Stille. Es war vollkommen ruhig.
Nur langsam sickerte die Erkenntnis zu mir durch, dass ich allein war. Er war gegangen, hatte mich einfach liegen lassen. Ich wusste nicht, wohin er verschwunden war oder wann. Es war egal. Wichtig war nur, dass ich wieder atmen konnte. Doch die Tränen liefen noch immer über mein Gesicht, wollten nicht versiegen. Noch immer war ich wie gelähmt, konnte nicht begreifen, was passiert war.
Plötzlich wehte ein leichter Windhauch über meinen vollkommen unterkühlten Körper.
Wie lange hatte ich dort gelegen?
Schritte näherten sich, dann wurde die Matratze neben mir von einem Gewicht heruntergedrückt. Die Stimme war nur ein leises Flüstern: »Isaac?«
Ich konnte nicht antworten, hätte mich am liebsten totgestellt. Stocksteif blieb ich liegen, hoffte, dass er einfach wieder ging.
Doch er tat es nicht. Noch einmal flüsterte er meinen Namen, dann legte sich eine Hand zögerlich auf meinen Rücken.
Als wäre das das Zeichen für meinen Körper gewesen, sich wieder zu regen, sprang ich auf und rückte von ihm ab. Mit schreckgeweiteten Augen sah ich ihn an. Auch wenn mein Kopf es noch nicht ganz verstanden hatte, mein Körper spürte die Schmerzen und reagierte. »Fass mich nicht an!«
Wie geschlagen zuckte er zusammen, schloss kurz die Augen. Nachdem er sie wieder geöffnet hatte, beugte er sich zu mir und wollte erneut nach mir greifen. »Isaac, es ...«
Weiter ließ ich ihn nicht kommen. Ich sprang auf und rannte ins Bad. Laut knallte ich die Tür hinter mir zu und fummelte den Schlüssel ins Schloss. Erst nachdem ich ihn zweimal herumgedreht hatte, ließ ich mich auf den Klodeckel fallen und senkte den Kopf in meine Hände.
Erneut rannen die Tränen über meine Wangen, als langsam auch mein Geist verstand, was passiert war. Er hatte mich benutzt, sich meines Körpers ermächtig.
Mein ganzer Körper schmerzte. Nein, vermutlich war es nur ein kleiner Teil, der in alle anderen Regionen abstrahlte. Er hatte ...
Die Türklinke wurde heruntergedrückt und leicht an der Tür gerüttelt. Dann erklang seine Stimme flehend von der anderen Seite: »Isaac, bitte, komm raus.«
Ich reagierte nicht. Zu sehr war ich in meinen Gedanken gefangen. Er hatte mich ... Mein eigener Freund ... Er hatte mich ...
»Isaac, bitte!« Ich hörte, wie etwas stumpf gegen die Tür fiel. Nach einem Moment erklang wieder seine Stimme, diesmal fast weinerlich. »Isaac, bitte komm raus! Bitte! Es tut mir leid!«
Seine Stimme wühlte mich noch mehr auf. Immer wieder hörte ich seine wütenden Worte in meinem Kopf: »Widerlicher Lügner! Miststück!«
Ein erneutes, leiseres »Isaac, bitte.« ließ mich vollständig die Fassung verlieren. Die ganze Wut, die sich in den letzten Minuten – Stunden? – unbemerkt angesammelt hatte, brach aus mir heraus. »Verschwinde! Lass mich in Ruhe! Ich will dich nicht mehr sehen!«
»Isaac ...«, erklang es noch einmal leise von der anderen Seite. Dann erneut »Es tut mir leid«, bevor die Türklinke losgelassen wurde.
Ich horchte eine ganze Weile, doch es war wieder still geworden. Noch immer weigerte sich mein Geist, vollständig anzuerkennen, was ihm mein Körper signalisierte. Doch im Moment war es mir egal. Ich musste weg!
Ich erhob mich von meinem Sitzplatz und sank direkt wieder in die Knie.
Auf dem Deckel befanden sich die eindeutigen Spuren. Nur einige wenige Flecken, doch sie stachen in meine Augen. Kleine, milchig-weiße Flecken, die von einem Hauch Rot durchzogen waren.
Mir wurde übel und um nicht hineinzufassen, flüchtete ich in die Dusche.
Nachdem ich mich beruhigt hatte, beschloss ich, die Spuren des Geschehenen von meinem Körper zu waschen, bevor ich verschwand. Ich blieb lange dort, seifte mich mehrmals ein und spülte mich immer wieder ab, bis ich endlich das Gefühl hatte, die meisten Spuren beseitigt zu haben. Nur die Schmerzen wurde ich dadurch nicht los.
Bevor ich das Bad, vollständig in ein großes Handtuch gehüllt, verließ, sah ich mich vorsichtig um und horchte. Doch von ihm war nichts zu sehen oder zu hören. Die Schlafzimmertür stand noch offen und schnell huschte ich hinein. Zügig zog ich mich an und packte weitere Klamotten in meinen Rucksack, der schon für das Wochenende gepackt war. Dann suchte ich mein Handy im Bett und steckte es tief in meine Hosentasche.
Auch im unteren Bereich der Wohnung war nichts von ihm zu hören oder zu sehen. An der Tür sah ich, dass seine Schuhe verschwunden waren. Dennoch verzichtete ich darauf, meine Gitarre aus dem Probenraum zu holen. Das würde ich ein anderes Mal erledigen. Im Moment wollte ich ihm nicht begegnen.
Und so zog ich einige Sekunden später die Haustür hinter mir zu. Fest entschlossen, nie wieder zurückzukehren. Niemals wieder wollte ich dieses Monster sehen.
Ich schlug die Augen auf und kniff sie noch im selben Moment wieder zusammen. Warum? Warum verfolgte mich dieser Traum noch immer? Warum war ich wieder zurückgegangen? Wie hatte ich so naiv sein können?
Wütend über mich selbst ließ ich den Kopf auf das tränennasse Kissen fallen. Noch einen Moment blieb ich liegen, bevor ich mich erhob, um ins Bad zu gehen.
Nur noch wenige Tage, dann waren genau fünf Jahre vergangen. Dennoch verfolgte es mich. Und je näher der Jahrestag rückte, desto klarer wurden die Träume. So war es jedes Jahr. Doch dieses Jahr kam es mir noch schlimmer vor. Verfluchte Therapie! Sie hatte viel zu viel an die Oberfläche gespült.
Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, sie abzubrechen. Doch auch nach eineinhalb Monaten hatte ich es nicht geschafft, Mister Grant zu erzählen, was passiert war. Je mehr er nachbohrte, je weiter wir uns dem Problem näherten, desto schlechter ging es mir, desto intensiver wurden die Albträume. Ich traute mich nicht, ihm davon zu erzählen, befürchtete, dass er nachfragte, bis ich ihm erzählte, welchen Inhalt die Albträume hatten. Irgendwann war ich einfach nicht mehr hingegangen, weil ich es nicht mehr aushielt und eine Pause brauchte. Doch auch in der Woche danach ging ich nicht, weil ich mich schämte, nicht hingegangen zu sein.
Ich hatte meine Chance verpasst und es mal wieder versaut. Was auch sonst? Darin war ich schließlich gut.
Vor zwei Wochen hatte ich es erneut versucht, bei einem anderen Psychiater, da ich Mister Grant nicht mehr unter die Augen treten konnte. Doch sobald ich auch nur erwähnte, dass ich einen Exfreund hatte, biss er sich daran fest und versuchte mir zu erklären, dass meine Homosexualität an meinen Problem Schuld sei und geheilt werden müsse. Ohne ein weiteres Wort hatte ich die Praxis verlassen. Nein, mit dem Thema Psycho-Doc war ich durch!
Als ich an der Schlafzimmertür vorbeikam, die wie immer nur angelehnt war, konnte ich mir einen Blick nicht verkneifen. Ich beneidete sie. Noch nie hatte ich mitbekommen, dass einer von ihnen in der Nacht von bösen Träumen geplagt wurde. Sie sahen im Halbdunkel so friedlich aus. Dabei erkannte ich nicht mehr als einen breiten Rücken, der der Tür zugewandt war. Ich konnte nicht ausmachen, wem er gehörte. Von dem zweiten Mann war nichts zu sehen. Vermutlich schlief er seelenruhig in den Armen seines Freundes.
Ein leises Schluchzen entrang sich meiner Kehle.
Gerade als ich mich abwandte, um ins Gäste-WC zu verschwinden, rührte sich die große Gestalt. Langsam rollte sie auf den Rücken und wandte den Kopf in meine Richtung. Tobys ruhige Stimme trug das Flüstern bis zu mir: »Isaac?«
Schnell hastete ich ins Bad. Er sollte meine Tränen nicht sehen! Sie wussten zwar, dass ich eine Pause von der Therapie machte, jedoch hatten sie keine Ahnung, wie schlecht es mir wirklich ging. Zuerst hatte ich ihnen verschweigen wollen, dass ich nicht mehr dorthin ging, doch dann war mir klar geworden, dass sie es irgendwann bemerken würden. Und dann hätten sie mir erst recht ihre Hilfe versagt. Also hatte ich mit ihnen geredet und gesagt, dass mich die Therapie stark aufwühlte und ich daher eine Pause brauchte. Begeistert waren sie nicht gewesen, aber sie hatten es akzeptiert. Immerhin merkten sie selbst, dass ich zwar bei ihnen Fortschritte zeigte, es mir aber ansonsten schlechter ging.
Nachdem ich mich etwas beruhigt und mir das Gesicht gewaschen hatte, trat ich zurück in den Flur. Als plötzlich eine Stimme direkt neben mir erklang, schrak ich zurück.
»Ist alles okay?«
Ein paar Mal atmete ich tief durch, um mein Herz zu beruhigen, dann antwortete ich: »Ja.«
Toby trat aus der Tür zum Schlafzimmer heraus und strich mir durch die Haare. »Bist du sicher? Es klang, als hättest du geweint.«
»Nein, alles ...«
»Isaac, lüg mich nicht an!« Er war nicht lauter geworden, seine Stimme war dennoch schneidend.
Sofort senkte ich den Kopf. »Tut mir leid ... Ich hab nur schlecht geschlafen.«
Tobys Finger vergruben sich weiter in meine Haare, während er mich sanft an seine Brust zog.
Bereitwillig ließ ich mich dagegen fallen. Die Wärme und Geborgenheit, die er ausstrahlte, beruhigten mich und trieben mir gleichzeitig die Tränen in die Augen.
Ich wollte nicht schon wieder heulen! Wütend wischte ich mit dem Handrücken über mein Gesicht.
»Wieder Albträume?«, fragte er und streichelte über meinen Rücken.
Verwundert versuchte ich, ihm ins Gesicht zu sehen. Warum wieder? Er und Roger hatten doch schon lange nichts mehr davon mitbekommen. Abgesehen davon, dass ich bei ihnen deutlich seltener welche hatte, hatte ich es meistens geschafft, sie vor ihnen zu verstecken. Zumindest hatte ich das bisher geglaubt.
»Glaubst du, ich merke nicht, dass du zur Zeit wieder mehr Albträume hast? Kleiner, was ist los?«
Energisch schüttelte ich den Kopf und schlang meine Arme fest um seinen Oberkörper, als er sich von mir lösen wollte. Nein, er sollte dableiben!
Leise seufzte er. »Ist gut.«
Lange hielt er mich im Arm und streichelte über meinen Rücken. Irgendwann fielen mir die Augen zu und ich ließ mich ganz in seine Umarmung fallen. Am liebsten hätte ich einfach so geschlafen. Doch irgendwann schob er mich leicht von sich. Ich murrte etwas, was ihn zu einem kurzen Lachen verleitete.
»Warte kurz.« Er ließ mich los und huschte zurück ins Schlafzimmer, wo er aufs Bett kletterte und Roger sanft küsste und streichelte, bis dieser sich regte. Ich verstand nicht genau, was er flüsterte, nur, dass es dabei um mich ging.
Roger murrte kurz und drehte sich auf den Rücken. Sein Kopf bewegte sich in meine Richtung, dann nickte er. »Komm her, Kleiner.«
Toby hob die Decke an und schlüpfte darunter. Dann sahen beide in meine Richtung.
Noch bevor ich mich wirklich dazu entschlossen hatte, trugen mich meine Beine schon auf sie zu. Erst als ich vor dem Bett stand, zögerte ich. War das eine gute Idee? Sollte ich wirklich bei ihnen schlafen? Das war doch völlig verrückt!
Doch als Toby etwas von Roger abrutschte und dieser die Decke anhob, war aller Zweifel wie weggefegt. Schon die Vorstellung, zwischen ihnen zu liegen, löste in mir ein wohliges Gefühl aus. Noch einmal fasste ich allen Mut, dann krabbelte ich zu ihnen ins Bett.
Sobald ich lag, bettete Roger die Decke über mich und drehte mir dann den Rücken zu.
So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt ... War er böse auf mich?
Doch ich hatte keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, denn Toby breitete ebenfalls seine Decke über mich und drängte sich näher an mich. Dadurch ließ er mich bis an Roger heranrücken. Da ich dennoch nicht wusste, wie dieser für mein Eindringen empfand, wandte ich mich lieber seinem Freund zu.
Toby streichelte kurz über meine Wange, dann legte er den Arm um mich. »Hoffentlich kannst du so besser schlafen.«
Gegen seine Brust gedrückt nickte ich. Ja, das würde ich. Auch wenn Roger sich von mir abwandte, bildeten sie dennoch gemeinsam einen Schutzwall, der mir das Gefühl gab, dass mir niemand etwas antun konnte, solange sie da waren.
Ich murmelte ein leises »Danke«, dann schloss ich die Augen.