Mareike hatte Jonathan am Sonntagmorgen endlich geschrieben, dass dem Besuch in den Bergen nichts im Wege stand. Daraufhin hatte der mit allen Beteiligten Uhrzeiten ausgemacht und diese in einem recht kurzen Schreiben an Thomas festgehalten.
Streng genommen enthielt das einzelne Blatt, das er ihm schickte, kaum mehr als einen Dank für den langen Brief und den Vorschlag, am Wochenende persönlich weiterzureden, gefolgt von der Information, dass sie je nach Verkehrssituation am späten Freitagnachmittag oder frühen Freitagabend ankommen würden. Dann hatte er kurz Sebastians Plan dargelegt: Thomas könnte sie begleiten, für einen Kurzbesuch bis Montag Morgen hierbleiben und mit dem Zug zurückfahren.
Erst, als er alles niedergeschrieben hatte, ging Jonathan auf, dass er seinen Freund mit diesem Vorschlag ziemlich überfiel. Thomas wollte zwar gerne das Rudel kennenlernen, aber es war durchaus denkbar, dass ihm dieser Besuch zu plötzlich erfolgte. Also fügte Jonathan am Ende doch noch ein Postskriptum an, in dem er seine Telefonnummer festhielt und Thomas bat, ihn anzurufen, falls es ihm möglich war.
Ihm war ein Stein vom Herzen gefallen, als am Mittwochmittag sein Telefon klingelte.
„Hi, danke für die Info! Du bist eher so ein spontaner Typ, oder?“
Jonathan grinste. „Sag nicht, das wäre dir noch nicht aufgefallen“, antwortete er amüsiert und freute sich über das Lachen am anderen Ende der Leitung.
„Doch, ist es!“ Dann wurde Thomas ernster. „Was brauch ich denn für diesen Kurzbesuch? Und wo kann ich übernachten?“
Keine Rede davon, dass der Plan ihm nicht gefiel.
„Du kannst in meiner WG auf dem Sofa schlafen, wenn du magst. Und Sebastian hat ein Gästezimmer, der würde dich bestimmt auch aufnehmen.“ So ins Detail hatte Jonathan die ganze Sache noch gar nicht durchdacht. Er war froh, dass Thomas mehr Wert auf Genauigkeit legte als er.
„Ach, nur keine Umstände. Ich schlaf gern auf dem Sofa. Also – dann bis Freitag! Herr Hirschberger hätte gern sein Telefon zurück“, feixte Thomas, bevor auch Jonathan sich verabschiedete.
~~~
Thomas atmete noch einmal tief durch, bevor er die Straße betrat, in der das geerbte Haus der Brüder stand. Er kam sich ein wenig vor, als sei er auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch – einem Vorstellungsgespräch beim stellvertretenden Leitwolf des Rudels und der besten Freundin seines werwölfischen Kumpels. Nicht nur seine Nervosität passte zu solch einem Vorhaben, auch seine Vorbereitungen waren für eine Bewerbung geeignet: Er hatte einen Friseur aufgesucht, sich glatt rasiert und seine ordentlichste Kleidung, seine Jeans und einen unbeschädigten Strickpullover, angelegt. Außerdem ging er seit gestern alle möglichen Argumente durch, mit denen er hoffte, Sebastians Abneigung ihm gegenüber auszubügeln.
Er und Jonathan hatten nicht ausgemacht, wann genau sie sich treffen wollten. Falls der im Brief beschriebene Zeitplan eingehalten worden war, müssten die anderen vor etwa einer Stunde angekommen sein. Doch trotz der Zeit, die er hatte verstreichen lassen, damit die vier ein wenig ankommen konnten, blieb sein Klingeln unbeantwortet.
Tja – sie hatten sich offenbar verspätet. Wieder bedauerte Thomas, noch kein Mobiltelefon zu besitzen. Jetzt hieß es, auf unbestimmte Zeit zu warten. Doch hier auf der Straße vor dem Grundstück stehen zu bleiben, kam nicht infrage – das würde sicherlich die Nachbarn misstrauisch machen.
Prüfend drückte Thomas die Klinke des hohen, blickdichten Gartentors hinunter. Zu seinem Erstaunen war es nicht versperrt. Rasch schlüpfte er hindurch und schloss es hinter sich. Hier im Garten war er vor neugierigen Blicken sicher und konnte in Ruhe warten.
Es dauerte noch ungefähr eine halbe Stunde, bis ein Auto vor dem Haus abgestellt wurde. Thomas erhob sich, strich seine Kleidung glatt und fuhr sich dann mit den Fingern durchs ungewohnt kurze Haar. Innerlich schmunzelte er über seine Nervosität, bevor er sich ermahnte, sie nicht nach außen dringen zu lassen.
Das Gartentor schwang auf und gab den Blick auf die vier Neuankömmlinge frei. Sie waren noch in eine Unterhaltung vertieft, sodass es noch einige Augenblicke dauerte, bis sie Thomas bemerkten, der kerzengerade und aufmerksam vor der Haustür stand und sie erwartete.
Die Blicke, die sie ihm zuwarfen, ließen sofort erkennen, dass er irgendeinen Fehler gemacht hatte. Mike, der einzige ihm unbekannte Mann, nickte ihm zwar höflich zu, doch Mareike verzog bei seinem Anblick betroffen das Gesicht und Jonathan erbleichte regelrecht und sah besorgt zu Sebastian, der die Gruppe anführte. Dessen Gesichtsausdruck verdüsterte sich schlagartig und genau wie bei ihrer letzten Begegnung drückte seine Körperhaltung unterschwellige Aggression aus.
Thomas biss die Zähne aufeinander. Scheiße – was hatte er diesmal wohl falsch gemacht? Wieder so ein verdammt mieser Start mit dem Leitwolf! Wie sollte er sich jetzt nur verhalten?
Für einen Augenblick ließ er seinen Blick auf der Suche nach einem Hinweis über die anderen schweifen. Mike war uninteressant, da er nur ein Mensch war, der nichts von Werwölfen wusste. Jonathan und Mareike hatten ihre Aufmerksamkeit vorwiegend auf Sebastian gerichtet, als warteten sie ab, wie er reagierte. Doch die unangenehme Stille zog sich weiter in die Länge.
Thomas holte Luft, um etwas zu sagen, ließ es dann aber bleiben, als er Mareikes schwaches, aber unmissverständliches Kopfschütteln bemerkte. Als sie erkannte, dass er auf sie hörte, machte sie hinter dem Rücken des Leitwolfs eine langsame, beschwichtigende Geste und lächelte auffordernd. Offenbar forderte sie Thomas auf, abzuwarten, und er beschloss, ihrem Rat zu folgen.
Zwei, drei lange Sekunden vergingen. Dann richtete Sebastian das Wort an ihn und entspannte damit die Lage. „Willkommen in unserem Garten.“
Als wäre dies ein Stichwort gewesen, regten sich nun auch die anderen. Mareike trat vor, begrüßte Thomas mit einem herzlichen Händedruck und machte ihn mit ihrem Freund Mike bekannt. Sebastian nickte immerhin höflich, als er an allen vorbei auf die Haustür zutrat.
Dann stand Thomas endlich wieder Jonathan gegenüber.
„Hi“, sagte der mit einem schüchternen Lächeln. „Schön, dich zu sehen.“
Unsicher, wie genau er seinen Kumpel begrüßen sollte, wartete Thomas ein wenig zu lange und verpasste den Moment für eine freundschaftliche Umarmung, wie sie sie bei ihrem letzten Abschied geteilt hatten. Sollte er ihm die Hand geben? Auch dazu machte Jonathan keinerlei Anstalten – Thomas blieb daher auf der sicheren Seite und lächelte sein Gegenüber einfach nur an.
„Ich freu mich auch“, erwiderte er.
„Kommt schon rein“, tönte Sebastians Stimme von der Eingangstür her und erlöste die beiden aus der seltsamen Situation.
„Jona, zeig den beiden, wo sie schlafen können“, wies er seinen jüngeren Bruder an, sobald der das Haus betreten hatte. Der leistete der Aufforderung prompt Folge und führte Mareike und Mike die Treppe hinauf in den ersten Stock.
Dann wandte Sebastian sich Thomas zu. Er gab sich keine Mühe, die Musterung, derer er ihn unterzog, zu verbergen.
„Ich bin Sebastian“, stellte er sich vor. „Was hat Jona dir über unseren Ausflug erzählt?“
Thomas konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, einem Offizier gegenüberzustehen, der einen möglichst knappen Lagebericht erwartete, und antwortete dementsprechend. „Von morgen früh bis zum frühen Nachmittag stehen offizielle Termine sowie Instandhaltungsarbeiten am Haus an. Ich werde mich in dieser Zeit mit Mareike unterhalten. Mein Besuch beim ...“ Kurz suchte er nach einem geeigneten Wort – Mike wusste nichts von Werwölfen und durfte auch nichts erfahren. „... Freundeskreis ist am Sonntag geplant, Montagmorgen fahre ich mit dem Zug zurück.“
Sebastian nickte. Als Thomas geistesgegenwärtig nicht „Rudel“, sondern „Freundeskreis“ sagte, hatte sich der Gesichtsausdruck des Leitwolfes etwas entspannt. Dennoch war er immer noch weit von freundlich entfernt.
„Gut. Du schläfst in deiner Hütte, hier ist nicht genug Platz.“
Das war weder Bitte noch Information, sondern ein Befehl. Mit Mühe unterdrückte Thomas den Ärger, der in ihm aufwallte – er war diesem Kerl nicht unterstellt! Zumindest noch nicht. Musste Kinfolk überhaupt auf den Leitwolf eines Rudels hören? Sollte er es darauf ankommen lassen und widersprechen? Obwohl seine Intuition ihm riet, nicht gegen die natürliche Autorität des Werwolfs vorzugehen, regte sich tief in seinem Innern Trotz und er hob herausfordernd das Kinn.
„Hey ihr beiden!“ Mareike kam gut gelaunt die Treppe hinuntergehüpft. „Ich habe einen Bärenhunger – ihr auch?“
Sie drehte sich kurz zu Mike und Jonathan um und warf ihnen einen fragenden Blick zu, bevor sie sich wieder den beiden Männern im Wohnzimmer zuwandte.
„Gibt es hier einen Laden, der noch offen hat? Oder eine Pizzeria, bei der man etwas holen könnte?“
Sebastian, den sie genauso sehr überrumpelt zu haben schien wie alle anderen, zögerte kurz und nickte dann. „Di Antonio war früher echt gut. Aber ich weiß nicht, wie die Pizza da inzwischen –“
„Sehr gut!“, unterbrach Mareike ihn und hängte sich mit einem strahlenden Lächeln bei Thomas ein.
„Komm, wir beide gehen was zu essen holen, dann können die anderen besprechen, was zu tun ist!“
Sie ließ sich von Sebastian eine grobe Wegbeschreibung geben und zog Thomas einfach mit sich davon.