»Morgen«, nuschelte ich, als ich morgens in die Küche kam, legte die Packung Aspirin, die ich vorher aus dem Bad geholt hatte, auf den Tisch und fischte mir eine Tasse aus dem Schrank.
»Morgen. Na, hast ’nen schönen Kater?«, fragte Lance schadenfroh.
Statt zu antworten, brummte ich nur, während ich mir Kaffee aus der Kaffeemaschine in den Becher füllte. Sollte er sich doch Neuen kochen, wenn er noch welchen wollte. Ächzend ließ ich mich auf einen der Stühle am Tisch fallen.
Kaum, dass ich saß, fragte Lance: »Was war das heute Nacht eigentlich?«
»War betrunken«, antwortete ich und fummelte zwei Tabletten aus der Packung. Nur zur Sicherheit.
»Willst du etwa behaupten, du kannst dich nicht mehr erinnern?« Es war deutlich zu hören, dass er es mir sowieso nicht glauben würde.
»Schön wär’s.« Aber so gnädig war der Alkohol leider nicht. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie ich in die fremde Wohnung gekommen war oder was wir dort getan hatten und darüber war ich auch sehr froh, aber ich konnte mich noch gut erinnern, wie ich panisch aufgewacht war.
Mit knurrendem Magen betrachtete ich den Speck und die Eier auf Lance’ Teller. Sie sahen richtig gut aus, aber ich wusste, ich würde sie nicht bei mir behalten, also ließ ich sie in Ruhe und schluckte lieber die Aspirin.
»Gut, das macht es leichter. Stimmt es, was Mat gesagt hat? Warst du bei ’nem Kerl?«
Mit einem Grummeln bestätigte ich es. Ich hatte es ja schon am Abend zugegeben, also brauchte ich jetzt auch nicht mehr lügen.
Überrascht sah Lance mir in die Augen. »Dann war’s auch nicht das erste Mal?«
Ich schüttelte den Kopf und legte ihn dann in meine Hände. Fuck, ich wollte da jetzt nicht drüber sprechen!
Doch Lance ließ mich natürlich nicht. »Warum sagst du dann immer, dass du kein Interesse mehr an Männern hast?«
»Weil ich es nicht habe«, knurrte ich. Konnte er das Thema nicht einfach lassen? Es ging ihn doch gar nichts an. Es war meine Sache, mit wem ich schlief!
»Aber du schläfst mit ihnen?« Er ließ es eher wie eine Feststellung, denn wie eine Frage klingen.
»Nur, wenn ich betrunken bin.« Als hätte ich mich ansonsten einem Mann auch nur halbwegs nähern können.
»Das ist gar nicht so selten ...«, stellte Lance überlegend fest. »Also stehst du doch noch auf Männer?«
»Nein!« Ich sprang auf, ließ mich jedoch direkt stöhnend wieder nieder. Scheiß Kopfschmerzen!
Lance wiederholte seine Frage.
Frustriert raufte ich mir die Haare. »Ja, okay! Ja, ich steh noch immer auf Männer! Bist du jetzt zufrieden?«, brach es aus mir heraus.
Einen Moment starrte ich Lance böse an, dann schlug ich die Hände vor den Mund. Scheiße, das hatte ich ihm doch nicht sagen wollen! Jetzt würde er gar keine Ruhe mehr geben.
Eine Weile herrschte Stille, dann fragte Lance vorsichtig, das Unverständnis klang deutlich in seiner Stimme: »Warum lässt du dann jeden abblitzen und verhältst dich dabei wie das letzte Arschloch?«
Ich raufte mir wieder die Haare. »Du hast doch heut Nacht gesehen, was dann passiert!«
»Du lässt dich dann von Zombie abholen?«, fragte Lance verwirrt. »Ich dachte, ihr hättet euch die letzten zwei Jahre nicht gesehen?«
»Haben wir auch nicht. Ich meine die Panikattacke.« Frustriert seufzte ich. Das war doch alles Mist! »Ich bekomm Panik, sobald ich wieder mitbekomme, wo ich bin.«
»Und warum hast ihn dann gestern angerufen?«
»Weil ich nicht mehr wusste, wo ich bin. Ich dachte ... Ich dachte, ich bin wieder bei ihm ...« Ich brauchte eine Weile, bis ich weitersprechen konnte, zu stark waren die Erinnerungen, die an der Oberfläche kratzten. »Ich wusste nur noch, dass Mat mich das letzte Mal da rausgeholt hat. Ich konnte einfach an nichts anderes mehr denken, als dass ich dort wegmusste.«
»Und das hast du dann jedes Mal?«, fragte Lance schockiert.
Natürlich, er hatte bisher lediglich die kleinen Auswirkungen mitbekommen, die mit den Albträumen einhergingen. Von den wirklich schlimmen Anfällen hatte er zum Glück bisher nie etwas mitbekommen.
Vehement schüttelte ich den Kopf und klammerte mich an meine Kaffeetasse. »Nein. Nicht so schlimm. So heftig wie gestern war es noch nie.«
»Und das alles nur wegen ihm?«, fragte Lance vorsichtig nach. Er wusste, dass ich es hasste, darüber zu sprechen. Aber ich verstand auch, dass er im Moment Antworten brauchte. Sonst würde er mich nie mehr in Ruhe lassen und immer auf mich aufpassen wollen. Daher nickte ich. »Warum? Ich versteh es einfach nicht. Ich meine, ich versteh, dass er dir unglaublich wehgetan hat. Aber als du an dem Tag zu mir gekommen bist, hast du kein Wort darüber verloren. Klar, du warst fertig, weil ihr euch gestritten habt, und dann auch noch an deinem Geburtstag, aber du wirktest nicht völlig aufgelöst. Du schienst auch Montag wieder ganz normal, als du zurück nach Hause bist. Und dann ruft mich zwei Jahre später plötzlich Zombie an, weil du völlig aufgelöst bei ihm sitzt. Tut mir leid, dass ich dir erst nicht geglaubt hab, aber ich versteh auch immer noch nicht, warum es dir zwei Jahre später plötzlich so schlecht damit ging und selbst jetzt immer noch geht. Scheiße, Isaac, du hast versucht dich wegen diesem Mistkerl umzubringen!«
»Weil ich ihm geglaubt hab«, flüsterte ich eher zu mir, als zu ihm. Zombie hatte recht, ich hatte Lance lange genug angelogen. Entweder er glaubte mir oder eben nicht. Es gab nur eine Möglichkeit das herauszufinden. »Er hat versprochen, dass es nie wieder passiert.«
Wieder herrschte eine ganze Weile unheimliche Stille, dann flüsterte Lance: »Scheiße.«
Doch jetzt, wo ich einmal angefangen hatte, wollte ich alles loswerden. Es drängte aus mir heraus, wollte endlich erzählt werden. »Er hat sich eine Weile daran gehalten, bis zum Independence Day. Da ist er wieder ausgetickt, weil ich mit ihnen geredet hab.«
»Warum hast du denn nichts gesagt?«, unterbrach mich Lance schockiert. Er schien noch nicht ganz mit dem zurechtzukommen, was ich ihm da erzählte.
»Was hätte ich denn machen sollen?«, fragte ich verzweifelt. Verstand er denn nicht, in welcher Situation ich mich befunden hatte? »Du wolltest mit Janine zusammenziehen, ich wollte dir nicht im Weg stehen. Außerdem die Band. Es wäre rausgekommen, was er getan hat, das ging nicht. Und ich war so ... naiv. Ich hab ihm wieder geglaubt. Er hat gesagt, ich muss mich nur von ihnen fernhalten, dann hätte er keinen Grund. Ich hab es getan, aber ...«
Ich brach ab. Mehr konnte ich ihm nicht erzählen. Nicht, weil ich nicht wollte, ich hätte ihm am liebsten alles erzählt, wenn ich schon dabei war. Aber ich konnte einfach nicht, so stark wurden das Zittern und die Erinnerungen an diese Zeit.
Doch Lance schien es auch so zu verstehen. Er legte eine Hand auf meinen Arm und fragte leise: »Er hat es immer wieder gemacht, oder? Deswegen hast du auch so Angst.«
Leicht nickte ich. »Ja. Ich wusste nie, wann es wieder anfängt.«
»Solltest du dir dann nicht wirklich Hilfe holen?«, fragte er erneut vorsichtig, wusste er doch, dass ich es grundsätzlich ablehnte. Doch ich schüttelte wie immer vehement den Kopf. »Oder ihn wenigstens endlich anzeigen?«
»Nein!« Wie oft hatte ich ihm das jetzt schon gesagt? Ich würde nicht zur Polizei gehen! »Das bringt doch eh nichts! Die lachen mich doch eh nur aus.«
»Schon gut, schon gut«, wiegelte Lance ab und hob abwehrend die Hände. »Nur irgendwas musst du doch machen. Das kann doch nicht ewig so weitergehen.«
»Ich komm schon damit klar, keine Sorge.« Ich wusste, dass es nur halb so überzeugend klang, wie ich es gern gehabt hätte. Ich konnte Lance in der Hinsicht nichts vormachen, dafür hatte ich ihn zu oft mit meinen Albträumen geweckt.
Er seufzte. »Schon gut, du lässt dir ja eh nichts sagen. Wann musst du los?«
»Gar nicht, ich bleib hier. Ich hab höllische Kopfschmerzen.« Ich fummelte noch eine dritte Aspirin aus der Verpackung und spülte sie mit dem letzten Schluck Kaffee herunter. Verdammt, warum wirkten die Dinger nicht?
Lance schüttelte den Kopf. »Ich frag mich, wie du das Studium mit dieser Einstellung bisher geschafft hast. Ich muss jedenfalls los. Räumst du hier auf?«
»Jaja, viel Spaß«, murrte ich unmotiviert.
Nachdem Lance gegangen war, blieb ich noch kurz sitzen, bis ich mich beruhigt hatte, danach ging ich zurück ins Bett. Vielleicht würde der Kater dann verschwinden.