irgend jemand etwas anderes sagen kann.
„Genau das ist auch meine Deutung“, bestätigt Psenamounis meine Worte und gibt seiner Stimme einen salbungsvoll-beruhigenden Klang, als er noch hinzufügt: „Die beiden Göttinnen stehen darüber hinaus für die beiden Königlichen Gemahlinnen des Pharaos, die zu Lebzeiten nicht immer das beste Verhältnis zueinander pflegten, nun aber aus dem Jenseits gemeinsam über den Pharao wachen, genauso wie über ihre Kinder.“ Und dabei nickt er meinen Brüdern und mir begütigend zu.
„Vielen Dank, Psenamounis“, entgegne ich leise. „Dann ist es jetzt umso wichtiger, diesen Frieden zu wahren und unseren Müttern dafür Respekt zu erweisen.“
Psenamounis nickt noch einmal gewichtig und Ptolemaios wirkt sichtlich erleichtert, bevor er verkündet, nun mit Maios das Grab seiner Mutter besuchen zu wollen. Für einen Moment tausche ich einen Blick mit Psenamounis, der eine der geheimen Gesten der Eingeweihten vollführt und meine unausgesprochene Frage damit beantwortet. Diese Deutung des Zeichens ist nicht die Einzige, die sich anbietet, auch wenn sie so beruhigend erscheint. Eine Schwalbe, die die Säulen eines Tempels umkreist, steht für die Göttin Isis, die Osiris betrauert. Doch auf welchen König sich das Zeichen bezieht – in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft – ist nicht eindeutig. Es könnte sich um eine Warnung handeln – um ein königliches Todesomen.
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[2] Der Aufruf an die Lebenden, frei nach einem Text auf der Stele des Mentuhotep im Fitzwilliam Museum in Cambridge (fitz.E9.1922), zitiert nach: Marc Collier/Bill Manley, Hieroglyphen, S. 113.