Als Laura mir die Tür öffnete, sah ich sofort, dass sie vermutlich die ganze Nacht und den ganzen Tag durchgeweint hatte. Ihre Augen waren völlig verquollen. Hoffentlich hatte sie sich den Tag freinehmen oder krankschreiben lassen können.
Wäre es vielleicht doch besser gewesen, ihr mein wahres Ich an einem anderen Tag zu zeigen? Dann, wenn sie am nächsten Tag freigehabt hätte? Nach den Monaten des Schweigens hätten die paar Tage vermutlich auch nichts ausgemacht und sie hätte weniger Probleme wegen mir bekommen. Aber nun war es zu spät, es war passiert, sie hatte es gesehen, ich konnte es nicht mehr rückgängig machen.
»Hi«, grüßte ich möglichst neutral, wollte mir nicht anmerken lassen, wie sehr es in meiner Brust stach, sie so zu sehen. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, sie gewiegt und ihr ins Ohr geflüstert, dass alles wieder gut wurde. Doch das würde es nicht. Nicht solange ich in ihrem Leben war. »Darf ich reinkommen?«
Sie nickte nur und trat zur Seite. Eigentlich war die Frage auch überflüssig. Immerhin hatte ich mich angekündigt. Am Nachmittag hatte ich endlich den Mut gefunden, mich ihr zu stellen und ihr eine Nachricht geschrieben, dass ich am Abend meine Sachen abholen würde.
Ich ging direkt ins Schlafzimmer durch, ignorierte die schwarze Katze, die freudig maunzend um meine Beine strich. Natürlich, sie konnte ja nicht wissen, was ich ihrem Frauchen angetan hatte.
Laura folgte mir, blieb aber in der Tür stehen und beobachtete mich, wie ich meine Sachen zusammensuchte.
Ich vermied es, zu ihr zu sehen. Ihr Anblick tat weh und es kostete mich einiges an Kraft, sie nicht einfach beschützend in den Arm zu nehmen.
Als ich einen Pullover, den Donna bereits vor einem halben Jahr zu ihrem Lieblingsliegeplatz auserkoren hatte, vom Stuhl nahm, entwich Laura ein herzzerreißendes Schluchzen. Ihre Stimme klang brüchig, als sie sprach: »Woll... Wollen wir nicht darüber reden?«
»Was gibt es da zu reden?«, fragte ich möglichst ruhig, dann wagte ich es doch, aufzusehen. Es war feige, sie nicht einmal anzusehen. Ich sollte wenigstens sehen, wie sehr ich sie verletzte, so viel war ich ihr schuldig.
»Warum hast du das gemacht?« Ihre Stimme zitterte verdächtig und die ersten Tränen bildeten sich in ihren Augen.
Ich schwieg. Was sollte ich ihr denn sagen? ›Weil ich wollte‹? Ich war zwar ein Arschloch, aber nicht so eines. Nein, wenn ich ihr eine Antwort darauf gab, dann eine vernünftige. Nur hatte ich keine Ahnung, wie diese ausfallen sollte. Ich wollte ihr nicht noch mehr wehtun.
»Bitte rede doch wenigstens mit mir«, bat sie. Sie flehte nicht, sondern bat. Das war gut. Sie sollte sich nicht daran festklammern, sich nicht so erniedrigen. Als ich noch immer nicht antwortete, fragte sie: »Wer war das? Wer war diese Frau?«
Ich zuckte nur mit den Schultern, schüttelte dann den Kopf. Ich wusste es nicht, hatte sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt. Warum auch? Sie war mir nicht wichtig und hatte ihren Zweck erfüllt. Dennoch konnte ich Laura dabei nicht in die Augen sehen.
Laura schniefte, dann fragte sie: »Warst du betrunken?«
»Nein«, raunte ich mit belegter Stimme. Sie hatte es nicht verdient, angelogen zu werden. Nicht mehr, als ich es im letzten Jahr sowieso schon getan hatte. Das musste ein Ende haben, ich musste endlich Verantwortung übernehmen.
Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als ihr bewusst wurde, dass ich es mit voller Absicht getan hatte, dass es kein betrunkener Ausrutscher war, dass ich nicht einmal versuchte, das zu leugnen. Sie erstickte das Schluchzen in ihrer Kehle. »Warum dann? Warum hast du sie geküsst?«
Hilflos schüttelte ich den Kopf. Ich konnte es einfach nicht erklären, mir fehlten die richtigen Worte dazu.
Verzweifelt fragte sie: »Warum sagst du nichts? Wir können doch darüber reden. Ich weiß nicht, warum du das gemacht hast, aber nur weil du einmal ...«
Weiter kam sie nicht, da ich sie direkt unterbrach. »Es war nicht nur einmal.«
»Was?«, fragte sie, schien nicht sicher, ob sie mich richtig verstanden hatte. Ihre Augen hatten sich fast schon ängstlich geweitet.
Ich hob den Kopf, sah ihr wieder in die Augen. Ich musste das hier endlich beenden, durfte sie nicht auch noch mit meinem Schweigen bestrafen. Sie konnte nichts dafür. »Es war nicht nur einmal.«
Sie wollte etwas sagen, doch dann verschlug es ihr offensichtlich die Sprache. Mit offenem Mund starrte sie mich an, während Tränen über ihre Wangen rollten. Erst nach einigen Augenblicken fand sie wieder Worte. »Wie oft?«
Ich zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf. Schon wieder. »Keine Ahnung.«
Weitere Tränen rannen über ihr Gesicht, vergrößerten das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen. Doch das konnte – durfte! – ich nicht. Ich hatte mir geschworen, ihr nichts mehr vorzumachen, und das hätte nur ihre Hoffnung genährt. Eine Hoffnung, die ich sofort wieder hätte zerstören müssen. Das hier machte mir zu deutlich, dass sie mich für jemanden hielt, der ich nicht war.
Erneut entrang sich ein ersticktes Schluchzen ihrer Kehle. »Wie viele? Seit wann?«
»Viele. Ich zähle nicht mit.« Noch immer bemühte ich mich um einen ruhigen Ton.
Doch dies schien nun zu viel. Sie nahm die Hand vor den Mund, begann zu zittern und setzte sich aufs Bett. Eine Weile schluchzte sie vor sich hin.
Am liebsten hätte ich mich von ihr abgewandt, wäre gegangen, aber ich konnte nicht, wollte sie nicht alleine lassen.
»Ich ... Ich versteh das nicht«, flüsterte sie irgendwann, sah aber nicht wieder auf. »Ich dachte ... wir sind zusammen ...«
Ich schwieg. Ihr wurde wohl auch so gerade klar, dass ich das anders sah.
Plötzlich riss sie den Kopf hoch, sprang auf und auf mich zu. Mit schreckgeweiteten Augen stand sie vor mir, schrie mich an: »Du Schwein! Du hast mit diesen ganzen Frauen geschlafen und dann hast du ... Du hast ... Hast du überhaupt darüber nachgedacht? Ich dachte, du wärst anders. Du hast immer auf mich geachtet, wolltest anfangs unbedingt Kondome. Mit wie vielen hast du ohne geschlafen? Wie vielen hast du etwas vorgespielt?«
»Es tut mir leid, ich weiß, das hätte nicht passieren dürfen. Das erste Mal ... Es war nicht geplant, ich wollte es dabei belassen. Aber du hast dich so gefreut. Ich konnte einfach nicht Nein sagen«, versuchte ich zu erklären. Dieser verletzte Blick tat so weh. Das war nie mein Ziel gewesen, ich hatte ihr doch nie wehtun wollen! Ich hatte sie immer nur glücklich machen wollen. »Aber du bist die einzige ... Wirklich ... Ich hab das mit keiner anderen gemacht.« Vorsichtig streckte ich die Hand nach ihr aus. Der Drang sie zu trösten wurde zu groß.
Doch sie trat einen Schritt von mir zurück. »Fass mich nicht an. Du bist ein Lügner!«
»Das stimmt nicht. Ich hab dich nie angelogen«, rechtfertigte ich mich. Sicher, sie hatte guten Grund, mir alles Mögliche vorzuwerfen. Aber das gehörte nicht zu den Dingen, die ich mir vorwerfen lassen musste. Auch wenn es wohl im Gegensatz zu allem anderen nur wenig Gewicht hatte.
»Du hast nie etwas von anderen Frauen gesagt! Ich dachte, du l...«
»Ich hatte Angst«, gestand ich. Verwundert sah sie mich an. Doch ich achtete nicht weiter darauf, die Worte mussten heraus. »Am Anfang war es für mich ein Spiel, ich wollte die Frau überzeugen, die mir nicht glaubte, dass ich Samsa bin, wollte eine Frau rumkriegen, die nicht nur deswegen mit mir ins Bett steigt. Du warst die erste seit Jahren, die ich damit nicht beeindrucken konnte. Das hat mich fasziniert. Und dann hab ich dich wirklich kennengelernt. Wenn ich dir gesagt hätte, dass es da noch andere gibt ... Ich wollte dich nicht verletzen. Du hättest es nicht verstanden.«
»Stimmt, ich versteh es nicht. Wenn ich dir wirklich etwas bedeute und du mich nicht verletzen wolltest, warum hast du dann weiter mit anderen Frauen geschlafen? Du hättest doch einfach nur aufhören müssen.«
Da, das war der Beweis. Sie konnte es nicht verstehen. Enttäuscht schüttelte ich den Kopf. »Ich kann nicht. Ich hab es versucht, mehrmals, aber ich kann es nicht.«
»Warum hast du nichts gesagt? Wir finden eine Lösung dafür. Zusammen.« Sie kam näher, legte mir sanft die Hand auf die Wange.
Automatisch legte ich den Kopf dagegen. Ich wollte diese Nähe. Vielleicht konnte sie es doch akzeptieren? Das klang gut, oder?
»Ich bin mir sicher, es gibt Möglichkeiten das zu heilen. Du musst nicht ewig ...«
Schockiert riss ich die Augen auf und zog den Kopf weg. »Ich bin nicht krank!«
»Aber es muss doch einen Grund dafür geben, wenn du nicht aufhören kannst. Das ist doch nicht normal.« Erneut versuchte sie, mich zu streicheln, doch ich hielt ihre Hand fest.
Kopfschüttelnd und mit großen Augen sah ich sie an. Verstand sie es denn nicht? »Ich will nicht ›geheilt‹ werden! Ich fühl mich gut so, wie es ist. Die Frauen gehören zu mir, ich mag es, zu flirten, sie zu erobern. Ich mag das Spiel, das Risiko, sie ins Bett zu bekommen oder eben auch nicht.«
»Wozu brauchst du die? Reicht es nicht, wenn dich eine liebt?« Traurig sah sie mir in die Augen, wollte mit der anderen Hand nach mir greifen. »Geliebt werden ist doch viel wichtiger als ein paar schnelle Nummern, oder nicht? Wir könnten glücklich werden. Isaac, ich liebe dich!«
Einen Moment sah ich sie geschockt an, dann brach ich in Gelächter aus.
Verletzt und erschrocken zugleich sah sie mich an.
Dann spie ich ihr verächtlich entgegen: »Wie willst du jemanden lieben, den du nicht kennst? Du kennst Isaac nicht, du hast ihn nie gesehen! Du kennst nur Samsa, nur den Mann, den du in mir sehen willst. Du weißt gar nichts über mich!«
»Das ist nicht fair! Du erzählst auch nie was!« Bockig sah sie mir entgegen, während ich noch immer ihre Handgelenke festhielt, damit sie mich nicht anfasste.
Die Lust nach ihrer Nähe war mir vergangen. Sie konnte mich nicht so akzeptieren, wie ich war, bezeichnete mich als krank. Das tat weh! Und gleichzeitig bestätigte es, was ich schon zuvor gewusst hatte. Sie kannte mich eben nicht, konnte mich also gar nicht lieben. »Wie kannst du dann behaupten, mich zu lieben?«
»Weil ich weiß, dass du ein unglaublich einfühlsamer Mensch bist. Dir geht es oft nicht gut, das weiß ich, trotzdem bist du immer für mich und für deine Freunde da. Du willst niemanden verletzen. Und du magst mich auch, das weiß ich. Warum wehrst du dich so dagegen? Zu lieben und geliebt zu werden ist etwas Schönes. Warum lässt du es nicht zu?«
»Du sagst, du liebst mich, und trotzdem möchtest du, dass ich mich ändere?«, fragte ich fast schon gehässig. Sie sollte diesen Unfug lassen, sie konnte mich gar nicht lieben! Niemand konnte das. Zumindest nicht mein wirkliches Ich.
»Ich will dich nicht ändern. Wenn du unbedingt andere Frauen brauchst, ist das okay. Aber glaub mir, wenn du dich wirklich auf diese Gefühle einlässt, dann brauchst du die nicht mehr. Lass mich dir zeigen, dass richtige Liebe viel schöner ist als irgendwelche billigen Flittchen.«
Die Worte setzten etwas in mir frei, ließen meinen Verstand in den Hintergrund treten. Ich hatte sie so oft gehört. Nicht aus ihrem Mund, nicht mit genau diesen Worten, aber die Bedeutung war dieselbe.
Ich packte ihre Handgelenke fester, drängte sie in Richtung des Bettes. Wütend fauchte ich: »Du liebst mich? Du liebst Isaac? Soll ich dir zeigen, was Liebe für mich bedeutet?«
Erschrocken sah Laura mich an, wandt sich in meinem Griff. »Aua! Hör auf, du tust mir weh!«
»Ich lass mich nicht einsperren! Entweder du liebst mich, wie ich bin, oder du tust es nicht! Es gibt kein ›Wenn du ...‹. Ganz oder gar nicht!« Mit einem wütenden Funkeln in den Augen ließ ich sie los. Ich hatte nicht vor, ihr wirklich wehzutun. Ich wollte nur, dass sie begriff. Noch einmal würde ich das nicht mitmachen.
Völlig entgeistert sah sie zu mir auf, während sie sich erneut aufs Bett setzte und sich die Handgelenke rieb. »Was ist in dich gefahren? Isaac, wa...«
»Nenn mich nicht so!«, fauchte ich sie an. Sie wusste ganz genau, dass Lance der Einzige war, der das durfte, dass ich es hasste, so genannt zu werden.
Sie stöhnte genervt, während ihr Blick sich verhärtete. »Ich bin nicht eine deiner billigen kleinen Affären, die dich nicht kennen!«
»Doch, bist du«, spuckte ich ihr entgegen. Was bildete sie sich eigentlich ein? Sie wusste gar nichts über mich. »Würdest du mich kennen, würdest du mich nicht so nennen. Dann hättest du von meinen ›billigen kleinen Affären‹ gewusst. Selbst die wissen, dass sie mir nichts bedeuten, dass sie nur eine von vielen sind.«
Nur für einen kurzen Moment zeigte ihr Gesicht, wie sehr meine Aussage sie verletzte, dann kam die Wut zurück. »Verpiss dich, du mieses Schwein!«
»Jetzt hast du es verstanden«, murmelte ich. Nach einem letzten kurzen Blick zu ihr drehte ich mich um, schnappte mir meine Tasche und verließ die Wohnung, ließ sie in ihrer Welt zurück, die nicht zu meiner passen wollte. So gern ich das auch geglaubt hätte.
»Ich bin’s nicht
Der die Sterne dir vom Himmel holt
Ich bin’s nicht
Der in deinem Herzen wohnt«
Zeraphine – Lass mich gehen