„Wo möchtest du hin?“
Mareike zuckte mit den Schultern und grinste. „Ein hübscher Weg, auf dem uns möglichst wenig Menschen begegnen. Ich sollte Mike nachher so viel von der Gegend vorschwärmen können, dass er froh ist, dass er nicht mitkommen musste.“
Mit solchen Pfaden war Thomas vertraut. Er schlug er den direktesten Weg in Richtung seiner Hütte ein. Nicht, dass er damit rechnete, diese zu erreichen, doch bei Tageslicht kannte er jeden Grashalm an diesem Hang, sodass es ihm leichtfallen würde, Mareike dort ein paar schöne Dinge zu zeigen und sich trotzdem ganz auf ihr Gespräch zu konzentrieren.
Sie hatten gerade die letzten Häuser hinter sich gelassen und folgten einem befestigten Feldweg durch teilweise gemähte, duftende Spätsommerwiesen. Noch hörte man die Autos auf den nahen Straßen deutlich, doch die Geräusche der Insekten begannen bereits, sie zu übertönen.
„Mir wurde ein Kinfolk-Crashkurs versprochen“, sagte Thomas erwartungsvoll. „Ich hätte grade Zeit dafür.“
Mareike schmunzelte. „Wo soll ich anfangen? Vielleicht dabei, was Kinfolk genau ist?“
„Menschen mit Werwolfgenen“, antwortete Thomas. „Das hat Jonathan mir schon erklärt. Oft die Kinder von Werwölfen oder anderem Kinfolk.“
Sie nickte erfreut. „Genau! Das ist gut, dann weißt du schon einiges. Kennst du auch unsere Rolle in der Werwolfgesellschaft?“
Thomas strahlte sie an.
„Was?“, fragte sie irritiert.
„Du hast ‚unsere Rolle‘ gesagt. Du glaubst, Jonathan hat recht“, stellte Thomas fest.
Mareike lächelte. „Ich wünsche es mir für euch. Und ich hoffe, wenn ich ganz fest dran glaube, wird es wahr.“
Für einen Augenblick war Thomas versucht, ihr zu erklären, dass er und Jonathan keineswegs ein Paar waren – doch dann ließ er es bleiben. Vielleicht hatte sie das gar nicht gemeint. Und es war im Moment auch vollkommen unerheblich. Er wollte die Zeit lieber effizient für seinen Crashkurs nutzen.
„Ich habe keine Ahnung von unserer Rolle“, beantwortete er ihre Frage also. „Bitte erklär es mir.“
Mareikes Miene wurde ernst. Nachdenklich biss sie sich auf die Lippe, bis sie wieder das Wort ergriff. „Wenn man es ganz nüchtern betrachtet, sind wir ihr Genpool. Zwei Werwölfe haben nur selten gesunde Kinder, musst du wissen. Scheinbar brauchen auch Werwölfe eine gewisse Menge menschlicher Gene in ihrem Erbgut.“
Wie bei so manch einer genetischen Erkrankung, erkannte Thomas und versuchte, sich zu erinnern. Wie war das doch gleich? Welche Krankheit war eigentlich sogar ganz gut gegen Malaria, aber nur, wenn ...
„Was murmelst du da vor dich hin?“
In diesem Moment fiel es ihm wieder ein. „Sichelzellenanämie!“, verkündete er zufrieden. Dann erst bemerkte er Mareikes verwirrten Blick und grinste. „Das mit den Werwölfen ist ein bisschen wie mit Sichelzellenanämie, glaube ich. Das ist eine genetische Erkrankung. Wenn man normale Gene hat, ist man ein normaler Mensch. Wenn beide Gene, die von beiden Eltern heißt das, verändert sind, ist man schwer krank. Aber wenn nur eins verändert ist, merkt man es im Alltag kaum – hat sogar Vorteile. Man hat dann viel weniger Schwierigkeiten mit Malaria, wie genau, weiß ich aber nicht mehr.“
Mareike sah ihn immer noch verwirrt an, also fügte er an: „Hört sich an wie bei Werwölfen. Ein Werwolfgen und ein normales sind gut und man ist halt Werwolf, aber zwei Werwolfgene von beiden Eltern sind wie Sichelzellenanämie und machen krank.“
Sie schenkte ihm ein hilfloses Lächeln. „Kann schon sein. Ich kenne mich damit nicht aus. Aber lass sie das bloß nicht so hören! Viele Werwölfe halten sich Menschen wie Kinfolk gegenüber für vollkommen überlegen.“
Eigentlich wollte sie weitersprechen, doch Thomas war stehen geblieben. „Nur kurz“, erklärte er lächelnd. „Du wolltest ein paar schöne Eindrücke mitnehmen. Den Blick von hier aufs Dorf solltest du jetzt dir und später Mike in deiner Erzählung nicht vorenthalten!“
Sie hielt inne und betrachtete zum ersten Mal, seitdem sie aufgebrochen waren, bewusst ihre Umgebung. Ihr bot sich ein wahrhaft malerischer Anblick: Obwohl sie noch nicht besonders weit entfernt waren, hatte man einen guten Blick über das Dorf, dessen alte Dächer sich um den Kirchturm schmiegten wie Schäfchen um ihren Hirten. Das Zirpen von Grillen und der Duft nach trockenem Gras trugen zur friedlichen Atmosphäre bei, die nur selten von den Geräuschen von berganfahrenden Autos oder Lastwagen gestört wurde.
„Gut, dass wir das nicht verpasst haben – von hier sieht es wirklich sehr idyllisch aus“, sagte Mareike. Dann gingen die beiden weiter.
„Unser Rudel ist zum Glück recht modern“, fuhr sie fort. „Die Werwölfe behandeln uns Kinfolk, wenn es nicht gerade um Dinge geht, an denen wir nicht teilnehmen oder die wir nicht verstehen können, als gleichberechtigt und respektieren uns als Individuen. Das war nicht immer so. Es gibt wohl immer noch Rudel, die sogenannten Traditionalisten, die Kinfolk mehr wie Objekte betrachten, wie Nutzvieh, das zu Fortpflanzungszwecken gehalten und strategisch genutzt wird.“
„Genutzt?“ Die Vorstellung schockierte Thomas. „Das klingt ja wie Sklaverei!“
Mareike sah ihn ernst an. „Stimmt. Ich weiß aber nicht viel mehr darüber. Diese Funktion als Genpool ist aber nicht die einzige Verbindung, die wir zu den Werwölfen haben.“
Thomas atmete tief durch und nickte ihr auffordernd zu.
„Werwölfe sind stark“, fuhr sie fort. „Stärker als Menschen. Sie sind uns körperlich weit überlegen, selbst die Schwächsten unter ihnen.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Jona ist einer der Schwächsten im Rudel – das stört ihn. Nicht, dass er unbedingt in der Hierarchie aufsteigen will, ich glaube, das ist nichts für ihn – aber er hätte einfach gern ein bisschen mehr Muskelmasse. Er versucht seit Jahren, sich zum Trainieren aufzuraffen, aber er hält nie besonders lange durch.“ Dann kehrte sie wieder zum eigentlichen Thema zurück. „Wie gesagt, sie sind uns überlegen – aber nicht immer. Es gibt Momente der Schwäche, in denen wir auf sie aufpassen, auch, wenn sie das nur ungern so formulieren. Ich hoffe, du verstehst, dass ich dir nicht genau sagen kann, was für Momente das sind, solange nicht sicher ist, dass du auch Kinfolk bist. Es ist nicht so, dass ich dir nicht traue – ich muss nur mein Rudel schützen.“
Das verstand Thomas. Er schätzte es sogar, dass Mareike ihm nicht uneingeschränkt vertraute – man durfte seine Leute keinem unnötigen Risiko aussetzen. Dazu gab es nichts weiter zu sagen.
„Wir passen also gelegentlich auf sie auf und sie den Rest der Zeit auf uns?“
Mareike lachte. „So sehen sie das! Aber wenn du mich fragst, sind wir Kinfolk es, die ein Rudel friedlich zusammenhalten. Werwölfe sind anders als wir. Als Wolf handeln sie sehr instinktgetrieben, auch, wenn ihr Verstand durchaus noch funktioniert. Jona hat mir mal erklärt, es sei ein bisschen, als würde die Gestalt die Gewichtung zwischen Emotionen und Verstand verschieben. Beides ist da, aber es ist unterschiedlich dominant. Aber auch als Mensch sind sie instinktgetriebener als wir. Sie versuchen oft, das zu unterdrücken – was, wenn du mich fragst, zur Folge hat, dass es als Wolf dann umso heftiger durchschlägt.“
„Und was hat das jetzt mit Kinfolk zu tun?“
„In unserer Gegenwart können sie auch als Mensch wirklich sie selbst sein“, erklärte Mareike. „Wir wissen, wie sie sind. Wir wundern uns nicht, wenn die Diskussion darüber, wer das zweite Stück Kuchen bekommt, in einen Streit eskaliert oder wenn jemanden plötzlich das dringende Bedürfnis nach Gruppenkuscheln überkommt.“
Das verstand Thomas gut. Niemand war auf Dauer glücklich damit, sich verstellen zu müssen. Es war wichtig, wahrhaftig man selbst sein zu dürfen, von seiner Umgebung so akzeptiert zu werden, wie man wirklich war. Und sofort erschien vor seinem geistigen Auge die Szene von heute Nacht, in der Jonathan ihm voller Freude und Erleichterung um den Hals gefallen war. Er hatte einen starken Verdacht, auf wen Mareike mit dem Gruppenkuscheln anspielte. „Damit meist du Jonathan, oder?“
Das Grinsen und der Blick, den sie ihm zuwarf, waren Antwort genug.
„Warum das zweite Stück Kuchen und nicht das erste?“, fragte er dann.
„Das erste Stück gebührt immer dem Leitwolf“, erklärte Mareike ernst. „Stimmt, das weißt du ja auch nicht.“ Seufzend fuhr sie sich mit einer Hand über die Augen. „Hoffentlich kriege ich davon jetzt genug zusammen! Grade Fremden gegenüber, und das wirst du am Anfang auf jeden Fall sein, legen die Werwölfe sehr viel Wert auf die korrekte Einhaltung der Etikette. Sie drückt die Hierarchie im Rudel aus.“ Mit einem Mal hellte sich ihr Blick auf. „Eine Faustregel! Wenn du dir unsicher bist, warte immer ab!“
Thomas runzelte die Stirn. „Ein paar Beispiele, bitte.“
„Wenn du nicht weißt, ob du reinkommen darfst, warte draußen. Wenn du nicht weißt, ob du was sagen solltest, warte ab. Wenn du nicht weißt, wann du mit Essen dran bist, warte, bis dich jemand auffordert. Wenn du nicht weißt, ob du einen Wolf kraulen darfst, warte, bis er auf dich zukommt. Abwarten ist in jedem Fall besser als in ein Fettnäpfchen zu treten! Und mit der Zeit lernst du diese ungeschriebenen Regeln ganz von selbst.“
Thomas lächelte schwach. „Oh Mann. Das muss ich alles erst mal verarbeiten. Ich hätte nicht gedacht, dass es so komplex ist.“ Er deutete auf einen Fels. „Wollen wir eine Pause machen?“ Er hatte das Gefühl, dass das seinem Kopf gerade guttun würde.
„Es ist eine eigene Kultur“, sagte Mareike verständnisvoll. „Auch das ist eine Funktion von uns Kinfolk: Wir vermitteln zwischen der Welt der Menschen und der der Werwölfe, weil wir in beiden zuhause sind. Normalerweise lernt man das alles von klein auf.“ Dann schenkte sie ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Aber mach dir keine Sorgen – wenn du wirklich Kinfolk bist, helfen wir dir dabei, das alles möglichst schnell zu verstehen!“