Als ich erwachte, fühlte ich mich völlig matt und erledigt und in meinem Kopf rumorte es. Lange konnte ich nicht geschlafen haben, denn als ich die Augen öffnete, fiel nur wenig Licht durch die Fenster. Außerdem erkannte ich, dass ich bei Toby und Roger war. Ruhig kuschelte ich mich an den Körper hinter mir.
Was hatten wir am Vorabend getrieben, dass ich mich fühlte, als wäre ich von einem Laster überfahren worden? Ich zog die Decke weiter über den Kopf und versuchte, mich an den zurückliegenden Abend zu erinnern.
Nur langsam kamen die Erinnerungen zurück. Ich war in einem Club gewesen und hatte getrunken. Reichlich getrunken! Ja, richtig, ich hatte getrunken, weil mich schon wieder dieses elende Verlangen geplagt hatte. Das Verlangen nach einem Mann. Ich hatte gehofft, wenn ich ihm nachgab, hätte ich wieder eine Weile Ruhe.
Aber warum war ich hier? Ich erinnerte mich, gemeinsam mit einem wirklich gutaussehenden, tätowierten Braunhaarigen getrunken zu haben. Gut Ersteres – und eventuell auch Letzteres – würde auf den Kerl, der gerade hinter mir lag, auch zutreffen, aber dennoch war ich nicht dort, wo ich sein sollte.
Eine Weile versuchte ich, weitere Erinnerungsfetzen aufzusammeln. Dann fiel es mir wieder ein: Toby hatte sich eingemischt und den Kerl vertrieben, als wir fahren wollten. Danach hatte er mich ins Taxi gesetzt und mit zu ihnen geschleppt.
Mit einem wütenden Schnauben stand ich auf. Was fiel ihm eigentlich ein?! Ich war doch kein Kind mehr! Er sollte sich um seinen eigenen Scheiß kümmern!
Ich sammelte meine Sachen vom Boden und zog mich an.
»Morgen, Kleiner. Musst du schon los?« Er öffnete verschlafen die Augen und streckte sich.
Ich blickte nur kurz böse zu ihm, dann zog ich mich schnell weiter an.
Sein Blick wurde verwirrt und er richtete sich auf. »Was ist los?«
»Nichts«, gab ich patzig zurück. Ich schnappte mir die restlichen Klamotten und wollte damit das Zimmer verlassen.
Doch Toby fing mich auf halber Strecke ab, indem er aufstand und sich mir in den Weg stellte. Er umfasste meinen Oberarm, als ich an ihm vorbei stürmen wollte. Kurz sah er mir in die Augen und sofort wirkte er besorgt. Zärtlich streichelte er mir über die Wange. »Hey, du hast doch was. Was ist los?«
Ich riss mich los und schrie ihn an: »Nichts ist los! Misch dich nicht immer in meine Angelegenheiten!«
»Hey!«, wurde er jetzt ebenfalls lauter. »Ich will nur wissen, warum du hier rumstampfst wie ein wütender Stier. Wenn du sauer auf mich bist, dann würde ich auch gerne wissen, warum! Immerhin bin ich gerade erst aufgewacht und hab keine Ahnung, was ich dir getan haben soll.«
»Du hast mich hergebracht. Und jetzt lass mich los!« Was sollte diese unsinnige Fragerei? Ich wollte einfach nicht hier sein und damit fertig! Er hatte kein Recht, sich einzumischen.
Ich versuchte, mich aus Tobys Griff zu winden, doch er ließ nicht los. »Sag mal, spinnst du? Ich hab dich hergebracht, weil dich irgendein Arschloch abgefüllt hat und mit nach Hause schleppen wollte. Und der wollte sicher nicht nur kuscheln.«
»Ich weiß! Und es geht dich nichts an, mit wem ich ficke! Ich bin erwachsen und kann das selbst entscheiden!« So weit käme es noch, mir von ihm sagen zu lassen, was ich durfte und was nicht! Die Zeiten hatte ich hinter mir. Nie wieder würde ich jemand anderem diese Entscheidung überlassen.
»Du hast recht. Komm gut nach Hause.« Augenblicklich ließ Toby mich los und senkte den Kopf etwas. Er sah aus, als hätte ihn jemand geschlagen. Nach einem kurzen Blick in Richtung Wecker schob er neutral hinterher: »Du solltest dich beeilen, die nächste Bahn geht in zehn Minuten.« Dann ließ er mich stehen und begab sich ins Bad.
Ich starrte die geschlossene Badtür an. Warum war er jetzt das Opfer? Er hatte sich doch in meine Angelegenheiten eingemischt, die ihn nichts angingen! Es war allein meine Entscheidung, mit wem ich fickte! Er hatte da gar nichts zu melden!
Ich zog mich fertig an und machte mich auf den Weg in den Flur. Während ich mir die Schuhe anzog, grummelte ich weiter vor mich hin. Ja, ich hatte ihn um Hilfe gebeten, hatte gehofft, dass er mir half, mich anderen Männern wieder zu nähern. Das gab ihm jedoch noch lange nicht das Recht, mich zu bevormunden. Wir waren kein Paar! Wir hatten ja noch nicht einmal miteinander geschlafen! Wir ... »Scheiße!«
Natürlich! Er hatte alles Recht der Welt, wütend auf mich zu sein! Schnell kickte ich die Schuhe wieder von meinen Füßen. Ich war so ein Idiot!
Ich lief zurück ins Schlafzimmer. Kurz blieb ich an der Badezimmertür stehen. Mein Stolz wollte mich hindern, doch ich schluckte ihn herunter. Gerade war er völlig fehl am Platz. Während ich an die Tür klopfte, fragte ich leise: »Toby?«
Das »Komm rein« war mindestens genauso leise, aber vorhanden. Als ich die Tür öffnete, stand Toby am Waschbecken und putzte sich die Zähne.
Ich atmete einmal tief durch und ging dann mit gesenktem Kopf zu ihm herüber. Nach einem kurzen Zögern legte ich ihm die Hand auf den Rücken. »Es tut mir leid.«
Er spuckte die Zahnpasta aus, wusch sich den Mund, trocknete sich ab und drehte sich dann zu mir um. Noch immer stand dieser enttäuschte und verletzte Blick in seinen Augen. »Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast ja recht. Es ist allein deine Entscheidung, wenn du mit jemandem mitgehen möchtest. Ich sollte mich da nicht einmischen.«
»Aber ich versteh, warum du deswegen böse bist.« Ich ging einen Schritt auf ihn zu und entfaltete langsam seine Arme, die er vor der Brust verschränkt hatte, um mich dann daran zu kuscheln. Ich wollte seine Nähe, wollte spüren, dass er mich trotzdem noch mochte.
»Das freut mich. Aber das gibt mir trotzdem kein Recht dazu, mich einzumischen. Magst du mir trotzdem eine Frage beantworten?«
Ich nickte und drückte mein Gesicht fester gegen seine Brust. Am liebsten hätte ich ihn gern versöhnlich auf das Schlüsselbein geküsst, aber ich traute mich noch immer nicht. Stattdessen strich ich zärtlich darüber.
Toby drückte mich jedoch leicht weg. »Hör auf, Isaac. Ich will in Ruhe mit dir reden und nicht kuscheln.«
Ich senkte den Kopf und wurde direkt wütend auf mich. Ich wollte ja auch nicht kuscheln, sondern nur, dass er mir verzieh. Scheinbar war es noch immer ein Reflex, mich körperlich anzubieten, wenn ich ein schlechtes Gewissen hatte, in der Hoffnung, ihn damit besänftigen zu können. Bei meinem Ex hatte es ja immerhin auch ab und zu funktioniert. »Tut mir leid.«
»Du musst dich deswegen nicht entschuldigen. Ich möchte nur wissen, warum du so wütend auf mich bist. Ich dachte, ich tu dir einen Gefallen. Ich dachte, du bist so betrunken, dass du nicht einmal mehr merkst, was er von dir will. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er dir nicht irgendwas ins Getränk getan hat, weil du so weggetreten warst.«
»Ich wollte aber zu ihm«, gab ich leise zu.
»Warum?« Toby sah mich mit einem traurigen Ausdruck in den Augen an.
Ich schluckte und machte mir klar, dass das keine Eifersucht, sondern Unverständnis war. Er wusste nicht, wie er die Situation einschätzen sollte. Wenn ich wollte, dass er es verstand, dann musste ich mich ihm erklären, auch wenn es schwerfiel.
Doch damit ich das konnte, brauchte ich etwas Halt. Vorsichtig ging ich auf ihn zu und und ließ mich in den Arm nehmen. Diesmal war es nicht, um nach Verzeihung zu heischen, sondern weil ich die Sicherheit brauchte. Ich schmiegte einfach nur den Kopf an und ließ die Arme hängen. »Ich bin noch immer nicht so weit. Ich hab noch immer Angst. Aber mich quälen ständig Fantasien, die ich einfach nicht loswerde. Wenn ich mit einem Kerl schlafe, hab ich eine Weile Ruhe. Ich weiß, dass ihr das nicht machen würdet, wenn ich betrunken bin. Aber anders geht es nicht. Darum war ich gestern in dem Club.«
»Was für Fantasien?« Vorsichtig streichelte er mir über den Rücken. Offensichtlich verstand er zumindest, dass ich seine Nähe brauchte, wenn er schon nicht meinen Gedanken folgen konnte.
Kein Wunder, konnte ich auch nicht. Sie waren schon wieder ganz woanders. Das sanfte Streicheln, Tobys Geruch, seine warme Haut und mein noch immer leicht vernebelter Kopf ließen erneut Bilder entstehen. Eben jene Bilder, die erst dazu geführt hatten, dass ich überhaupt in den Club gegangen war.
Ich wusste, wenn ich aufsah, würde ich seinen braunen Augen begegnen, die mich zärtlich ansahen, auch wenn er mich gerade nicht verstand. Dabei wollte ich doch nichts anderes, als ihn zu küssen und zu streicheln, ihm dabei zu sagen, dass es mir lieber wäre, meine Fantasien nüchtern mit ihm zu teilen, statt mich zu betrinken. Danach könnte er mich einfach vorsichtig aus dem Bad und zum Bett drängen, um dort ...
Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte die Vorstellung ab. Nein, ich würde direkt Angst bekommen.
Als ich die Augen öffnete und nach oben schaute, sah Toby noch immer abwartend auf mich herab. Das war genau der Blick, den ich erwartet hatte. Ich schluckte, schloss noch einmal kurz die Augen, dann streckte ich mich ihm langsam entgegen. Das Verlangen war gerade größer als die Angst. Er kam mir etwas entgegen, doch nur so viel, dass es wohl eher unbewusst geschah.
Obwohl sich unsere Lippen nur für einen ganz kurzen Moment berührten und noch nicht einmal wirklich aufeinanderlagen, zuckten etliche Blitze durch meinen Körper. Leise flüsterte ich: »Sowas zum Beispiel.«
Toby sah etwas überrascht, aber nicht abgeneigt aus. Ich hatte mich nicht wirklich weit entfernt, daher konnte ich mich gleich darauf noch einmal an ihn drücken. Diesmal hatte er auch Zeit, den Kuss zu erwidern.
Unwillkürlich schloss ich die Augen. Das war schön! Nicht nur ›ganz angenehm‹-schön, sondern ›ich will mehr davon!‹-schön. So ganz anders als die betrunkenen Küsse am Abend zuvor, die einfach nur deshalb entstanden waren, weil ich eben betrunken war. Diese hier wollte ich. Nicht erst jetzt, sondern schon so lange. Ich wollte nicht direkt wieder darauf verzichten.
Immer wieder trafen sich unsere Lippen, bis wir beide leicht den Mund öffneten und sich unsere Zungenspitzen berührten. Sofort schoss mir das wohlige Gefühl, das sich in meinem Körper ausgebreitet hatte, in die Lenden.
Doch statt weiter zu machen, drückte Toby mich mit einem leichten Lächeln von sich. Dem aufgewühlten Ausdruck in seinen Augen nach zu urteilen, war es ihm nicht viel anders ergangen. »Putz dir mal die Zähne, danach kannst du mir gern mehr über deine Fantasien erzählen.«
Einerseits wollte ich schmunzeln, andererseits war mir das aber auch ziemlich peinlich. Er hatte ja recht, vermutlich roch und schmeckte ich nach einer Mischung aus Aschenbecher und Wodkapulle.
Ich bekam noch einen kurzen Kuss auf die Wange, dann ließ Toby mich im Bad allein, damit ich meine dringend benötigte Morgentoilette erledigen konnte.
Als ich ins Schlafzimmer zurückkam, hatte Toby sich aufs Bett gesetzt und die Beine mit der Decke bedeckt. Etwas unschlüssig stand ich da und sah zu ihm. Warum war er wieder ins Bett gegangen?
Er lächelte leicht, rutschte nach unten, bis er lag und hob dann die Decke etwas an. »Magst du herkommen?«
Wie hätte ich diesen verführerisch klingenden Worten Widerstand leisten sollen? Ich zog mich bis auf die Unterhose wieder aus, an der Klamottenregel hatte sich in den letzten Jahren schließlich nichts geändert. Dann legte ich mich etwas zögerlich daneben. Es war ja schön und gut, dass wir uns geküsst hatten, ich bereute es auch nicht, aber dennoch war ich nicht sicher, was er sich jetzt erwartete.
Toby zog mich jedoch direkt an sich und raunte mir ins Ohr: »So, dann erzähl mal, was das für Fantasien sind, die dich so sehr quälen.«
Ich schluckte und drehte ihm den Rücken zu. Ich wollte es ihm erzählen, aber ansehen konnte ich ihn dabei nicht. Das war mir unglaublich peinlich. »Manchmal hab ich plötzlich Bilder im Kopf. Ziemlich versaute Bilder ... von Männern. Dinge, die ich mich aber nicht traue zu tun. Also nicht nüchtern.«
»Was für Dinge genau?« Toby hatte sich von hinten an mich gekuschelt und streichelte über meinen Arm.
»Zum Beispiel vom Küssen.« Die Stille sagte mir, dass er noch mehr erwartete. Leise sprach ich weiter: »Oder vom Streicheln ... oder ... Sex ...«
»Also ganz normale Sexfantasien?« Toby klang bei der Frage ziemlich ungläubig.
Zögernd nickte ich.
»Und was ist daran so schlimm? Gut, du traust dich nicht an Männer ran, aber warum sind die Sexfantasien so schlimm?«
»Ich werde sie nicht los. Sie kommen immer wieder! Egal wie häufig ich versuche, mich abzulenken. Außer eben, ich erfülle sie, dann hab ich eine Weile Ruhe.« Ich kuschelte mich etwas weiter ins Kissen. Es war mir so peinlich, das zugeben zu müssen.
»Hast du dir schon mal einen dabei runtergeholt?«
Sofort riss ich die Augen auf und schüttelte panisch den Kopf. Dann ließ ich jedoch den Kopf hängen und nickte leicht. Wem versuchte ich denn hier etwas vorzumachen?
»Und?«
Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte, aber er klang nicht danach, als würde er sich an dem Gedanken aufgeilen. Es wirkte eher, als wollte er mir wirklich helfen. Also antwortete ich ihm ehrlich, wenn auch sehr leise. »Es war gut.«
Leise lachte er und gab mir einen Kuss auf den Hinterkopf. »Freut mich. Aber das meinte ich nicht. Ist es besser geworden?«
»Ja, ein wenig.«
»Warum machst du es dann nicht einfach öfter, wenn es hilft?«
»Es hilft nicht lange. Und manchmal hab ich selbst dabei Angst«, murmelte ich ins Kissen. »Er hat mich mal dabei erwischt. Ich weiß, dass es scheiße ist, mich so volllaufen zu lassen, immerhin geht es mir danach ziemlich mies, aber was soll ich denn sonst machen? Ich würde ja gern mit euch ... aber ich kann einfach nicht. Schon bei dem Gedanken hab ich Angst. Ich weiß nicht, was ich sonst machen soll.«
Nachdenklich grummelte Toby, dann herrschte Stille. Doch sie war nicht unangenehm. Unablässig streichelte er über meinen Arm und meine Schulter, bis mir langsam die Augen zufielen.
»Wir gehen, und ich nehm Dich an der Hand.
Wir gehen, und ich nehm Dich ...
Behüte Dich in Deinem Schlummer.
In Deinem Schlummer.
Und ich bringe Dir mein Herz als Opfer dar.
Und ich bringe Dir ...
Bewahr Dich vor allem Kummer!
Vor allem Kummer!«
ASP – Duett (Minnelied der Incubi)