Jonathan schlief heute viel länger als üblich – er hatte die halbe Nacht mit Zocken verbracht und fühlte sich nun wie gerädert. Träge schleppte er sich ins Wohnzimmer hinunter, wo er Sebastian gedankenverloren auf dem Sofa vorfand.
„Guten ... ist überhaupt noch Morgen?“, fragte er mit einem Gähnen, ließ sich neben seinen Bruder in die Polster fallen und rieb sich die Augen.
„Ja“, bestätigte Sebastian, „Es ist grade mal halb elf. Hast du gut geschlafen?“
Der sanfte Tonfall und die Hand, die ihm zärtlich durch die Haare fuhr, überraschten Jonathan. Sein Bruder war fürsorglich, ja, aber irgendetwas stimmte nicht. Er warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
„Ja, hab ich ... ist alles in Ordnung? Du siehst ... traurig aus.“
Der Anflug eines Lächelns hob Sebastians Mundwinkel, bevor er tief seufzte und den Blick abwandte. „Ich bin ein Idiot, Jona“, sagte er mit leiser Stimme.
Besorgt wandte Jonathan sich seinem Bruder zu. „Warum? Das stimmt doch überhaupt nicht! Wer behauptet das?“
Es fiel Sebastian schwer, sich zu erklären. Obwohl er sich vehement dagegen gesträubt hatte, waren Thomas‘ Worte seit dessen Weggang durch seinen Kopf gespukt: Frag ihn einfach selbst.
Verdammt. Egal, wie er es drehte und wendete, es abzustreiten versuchte oder wie ungern er es zugab: Der Mann hatte Recht.
Sebastian hatte Jonathan nicht gefragt. Er hatte für ihn entschieden. Und je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, wie falsch sein Verhalten war, obwohl er nur das Beste für seinen kleinen Bruder im Sinn hatte.
Endlich rang er sich zu einer Antwort durch. „Ich sage das.“
Zögernd hob er den Blick und sah Jonathan schuldbewusst in die Augen. „Ich hab mich ungefragt in deine Angelegenheiten eingemischt“, gestand er und deutete auf die kleine Wolfsfigur, die er auf den Couchtisch gestellt hatte. „Thomas war hier und wollte sich bei dir entschuldigen und –“
„Er war hier? Woher wusste er, wo wir wohnen?“, unterbrach Jonathan ihn verblüfft. Sein Blick folgte der Geste.
„Anscheinend hat er Clara eine Geschichte von dir und dem Kauf dieser Wolfsfigur vorgelogen und sie hat, hilfsbereit wie sie ist, unsere Adresse verraten.“ Sebastian befeuchtete die trockenen Lippen, bevor er leiser fortfuhr. „Ich hab ihn fortgeschickt und gesagt, du willst nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ich geb es ungern zu, aber er hatte Recht, als er meinte, ich sollte dich selbst fragen anstatt einfach davon auszugehen.“
Jonathan reagierte nicht auf das Geständnis seines Bruders. Nachdenklich drehte er die Schnitzerei in den Händen. Sie gefiel ihm, und sie ähnelte tatsächlich seinem Wolf. Warum hatte Thomas sie angefertigt? War Jonathan ihm doch nicht so egal, wie er tat?
Nach kurzem Zögern fügte Sebastian an: „Er meinte, falls du doch noch mal mit ihm reden willst, wüsstest du ja, wo du ihn findest.“
Nun hatte er alles Relevante erzählt und sein Bruder konnte eine eigene Entscheidung treffen. Das schlechte Gewissen, das ihn seit seiner Erkenntnis belastet hatte, war zwar noch nicht verschwunden, doch es drohte ihn wenigstens nicht mehr zu erdrücken.
Einige Augenblicke lang sagte Jonathan nichts. In Gedanken versunken starrte er auf die Figur, ohne sie wirklich wahrzunehmen.
Dann hob den Blick und sah seinem Bruder stirnrunzelnd in die Augen. „Ich weiß gar nicht, ob ich das will“, gestand er ihm. „Ich habe es so oft versucht, und er hat mich immer abgewiesen. Jetzt überlegt er es sich auf einmal anders. Ich will ihm nicht hinterherlaufen, ich bin kein Hund, und ich habe auch meinen Stolz.“ Bedächtig stellte er den hölzernen Wolf zurück auf den Tisch.
„Wie viele Chancen hat jemand verdient, bevor man sich mit dem Gewähren einer weiteren zum Affen macht, Sebastian?“
Der sah ihn stumm an. Was sollte er darauf nur erwidern? Er ließ sich Zeit, um seine Antwort zu überdenken.
„Ich weiß es nicht“, antwortete er schließlich. „Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht hast du zu viel von ihm erwartet und ihn überfordert? Möglicherweise lohnt es sich, ihm zuzuhören, jetzt, wo er ein bisschen Zeit hatte, in Ruhe über alles nachzudenken. Die Tatsache, dass es Werwölfe gibt, hat ihn nicht in Panik versetzt, so wie die meisten Menschen – das ist ungewöhnlich. Eventuell fühlst du dich deshalb so mit ihm verbunden. Aber vielleicht ist ein weiteres Gespräch auch Zeitverschwendung und er enttäuscht dich nur noch tiefer. Aber die Entscheidung liegt bei dir.“
„Was würdest du tun?“
Sebastian lächelte. Seit Jonathan sprechen konnte, bat er ihn um seine Meinung. Es machte ihn stolz, dass seine Rolle als großer Bruder ihre Kindheit überdauert hatte. Auch, wenn die Fragen mit den Jahren komplizierter geworden waren, liebte er seine Funktion als Jonathans Ansprechpartner in allen Lebenslagen.
„In Ruhe darüber nachdenken, bevor ich mich entscheide. Nimm dir Zeit und überstürz es nicht.“ Aufmunternd sah er seinen Bruder an und drückte dessen Schulter.
„Ok. Danke.“ Dann verfiel der Jüngere in nachdenkliches Schweigen.
Jonathan grübelte den ganzen Nachmittag über. Sebastian fühlte sich hin- und hergerissen – einerseits wünschte er sich, sein Bruder suchte das Gespräch mit Thomas, um endlich Klarheit zu erlangen. Doch andererseits hätte er auch nichts dagegen, wenn dieser Fremde wieder genauso plötzlich aus seinem Leben verschwände wie er aufgetaucht war. Irgendetwas in seinem Inneren wollte seinen kleinen Bruder von diesem Mann fernhalten, obwohl er sich nicht erklären konnte, was es war.
Beschützte oder bevormundete er ihn?
Schon zweimal war er kurz davor gewesen, seine Freundin Stefanie anzurufen und mit ihr über seinen inneren Zwiespalt zu sprechen, ihren Rat einzuholen. Doch er hatte das Telefon immer wieder beiseitegelegt.
Vielleicht würde sich ja doch alles von selbst lösen.
In unregelmäßigen Abständen hatte Sebastian still nach seinem Bruder gesehen, ihm durch eine kurze Berührung zu verstehen gegeben, dass er da war, wenn er reden wollte. Doch Jonathans Gedanken beschäftigten sich zu sehr mit Thomas, um mehr zu tun, als die Berührung zu erwidern.
Sebastian fand dieses Schweigen bedrückend, und es fiel ihm zunehmend schwerer, sich auf die Erbschaftsdokumente zu konzentrieren. Gegen Abend legte er die Unterlagen endgültig beiseite. Er war ohnehin fast fertig und beschloss, sich mit der Zubereitung eines Abendessens zu abzulenken.
Jonathan war seit ihrem Gespräch auf dem Sofa gesessen und hatte nachgedacht. Selbst als er mit Sebastian am Esstisch saß, grübelte er noch und stocherte mehr in dem mit Sorgfalt zubereiteten Essen, als dass er wirklich aß.
Es war in der Tat erstaunlich, dass Thomas bei der Erkenntnis, dass es sich bei Jonathan um einen Werwolf handelte, so ruhig geblieben war. Natürlich hatte es ihn überrascht, aber verglichen mit anderen Menschen, die ihren Verstand durch Verleugnen schützten oder in Panik verfielen, war seine Reaktion wirklich bemerkenswert milde ausgefallen.
Andererseits hatte er Jonathan bisher nur als Mensch oder als Wolf gesehen – nie in einer der Zwischenformen, die den Namen ‚Werwolf‘ wahrhaftig verdienten. Diese schreckten die meisten Menschen so sehr ab, dass sie in eine Art katatonische Starre verfielen und anschließend überzeugt waren, halluziniert zu haben.
Die meisten Menschen bis auf die, die mit Werwölfen aufgewachsen waren.
War es möglich, dass Thomas auf irgendeine Art zu ihnen gehörte?
Jonathan hatte sich nie mit den verschiedenen Vererbungswegen der Werwolfgene beschäftigt. Bei seinem Bruder sah die Sache jedoch möglicherweise aus, denn Sebastian und Stefanie führten eine Beziehung, die für den Rest des Lebens ausgelegt zu sein schien. Sie war Kinfolk, ein nicht wandlungsfähiges menschliches Kind eines Werwolfs. Sie kannte die Wölfe, weswegen sie kein Problem damit hatte, Sebastians Wesen zu akzeptieren.
Hatten die beiden vielleicht schon über Kinder gesprochen und sich Gedanken über die Vererbung gemacht?
„Sag mal“, begann Jonathan seine Frage, „Weißt du, ob die Kinder von Kinfolk auch Kinfolk sein können oder ob ein Elternteil ein Werwolf sein muss?“
Sebastian sah ihn irritiert an. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“
Jonathan zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht ... ich frage mich einfach, ob Thomas vielleicht doch auch irgendwie mit Werwölfen verwandt sein könnte, weil er unsere Existenz so schnell akzeptiert hat. Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, wie genau die Werwolfgene weitergegeben werden.“
„Ah, ich verstehe.“ Sebastian schob den Teller von sich und wandte sich seinem Bruder zu. „Nachkommen von Werwölfen sind nicht zwangsläufig selbst welche“, rekapitulierte er sein Wissen. „Sie tragen oft, aber nicht immer, die Gene in sich und können sie durchaus an die nächste Generation weitervererben. Bei Vater waren sie ausgeprägt, aber Mutter als Kinfolk hatte sie möglicherweise auch, wenn sie sich auch nie verwandelt hat. Zumindest deutet die Tatsache, dass wir beide Werwölfe sind, darauf hin – wäre Mutter ein einfacher Mensch gewesen und hätte einem von uns das Gen nicht weitergegeben, wäre derjenige möglicherweise auch nur Kinfolk. Aber wir haben es beide.“
Jonathan fiel es schwer, den schnellen Ausführungen seines Bruders zu folgen. Er hatte sich nie für Genetik interessiert, und es dauerte einen Moment, bis er die Informationen verarbeitet hatte. Man konnte das Gen haben, aber kein Werwolf sein. Aber manchmal war man dann doch einer? Was war, wenn die Eltern gar nichts von ihrem Erbe wussten – konnten die Kinder trotzdem Werwölfe sein? Gab es solche Fälle?
„Bedeutet das, das Kind von zwei normalen Menschen, die ohne es zu ahnen die Gene in sich tragen, könnte auch Kinfolk oder sogar ein Werwolf werden?“ Letzteres jagte Jonathan einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Wie schrecklich musste es sein, wenn man nichts von der Welt der Werwölfe wusste und dann zum ersten Mal bei Vollmond den Drang verspürte, sich zu verwandeln – einsam, ohne jemanden, der einem zur Seite stand, der es einem erklärte? Für ihn war Sebastian da gewesen. Schon die Vorstellung, er hätte das alleine durchstehen müssen ...
Rasch schob er den beängstigenden Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf seinen Bruder.
Sebastian dachte einen Moment lang über die Frage nach. „Ja, das müsste möglich sein“, bestätigte er dann. „So etwas dürfte aber ausgesprochen selten vorkommen, da auch die menschlichen Kinder von Werwölfen in der Regel über die Natur ihrer Eltern Bescheid wissen.“
Jonathan nahm sich einen weiteren Augenblick Zeit, diese neuen Informationen zu überdenken. Dann fragte er: „Und die, die die Gene haben – akzeptieren die unsere Existenz leichter als andere?“
Sebastians Miene spiegelte Überraschung wieder, als er verstand, worauf sein Bruder hinauswollte. Diese Frage hatte er sich noch nie gestellt. „Ich weiß es nicht, aber wahrscheinlich ist das so. Sie sind nie so in Panik wie andere Menschen – vielleicht liegt das ja an den Genen und nicht daran, dass sie von klein auf von uns umgeben sind. Du meinst, Thomas könnte aus einer Werwolffamilie stammen, ohne es zu wissen?“
„Ja, überleg doch mal! Es könnte auch erklären, warum er mir so vertraut vorkam!“
Sebastian lachte, als er die Begeisterung in Jonathans Stimme vernahm. „Du bist schon wieder Feuer und Flamme, oder? Ja, das ist eine interessante Theorie. Ich halte es nicht für unmöglich. Du wirst ihn wohl fragen müssen ...“
Jonathan stand entschlossen auf. „Das werde ich! Wenn ich gleich gehe, bin ich in einer halben Stunde an der Hütte!“
Sebastian verzog zweifelnd das Gesicht. „Es wäre viel sinnvoller, du würdest als Mensch gehen, Jona, denn –“
Mit einem energischen Kopfschütteln unterbrach Jonathan seinen Bruder. „Nein, das dauert mir zu lange!“ Er fing bereits damit an, seine Kleidung aufs Sofa zu werfen.
Seufzend sah Sebastian ihm zu. Ihm fielen gleich mehrere Gründe ein, warum der Besuch in menschlicher Gestalt sinnvoller war. Aber er sollte Jonathan wirklich nicht immer überall reinreden, also ließ er ihn machen.