»Boston ist ja doch echt cool, wenn man nicht gerade wie du im letzten Drecksloch lebt«, stellte Steve am späten Abend fest. Nachdem er den Vormittag bei einem Meeting verbracht hatte, hatte ich ihm am Nachmittag die Stadt gezeigt. Da wir beide danach noch sehr energetisch waren, hatten wir uns dafür entschieden, ins Rainbow zu gehen.
Empört schlug ich ihm gegen die Schulter. »Was soll das heißen: Drecksloch?«
»Dass das Viertel, in dem du wohnst, auch bei Tag nicht gerade einladender aussieht als bei Nacht. Wie kannst du da nur leben?«
»Es ist günstig. Außerdem ist es nur halb so schlimm, wie es aussieht. Man muss halt wissen, wo man hingehen kann und wo nicht. Du willst mir doch nicht erzählen, dass es bei euch in der Stadt keine gefährlichen Ecken gibt?«
»Doch schon. Dennoch muss ich da keine Angst haben, dass mir aus Versehen Kugeln um die Ohren fliegen. Außer ich geh in den Wald und werde für ein Reh gehalten.«
Ich lachte, stieß ihn noch einmal gegen die Schulter und ließ dann meinen Kopf dagegen fallen. »Du bist blöd.«
»Ich weiß.« Er strich mir kurz über den Nacken, dann beugte er seinen Kopf etwas herunter, bis wir uns küssen konnten.
»Und solche Clubs gibt’s bei euch wirklich nicht?«, fragte ich nach einigen weiteren Küssen.
Er zuckte mit den Schultern. »Vermutlich schon, aber ich würde nicht reingehen. Ich hätte viel zu viel Angst, dass mich jemand sieht.«
Nachdenklich nickte ich. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es war, das geheimzuhalten. Ich hatte noch nicht einmal darüber nachgedacht, ob ich das jemals versuchen wollen würde. »Wäre das denn so schlimm, wenn es jemand erfährt?«
»Ich will es nicht ausprobieren. Wie gesagt, es ist eine kleine Stadt. Sobald so jemand wie meine Mutter das mitbekommt, weiß es die ganze Stadt. Und es gibt genug Leute, die ein Problem damit hätten, dass ich schwul bin. Und sobald ich mich als schwul oute, steht jeder, mit dem ich zu tun habe, unter Generalverdacht. Darauf hab ich keine Lust.«
Seufzend nickte ich. Ich hatte ja selbst schon das ein oder andere Mal schwulenfeindliche Kommentare abbekommen, ich konnte also verstehen, dass man das nicht wollte. Bei Toby und Roger hatte ich immerhin auch schon mal bemerkt, wie schnell sich Gerüchte in einem kleinen Viertel verbreiteten. Dabei war Medford im Gegensatz zu Steves Wohnort vermutlich noch groß.
»Magst du eigentlich die ganze Zeit nur rumsitzen oder gehen wir tanzen? Ich muss das doch ausnutzen, mal so richtig mit einem Mann tanzen zu können.«
Ich lachte, nahm ihn an der Hand und zog ihn zur Tanzfläche. Nichts leichter als das. Ein paar Mal war ich immerhin wieder hier gewesen und hatte mir ein wenig was abgeschaut von den anderen, auch wenn die Musik noch immer nicht meinem Geschmack entsprach.
Wenn ich jedoch geglaubt hatte, dass wir anregend miteinander tanzen würden, wurde ich massiv enttäuscht. Steve sprang eher wie ein Gummiball über die Tanzfläche und zog mich dabei mehr oder weniger mit. Als er noch klein war, hatte Dave auch immer so getanzt. Doch Steve schien das so viel Spaß zu machen und er lachte ausgelassen, dass es mich ansteckte. Ich konnte einfach nicht ernst bleiben und lachte mit und über ihn.
Nach drei Liedern wurde mir das aber doch zu doof und ich zog ihn fest an mich. »Jetzt halt mal still und tanz richtig mit mir!«
Er lachte lauthals und drückte sich von mir weg. »Ich kann überhaupt nicht tanzen.«
»Dann lass dich führen. Versuch, dich zu bewegen wie die anderen, und ich lenke das in die richtige Richtung. Vertrau mir einfach.«
Einen Moment sah er mich nachdenklich an, dann nickte er. Er kam wieder in meine Arme und flüsterte mir ins Ohr: »Na gut, aber dann will ich auch ganz eng tanzen.«
Ich legte eine Hand auf sein Steißbein, die andere etwas höher und bewegte mich dann zur Musik, wartete, ob er darauf reagierte, und als er sich ebenfalls halbwegs rührte, lenkte ich ihn durch sanften Druck mit meinem Körper in die Richtung, in die ich ihn haben wollte. Es war sicher alles andere als elegant, was wir veranstalteten, und sexy war es schon einmal gar nicht, aber es war witzig, weil es sich sehr schnell zeigte, dass er wirklich kein Talent zum Tanzen hatte. Daher beließ ich es auch bei diesem einen Tanz und bedankte mich dann mit einem langen Kuss.
»War’s das schon mit meiner Tanzstunde?«, fragte er gespielt enttäuscht. Um dass es echt sein könnte, grinste er viel zu breit.
»Ja, das war die Probestunde. Für mehr musst du bezahlen.«
»Oh und wie bezahlt man dich? Mit Naturalien? Oder reicht auch Alkohol?«
»Als Anzahlung nehme ich gern erstmal Alkohol.« Ich nahm seine Hand und ging mit ihm von der Tanzfläche. »Ich sicher uns dort vorne mal einen Platz.«
»Ist gut.« Er zog mich an der Hand noch einmal heran und küsste mich, dann trennten sich unsere Wege.
Ich steuerte besagten Tisch an. Es war, soweit ich sehen konnte, der einzig Freie, daher musste ich schnell sein, bevor ihn jemand anders entdeckte.
Im ersten Moment grinste ich, als sich eine Hand von hinten auf meine Schulter legte, doch als ich mich umdrehte, merkte ich schnell, dass die Person viel zu groß war. Erschrocken sah ich auf. »Roger! Was machst du hier?«
»Das könnte ich dich auch fragen. Aber um es kurz zu machen: Ich wollte mich ein wenig amüsieren. Und wie ich sehe, bist du auch schon fündig geworden. Glückwunsch, da hast du also den nächsten, dem du etwas vormachen kannst.«
Einen Moment starrte ich ihn einfach nur an. »Was?«
»Wie auch immer, ich wollte mich nur eben bedanken. Bis gerade habe ich noch die irrationale Hoffnung gehabt, dass du es mit uns vielleicht doch ehrlich gemeint haben könntest, aber scheinbar brauchst du uns ja jetzt nicht mehr. Ich wünsche dir viel Erfolg.«
»Roger! Warte doch mal! Verdammt, lass mich mit dir reden!« Ich wollte ihn an der Hand festhalten, doch er zog sie weg. Ohne ein weiteres Wort ließ er mich stehen.
Ungläubig starrte ich ihm nach. Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Er kam nur zu mir, um mir so etwas an den Kopf zu werfen? Was war nur mit ihm los? Das passte überhaupt nicht zu ihm.
»Was ist? Hast du einen Geist gesehen?«
Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass Steve schon wieder da war, daher brauchte ich einen Moment, bevor ich den Kopf schütteln konnte.
»Aber irgendetwas ist doch? Du siehst nicht gut aus?«, hakte er nach und legte einen Arm um mich. »Na komm schon, rede mit mir. Du kannst mich nicht anlügen, ich seh dir an, dass etwas passiert ist.«
Ich seufzte und ließ mich zitternd gegen seine Schulter fallen.
Eine Weile schwiegen wir, während er mir den Nacken kraulte. Erst dann konnte ich endlich etwas sagen. Ich erklärte ihm, was in den letzten Wochen mit Toby und Roger vorgefallen war und was Roger vor wenigen Minuten zu mir gesagt hatte. Geduldig hörte er zu und tröste mich durch sanfte Streicheleinheiten. Als ich jedoch zu Rogers Aussage kam, drückte Steve mich grob weg und sah mir fest ins Gesicht. »Ist das dein Ernst? Das hat er gesagt?«
Ich nickte leicht. Warum tat er das? Roger musste doch wissen, dass das verletzend war. Ich hatte weder ihm noch Toby etwas vorgemacht. Das hatte ich Toby doch erklärt. Und eigentlich war ich mir sicher gewesen, dass er das verstanden hatte.
»Wer ist das Arschloch? Der große Braunhaarige, der uns beim Tanzen beobachtet hat?«, fragte Steve in ernstem Ton.
Ich hatte nicht mitbekommen, das Roger uns beobachtet hatte, aber ich nahm mal an, dass die Beschreibung stimmte, daher nickte ich.
Steves Hand legte sich fest um meine und er zog mich mit sich. »Komm mit. Dieser Wichser!«
Ich hatte noch nicht einmal mitbekommen, in welche Richtung Steve mich zog, da standen wir schon vor Roger, der gerade in einer Ecke mit einem anderen Kerl sprach. Dieser wurde einfach mit einem »Entschuldige uns kurz« zur Seite geschoben. Steve baute sich vor dem deutlich größeren, aber verdutzten Mann auf und legte ihm einen Finger auf die Brust. »Entschuldige dich gefälligst, du elender Scheißkerl!«
Roger blinzelte noch ein paar Mal, sah zwischen Steve und mir hin und her, dann fing er sich. »Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, die Wahrheit gesagt zu haben. Wenn man Leute belügt, dann muss man auch damit rechnen, dass sie hinterher sauer sind.«
Roger wollte sich wegdrehen, doch Steve nahm eine noch drohendere Pose ein, die Roger tatsächlich einzuschüchtern schien. »Niemand hat dich angelogen, du Arschloch!«
Jetzt reichte es mir und ich schritt ein. Ich packte Steve an der Schulter. »Hör auf, ihn zu beleidigen.«
»Einen Teufel werd ich tun. Dieses Schwein macht einen auf guter Freund, doch statt für dich da zu sein, verletzt er dich. Streite es nicht ab, ich hab gesehen, wie du geschaut hast, als ich wiederkam.«
»Wenn er mir und meinem Freund etwas vorspielt und unsere Freundschaft so ausnutzt, dann habe ich jedes Recht, ihm die Meinung zu geigen!«, machte Roger seinen Standpunkt lautstark klar.
»Sag mal, bist du echt so hohl?! Niemand hat euch etwas vorgespielt!« Steve zog an meinem Arm und schob mich zwischen sich und Roger. »Ob du es wahrhaben willst oder nicht, Samsa liebt euch. Aber du trittst das ja lieber mit Füßen!«
Schnell sah ich mich um, stellte aber fest, dass zwar einige Leute in unsere Richtung schauten, doch hoffentlich keiner nah genug war, um uns zu verstehen. Der Kerl, mit dem Roger sich unterhalten hatte, war verschwunden.
Es ging ein Ruck durch Roger und er sah mich mit ernster Miene an. Die Wut war daraus gewichen, stattdessen sah ich eine Menge Traurigkeit und ich hätte ihn am liebsten in den Arm genommen. Doch dann verhärtete sich sein Blick wieder und er sah zu Steve. »Wenn er uns wirklich lieben würde, dann hätte er uns nicht verlassen.«
Ich wollte etwas sagen, doch Steve drückte mich erneut weg und trat dicht an Roger heran. »Und du nennst dich einen Freund? Ich kenne Samsa gerade mal zwei Tage und weiß scheinbar mehr über ihn als du. Du hast doch überhaupt keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Du bist doch nur ein Kleinkind, das beleidigt ist, weil jemand nicht dein Freund sein will! Du weißt überhaupt nicht, wie das ist, wenn die Person, die man liebt, einen so sehr verletzt, dass man nicht mehr in der Lage ist, jemandem zu vertrauen! Hast du dir überhaupt jemals die Mühe gemacht, dich in Samsa hineinzuversetzen? Scheinbar nicht, denn dann wüsstest du, dass es für ihn schon schwer genug ist, sich einzugestehen, dass er jemanden liebt! Du solltest froh sein, dass er euch so sehr vertraut und ihn nicht auch noch dafür bestrafen.«
Erneut sah Roger zwischen uns hin und her, immer wieder wechselte sein Blick zwischen Trauer und Wut, während Steve ihn anschrie. Ich wusste überhaupt nicht, wie er reagieren würde, war aber selbst nicht in der Lage, etwas zu sagen. Ich wollte Steve nicht widersprechen, hatte aber auch gleichzeitig Angst, zuzugeben, dass er mit allem recht hatte, was mich betraf.
Irgendwann senkte Roger den Kopf und schüttelte ihn leicht. »Tut mir leid, ich kann das einfach nicht nachvollziehen.«
Ich nickte. Das musste er auch nicht. Vielleicht war es mir ganz lieb, wenn er das nicht tat.
»Sorry, ich war wütend und wollte dir auch mal vor den Kopf stoßen.« Er hob den Kopf wieder und lächelte mich traurig an. »Es tut weh, dich so mit jemand anderem zu sehen.«
Ich ging auf ihn zu und drückte ihn kurz. »Tut mir leid. Aber ich kann das einfach nicht.«
Roger legte ebenfalls die Arme um mich. »Auch nicht, wenn ich dir sage, dass wir wirklich nicht böse sind, wegen der Sache mit dem Alkohol?«
Ich schüttelte den Kopf und ließ ihn los. Nein, das änderte nichts. Das hatte mir Toby schon bei unserem Telefonat mehrfach versichert. Denn nur, weil sie mir die eine Sache nicht übelnahmen, änderte das nichts daran, dass es immer wieder andere Dinge geben würde, bei denen ich gegen die Regeln verstoßen würde. Ich war einfach nicht in der Lage, mich daran zu halten.
Roger wirkte nun noch trauriger, doch er nickte. »Lass mir Zeit, das zu verstehen.«
»Danke.« Ich drückte ihn noch einmal. Dass er es zumindest versuchte, war schon viel wert.
Nachdem ich mich gelöst hatte, sah ich zu Steve. »Ich würde gerne gehen.«
Verstehend nickte er, nahm mich ebenfalls kurz in den Arm und sah dann zu Roger. »Wenn ich nochmal höre, dass du Samsa so einen Unsinn an den Kopf wirfst, dann komm ich wieder und hau dir eine rein!«
Auch wenn ich das kaum ernst nehmen konnte: Wenn ich Rogers Blick richtig deutete, glaubte er das aufs Wort. Steve schien ihn wirklich beeindruckt zu haben. Für einen kurzen Moment hatte er aber auch furchteinflößend gewirkt.
Ich lächelte Roger zum Abschied kurz an und erhielt eine ähnlich klägliche Antwort, bevor Steve meine Hand nahm und mit mir den Club verließ.
»Es waren schöne Zeiten
Und wir zogen weit hinaus
Schlossen einen Bund,
Und dieser Bund war mein Zuhaus
Wir lachten und wir sangen
Haben, ach, so viel erlebt
Ihr seid ein Teil geworden,
Der nun weiter in mir lebt
Ich trage euch nun in mir
Und vielleicht mag es geschehen
Dass eines schönen Tages
Wir uns erneut gegenüberstehen«
Ignis Fatuu – Unendlich viele Wege