Sebastian erreichte Lukas‘ Laden, als dieser gerade die Eingangstür versperrte.
„Oh, machst du mittwochs schon so früh Schluss?“
Lukas lächelte entschuldigend. „Nein, für gewöhnlich nicht. Ich bin auch später noch mal da, aber wir haben jetzt Gemeindeversammlung und meine Aushilfe ist im Urlaub. Für die Dauer der Sitzung muss ich den Laden daher zusperren.“ Er sah auf den Stoffbeutel in Sebastians Hand hinunter. „Oder brauchst du dringend noch was? Ein paar Minuten hätte ich noch.“
„Oh, das wäre großartig!“, platzte es aus Sebastian heraus. „Jonathan hat heute Morgen Eier und Milch leer gemacht, bevor er zum Wandern aufgebrochen ist, und wer weiß, wann genau er zurück ist. Da wollte ich das mit dem Einkauf schnell erledigen. Ich werde dich auch nicht lange aufhalten!“
Lukas war eine gute Wahl für den Gemeinderat. Er war dem Ort schon lange tief verbunden und – abgesehen von seiner Mutter – für einige Zeit Sebastians einziger Kontakt in seine Vergangenheit gewesen. Er war froh, dass trotz ihrer langen Abwesenheit das Verhältnis zwischen ihnen ungetrübt war. Weder er noch sein Bruder hatten sich aktiv darum bemüht, Kontakt zu halten, und die wenigen Versuche von Lukas, Anna, Clara und den anderen waren mit der Zeit immer seltener geworden und irgendwann ausgeblieben. Doch seit der Minute, in der sie einen Fuß in den Ort gesetzt hatten, fühlten sie sich wieder willkommen.
„Na, wenn es nur das ist, komm kurz rein.“ Gutmütig schloss Lukas die Ladentür wieder auf und ließ ihn ein. Während Sebastian eilig die benötigten Dinge aus den Regalen nahm, führte Lukas ihre Unterhaltung fort. „Wohin ist er denn unterwegs?“
Sebastian schüttelte seufzend den Kopf. „Zu diesem Typen, der oben in der Hütte wohnt. Du weißt ja, wie stur er sein kann, und er hat es sich zum Ziel gesetzt, ihn kennenzulernen ... auch, wenn sein letzter Versuch kläglich gescheitert ist.“
„Was ist passiert? Hat er ihm was getan? Ist alles in Ordnung?“
Die ungewohnte Schärfe in Lukas‘ Stimme ließ Sebastian überrascht aufschauen. „Alles ok, klar ... er hat nur das Gespräch verweigert und ihm die Tür vor der Nase zugeknallt ... Was hast du denn erwartet?“
Lukas stieß erleichtert die Luft aus. „Oh, gut. Na ja, erwartet ... ich weiß es nicht. Man erzählt sich hier echte Schauergeschichten über den Kerl.“ Versöhnlicher fuhr er fort: „Aber vielleicht werden die Leute langsam auch einfach paranoid. Es gibt hier inzwischen einfach zu viele Dinge, die ihnen bedrohlich erscheinen.“
Sebastian legte seine Einkäufe auf den Tresen und sah Lukas forschend an, während der die Preise summierte. „Was meinst du?“
Mit einem Achselzucken, die Augen weiterhin auf die Kasse gerichtet, antwortete Lukas: „Na ja. Der Kerl, der seit einer ganzen Weile in den Bergen rumschleicht. Bei Lohmüllers wurde vor zwei Wochen eingebrochen. Nachts hört man manchmal Wölfe heulen. Die Touristen machen an vielen Ecken Ärger. Irgendein Großunternehmer will uns einen hässlichen Hotelklotz vor die Nase stellen. Da kommt schon einiges zusammen.“
Inzwischen wartete er auf den Ausdruck des EC-Kartenlesegeräts, so dass ihm entging, wie Sebastian ihm einen beunruhigten Blick zuwarf.
„Aber deswegen gibt’s ja jetzt die Gemeinderatsversammlung. Wir haben vor, die ganzen Probleme anzupacken!“
Sebastian zwang sich zu einem Lächeln. „Das schafft ihr bestimmt. Viel Erfolg – ich halte dich nicht länger auf, vielen Dank für die Ausnahme.“ Dann beeilte er sich, nach Hause zurückzukehren.
Es dauerte eine quälend lange Stunde, bis Jonathan endlich nach Hause zurückkehrte und sich mit frustrierter Miene aufs Sofa warf.
„Er will einfach nicht mit mir reden!“, berichtete er seinem Bruder.
Doch statt sich wie üblich seine Sorgen anzuhören, schnitt Sebastian ihm mit einer knappen Handbewegung das Wort ab. „Später. Wir haben ein Problem.“
Sein Verhalten und sein Tonfall ließen Jonathan sofort aufhorchen. „Was ist passiert?“
„Die Anwohner hier im Ort fürchten sich vor den Wölfen, die man gelegentlich nachts im Wald hören kann. Sie besprechen gerade in einer Gemeinderatssitzung, was sie gegen sie unternehmen werden.“ Weitere Erklärungen waren nicht nötig, um den Ernst der Lage zu erläutern.
Jonathan war für einen Augenblick sprachlos. Dann stammelte er: „Aber ... Meinen die uns? Wann haben wir denn ... Also, vielleicht einmal, gestern, aber sonst ... Ich war doch immer unauffällig!“ Sein Blick flehte seinen Bruder um Beruhigung an.
Doch Sebastian schüttelte grimmig den Kopf. „Tut mir leid, kleiner Bruder. Ich weiß nicht, wann sie uns bemerkt haben, aber wir müssen das mit den Streifzügen hier ab sofort unterlassen. Es ist einfach zu gefährlich.“ Jonathan öffnete den Mund, um zu widersprechen, und er schnitt ihm rasch das Wort ab. „Nein, auch nicht, um den Mann in den Bergen aufzusuchen! Wir werden den morgigen Vollmond hier im Haus, höchstens im Garten verbringen. Ich weiß, dass dir viel daran liegt, ihn zu sehen, aber es geht jetzt einfach nicht mehr. Wenn er mit dir als Mensch nichts zu tun haben will, musst du es einfach akzeptieren.“
Und vermutlich ist es so ohnehin besser für dich, fügte er in Gedanken hinzu. Was auch immer Jonathans Interesse an diesem Mann schürte – es würde sowieso in einer Enttäuschung enden. Besser jetzt als später.
„Wir sind sowieso nicht mehr allzu lange hier“, fuhr er fort. „Ich habe nur noch ein paar Termine zu erledigen – den Rest können wir dann auch von zuhause aus machen. Ich sehe zu, dass ich schnell vorankomme.“
Mit diesen Worten ließ er den überrumpelten Jonathan auf dem Sofa zurück.