Vier Tage später stand ich am Hinterausgang des Cash und zog an meinem Joint. Auch wenn ich mittlerweile eigentlich ganz gut wusste, wie viel Gras gut war, half es diesmal so überhaupt nicht. Meine Nerven wollten sich einfach nicht beruhigen. Ich trat von einem Fuß auf den anderen.
Noch eine Weile blieb ich draußen, bis ich doch etwas heruntergekommen war, dann schnappte ich mir meine Tasche und klopfte an die Tür.
Aaron öffnete und begrüßte mich. Wir machten kurz am Tresen halt, wo er mir eine Flasche Wasser reichte, dann ging es weiter zum DJ-Pult. Wir unterhielten uns über die Neuerscheinungen des letzten Monats und er zeigte mir die neuesten Errungenschaften. Es war einfacher, kurzer Smalltalk.
In der Zwischenzeit trafen auch die anderen Mitarbeiter ein. Kurz bevor der Club öffnete, richtete ich noch meine letzten Sachen her. Von mir aus konnte es losgehen.
Lance war wie versprochen unter den ersten Gästen und kam direkt zu mir ans Mischpult. »Na, alles klar? Aufgeregt?«
»Etwas, ja, aber es wird schon. Moment ...« Ich legte kurz ein paar Titel in die Schleife und ging dann mit ihm zur Bar. »Aber danke, dass du da bist.«
Nach einem Drink und einem kurzen Gespräch mit ihm, ging ich zurück an meine Arbeit. Ich mochte den Job. Da ich für Lance’ und mein Projekt sowieso aktuell bleiben musste, solange wir keine eigenen Lieder hatten, war es kein großer Aufwand und ich erfuhr durch die Gäste, die sich Lieder wünschten, was gerade beliebt war. Außerdem kam ich zwanglos mit ihnen in Kontakt.
Seltsamerweise störten mich während der Arbeit auch andere Männer nicht so stark. Vermutlich weil ich hier einfach Samsa war. Und das war auch der Plan gewesen, als ich die SMS geschrieben hatte. Wenn ich hier unbeschwerter mit fremden Männern umgehen konnte, vielleicht konnte ich dann auch einem, dem ich vertraute, näherkommen.
Allerdings war ich mir gar nicht sicher, dass er überhaupt kommen würde. Mich hatte noch am selben Abend der Mut wieder verlassen, sodass ich die Einladung zurückgenommen hatte. Am nächsten Morgen hatte ich ihn erneut eingeladen. Nur, um ihn dann wieder auszuladen. Das ging einige Male hin und her. Der letzte Stand war, dass ich ihm gestern Abend gesagt hatte, dass er nicht kommen sollte. Aber er hatte, außer auf die erste, auf keine einzige Nachricht geantwortet, daher wusste ich gar nichts. Und das machte mich noch nervöser.
Gegen Neun sah ich dann den blonden Riesen in der Menge auftauchen. Lächelnd kam er auf mich zu.
Ich lächelte zurück und gab ihm ein Zeichen, kurz zu warten. Nachdem ich alles vorbereitet hatte, bedeutete ich Aaron, dass er ein Auge auf das Mischpult haben sollte und ich kurz Pause machte. Dann ging ich auf Toby zu. Etwas unschlüssig stand ich vor ihm. »Hey, danke, dass du gekommen bist.«
»Hallo Kleiner. Kein Ding. Ich konnte doch keine Einladung von dir ausschlagen.« Er lächelte und umarmte mich dann kurz. Erleichtert stellte ich fest, dass er nicht auf das Hin und Her einging. »Wie lange hast du denn Zeit?«
»Ich kann immer mal wieder kurz weg. Aber viel Zeit hab ich leider tatsächlich nicht. Sorry. Wollen wir was trinken?«
»Schon gut, du hast mich ja vorgewarnt.« Gemeinsam gingen wir zur Bar und setzten uns. Mit einem offenen Lächeln fragte er: »Noch immer Wodka-O?«
Ich nickte und Toby bestellte für uns. Gemeinsam tranken wir, wobei er mich musterte. Vermutlich hoffte er, dass ich das Gespräch eröffnete. Doch ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Mein Kopf war wie leergefegt. Da kam es mir nur recht, dass ich nur eine kurze Schleife vorbereitet hatte. Eilig verabschiedete ich mich und ging wieder zurück an meinen Arbeitsplatz.
Toby blieb an der Bar und beobachtete mich beim Arbeiten. Doch nach fünf Minuten entdeckte er zum Glück meinen besten Freund und ging zu ihm hinüber. Wie es aussah, unterhielten sich die beiden prächtig.
Kurz beschlich mich die Angst, Lance könnte zu viel von mir verraten, doch ich verdrängte sie. Er wusste, dass ich nicht darüber reden wollte und der Meinung war, dass es niemanden etwas anging. So weit ich wusste, hatte er immer seine Klappe gehalten. Ich hoffte, dass er nun nicht meinte, er würde mir damit helfen.
Da die Angst immer mehr überhandnahm, je länger ich die beiden beobachtete, machte ich früher als geplant wieder Pause. Nach einem kurzen Abstecher zur Bar, um mir noch einen Wodka für den Mut zu holen, ging ich zu ihnen.
Beide lächelten mich an, wobei sich Lance entschuldigte, er müsste aufs Klo, sobald ich angekommen war. Scheinbar wollte er Toby und mir etwas Zeit verschaffen, allein miteinander zu reden.
»Netter Club, kannte ich gar nicht«, begann Toby nun doch das Gespräch und ersparte uns weiteres peinliches Schweigen.
»Dachte ich mir schon. Hier wird nur donnerstags unsere Musik gespielt, an den anderen Tagen gibt es dann jeweils andere Richtungen.« Während ich sprach, musterte ich ihn. Das hatte ich mich bei unserem letzten Treffen nicht wirklich getraut, doch nun wollte ich es nachholen.
Er hatte sich in den letzten Jahren kaum verändert, noch immer war er muskulös und seine blonden Haare kurzgeschnitten. Und sein Lächeln war noch immer unglaublich charmant, trotz des kantigen, maskulinen Gesichts. Verdammt, er war mittlerweile Mitte Dreißig und immer noch außerordentlich attraktiv!
»Ah, das erklärt’s. Ich bin ja sonst nur am Wochenende unterwegs«, erklärte er mit einem leichten Lächeln.
»Sollte ich mich jetzt geschmeichelt fühlen, dass du trotzdem hier bist?«, versuchte ich mich an einem schüchternen Scherz. Bewusst hielt ich mich davon ab, direkt wieder verlegen zu Boden zu sehen. Nein, ich wollte mit ihm reden, die Situation auflockern und nicht einen auf verschrecktes Hühnchen machen. Vorsichtig grinste ich ihn an und drehte mich ihm etwas weiter zu.
»Solltest du. Immerhin konntest du dich nicht mal entscheiden.« Ich war froh, dass er mir zuzwinkerte und sein Ton kein bisschen vorwurfsvoll geklungen hatte.
Während er schelmisch grinste, löste er seine Hände von seiner Hüfte. Einen Moment hatte ich das Gefühl, seine rechte Hand würde in meine Richtung zucken, doch dann verschränkte er die Arme vor der Brust und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, wandte sich dadurch ein wenig von mir ab.
Paradoxerweise beruhigte mich diese eigentlich ablehnende Gestik, denn ich kannte ihn. Hätte ihn wirklich etwas gestört, hätte er es mir ehrlich gesagt. Ich wusste nicht, warum er es dennoch tat, aber ich vermutete, dass er nur versuchte, sich etwas von mir abzugrenzen.
Schlagartig wurde mir klar, dass man meine Aussage auch als Flirtversuch sehen konnte. Hatte ich versucht, mit ihm zu flirten? Nervös schluckte ich. Zumindest nicht bewusst. Aber eigentlich ... Er hatte gesagt, es ginge in meinem Tempo und ich wusste, dass ich ihm vertrauen konnte. Er hatte seinem Reflex, mich anzufassen, nicht nachgegeben. Gab es also einen Grund, nicht wenigstens noch ein wenig weiter harmlos zu flirten? Solange der Alkohol und der Joint noch etwas Wirkung zeigten.
Mit einem unschuldigen Blick sah ich zu Toby auf. »Kann ich das denn irgendwie wieder gutmachen?«
Das Funkeln in seinen warmen, braunen Augen und das kurze Hüpfen seines Adamsapfels sagten mir, dass mir seine erste Idee früher sicher gefallen hätte.
Sofort hatte ich den Drang, meine Aussage zurückzuziehen. Doch mein Stolz hinderte mich. Nein, ich würde nicht kneifen! Ich hatte das begonnen, ich wollte das auch zu Ende bringen. Wenn mir seine Antwort nicht gefiel, konnte ich ihm das immer noch sagen.
Doch Toby ließ sich Zeit mit der Antwort, schien nach einer jugendfreien Variante zu suchen. Ich war ihm unglaublich dankbar dafür, dass er instinktiv zu merken schien, dass ich vor jeglicher körperlicher Annäherung zurückschreckte. Womit hatte ich es eigentlich verdient, dass jemand so Rücksichtsvolles trotz allem noch immer mit mir befreundet sein wollte?
Erst nachdem er gründlich darüber nachgedacht hatte, antwortete Toby mit einem leichten Lächeln: »Du könntest mich beim nächsten Mal wieder einladen.«
»Geht klar«, antwortete ich mit einem glücklichen Lächeln. Das war eine wirklich gute Idee! »Ich leg jeden dritten Donnerstag im Monat hier auf. Du, ich muss wieder zurück. Wie lange wolltest du bleiben?«
»Um Zwölf muss ich zurück. Ich will den letzten Zug bekommen.« Er wirkte ein wenig enttäuscht, dass ich ihn wieder stehenließ, sagte aber nichts dazu. Ich hätte es ja auch nicht ändern können.
»Dann sehen wir uns gleich nochmal. Und danke dir nochmal für den Drink.« Noch einmal lächelte ich ihn an und streckte die Hand nach seinem Oberarm aus. Doch schon im nächsten Moment zog ich sie zurück. Nein, ich konnte ihn nicht anfassen! Ich hätte gern, doch ich spürte gleichzeitig Angst in mir aufsteigen bei dem Gedanken. Nein, noch nicht.
Entweder hatte Toby davon nichts mitbekommen oder er wollte nichts davon zeigen. Jedenfalls wünschte er mir lediglich weiterhin viel Spaß bei der Arbeit und ging dann zurück zu Lance, wo er scheinbar direkt wieder das Gespräch von vorher aufnahm.
Ich ging zum Mischpult zurück und sortierte die neu eingegangenen Musikwünsche, redete mit den Gästen, die in der Nähe standen, und machte meine Arbeit. Dennoch hatte ich weiterhin immer ein Auge auf Lance und Toby. Verdammt, dieser Kerl war so unglaublich attraktiv!
Jahrelang hatte ich behauptet, nichts von Männern zu wollen. Aber sobald er wieder in mein Leben trat, nahm ich andere Männer wieder als attraktiv wahr? Oder lag es an meiner Entscheidung, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen?
Ich wusste es nicht, aber es war vermutlich egal. Es war gut so. Ich hatte mit einem Mann geflirtet, ohne betrunken zu sein oder Panik zu bekommen. Es waren nur zwei Sätze gewesen und kein wirklich ernsthafter Flirt, aber es war ein Anfang.
In der nächsten Pause ging ich wieder zu Lance und Toby, die sich noch immer prächtig unterhielten. Ich stieg in das Gespräch ein, bis ich weiterarbeiten musste, wagte aber keinen weiteren Flirtversuch. Für einen Abend war das genug Fortschritt.
Bevor Toby ging, kam er noch einmal zu mir ans Mischpult und verabschiedete sich wieder mit einer kurzen Umarmung. Das war in Ordnung. Es war nur ein ganz kurzer Körperkontakt und nicht mehr als eine freundschaftliche Geste.
»My soul feels empty
I’m drowning in my tears
It’s pain I’m learning
My heart is aching
Got poison in my veins
In hell I’m burning«
Xandria – Save My Life