Sie dürfen ihn nicht töten. Er gehört zu meinem Rudel. Er ist mir wichtig. Ich muss ihn beschützen. Sie dürfen ihn nicht töten!
Jonathans Gedanken überschlugen sich fast vor Angst, als er in vollem Lauf bergauf rannte. Er durfte nicht zu spät kommen – sollten die Jäger ihn doch sehen!
Ich bin nicht nur ein Wolf. Ich bin auch ein Mensch. Ich bin klug. Ich hänge sie ab!
Das Dorf verfügte nur über wenige Jäger, und die waren meist alte Männer. Sicher legten die sich nicht im Regen auf die Lauer!
Er ließ alle Vorsicht fahren und beschleunigte weiter, flog förmlich über die Wiese, vorbei an einem kleinen Wäldchen.
Der Schuss krachte im selben Moment, in dem Steinsplitter aus einem Stück Fels vor ihm gerissen wurden. Einige davon schlugen unbedeutende, kleine Wunden in seinen Körper, doch er ignorierte sie stur, rannte weiter. Solche Kleinigkeiten behinderten einen Werwolf nicht, und er war so schnell außer sich, dass der Schütze nicht einmal die Zeit für einen zweiten Schuss hatte.
Nicht zur Hütte!, ermahnte er sich. Führ sie nicht zu ihm! Mach einen Umweg!
Er wählte einen Weg, von dem er wusste, dass er für Menschen nicht leicht begehbar war und in die völlig falsche Richtung führte.
~~~
Wohin sollte er gehen? Woher würde der Wolf kommen?
Einen Moment zögerte der Mann, bevor er sich in Bewegung setzte. Es war unwichtig, aus welcher Richtung der Wolf üblicherweise kam – die Gefahr lauerte in der Nähe der Jäger, darum wandte er sich dorthin.
Sein dunkler Mantel hielt nicht nur den Regen von ihm fern, sondern schützte ihn auch vor allzu schneller Entdeckung. Er wollte den Jägern nicht auffallen, nur seinem Wolf, und diesen dann hoffentlich rasch aus der wortwörtlichen Schussbahn bringen.
Oh, wie würde er dieses Tier vermissen! Aber lieber malte er sich die nächsten Jahre aus, wie es mit seinem Rudel durch die Berge streifte, als dass er zuließ, dass man es erschoss! Wie konnten sich die Leute aus dem Dorf nur anmaßen, zu entscheiden, wer hier für wen gefährlich –
Sein Herz setzte einen Schlag aus, als der Schuss ertönte.
Sie durften ihn nicht erwischt haben!
Blindlings stürmte er los, seinen Blick fest auf den Waldrand geheftet. Die im nassen Gras verborgenen Steine übersah er.
~~~
Zufrieden beobachtete Jonathan, wie die Jäger von der Hütte fortstrebten. Er hatte sie erfolgreich in die Irre geleitet, fort von seinem Freund. Endlich konnte er nachsehen, ob es ihm gut ging.
Die Umgebung der Hütte lag bereits im Zwielicht, als er sie vorsichtig aus einiger Entfernung beobachtete. Selbst nach mehreren Minuten aufmerksamer Musterung konnte er kein Lebenszeichen ausmachen, weder direkt dort noch in der Umgebung. Er schlich vorsichtig näher, bis er an der Tür angelangt war.
Sie war verschlossen.
Er lauschte angestrengt, doch ihm schien, als sei die Hütte verlassen.
Wo war der Mann?
Besorgt suchte er eine Spur. Der Regen erschwerte ihm seine Aufgabe, hatte viele Düfte fortgespült. Jetzt war Jonathan froh, den Mann so gründlich beschnüffelt zu haben – er kannte dessen Geruch genau, und nach einigem Suchen fand er tatsächlich eine Spur, die von der Hütte fort in Richtung des Wäldchens führte, in dem die Jäger gelauert hatten.
Die Jäger. Sein Herz krampfte sich vor Angst zusammen, und mit der Nase stets dicht am Boden beeilte er sich, der Fährte zu folgen.
Nein! Neinneinneinneinnein!!!
Seine Pfoten weigerten sich, auf die reglose Gestalt, die nur wenige Meter von ihm entfernt im Gras lag, zuzugehen. Sie roch wie sein Freund. Aber er durfte es einfach nicht sein.
Zögernd trat er einen Schritt vorwärts. Ein leises Winseln entkam seiner Kehle, und er presste sich flach auf den Bauch, als er sich Stück für Stück näher an die liegende Gestalt heranschob.
Bitte sei nicht tot!
Langsam, zögerlich, schob er die Nase an die Hand, die regungslos im nassen Gras lag, und stupste sie vorsichtig an.
Sie war eiskalt.
Kummer überwältigte ihn, und ohne nachzudenken sprang er zu der liegenden Gestalt und schmiegte sich eng an sie, winselte, jaulte, vergrub seine Schnauze am mit Blut verschmierten Gesicht des Mannes.
Vor lauter Gram hätte er es beinahe nicht bemerkt, das schwache, aber regelmäßige Atmen, das seine Nase streifte.
Er lebt!
Erleichterung flutete seinen Geist. Fürsorglich leckte er mit seiner warmen Zunge über das Gesicht seines Freundes. Der stöhnte leise, regte sich ein wenig. Doch selbst der Versuch, die Augen für mehr als ein paar Sekunden zu öffnen, scheiterte – er schien keine Kraft mehr zu haben.
Sorge verdrängte die Erleichterung.
Er ist ganz kalt. Er ist nass. Er liegt schon lange hier. Er braucht Hilfe!
Jonathans Blick wanderte zum Wäldchen. Sollte er die Jäger zu Hilfe holen? War es dumm gewesen, sie so weit von der Hütte fortzulocken?
Grimmig verengte er die Augen. Nein. Sie wollen ihm nicht helfen. Ich werde ihm helfen. Ich lasse mein Rudel nicht zurück.
„Lauf“, murmelte der Mann schwach und kaum verständlich, „Jäger. Lauf ...“
Doch Jonathan hatte sich entschieden. Er sah sich noch einmal prüfend um, und als er sicher war, dass niemand ihn beobachtete, wandelte er sich in seine menschliche Gestalt.