Jonathan streckte sich genüsslich und gähnte. Dann erst öffnete er die Augen und sah sich um.
Der Mann schlief noch. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, und er bewegte sich nicht. Er lag auf der Seite in seinem Bett, einen Arm unter das Kissen geschoben, mit dem Rücken zur Wand.
Jonathan lag am Fußende des Bettes. Es war hier viel bequemer als auf dem Boden, und irgendwann in der Nacht war er einfach hinauf gesprungen. Aber jetzt war es an der Zeit, nach Hause zurückzukehren – der Himmel wurde bereits heller, so dass er den Weg in wenigen Minuten wieder würde sehen können.
Leise stand er auf, sprang auf den Boden und blieb neben dem Bett stehen.
Ich gehe heim. Sebastian sorgt sich sonst. Verabschiede ich mich? Lasse ich den Mann schlafen?
Unschlüssig betrachtete er ihn. Er sah entspannt aus, wenn er da so lag. Der Mann war ihm ein Rätsel. Warum war er so ... anders zu ihm, wenn er ihm als Mensch begegnete? Er wollte es unbedingt herausfinden.
Doch dafür musste er nach Hause, sich anziehen, ein wenig mehr schlafen und seinen Rucksack holen. Als Wolf war der Weg hier hinauf kein großes Problem, aber als Mensch, der sich an Wege halten musste und allgemein langsamer, weil weniger trittsicher war, brauchte er deutlich länger.
Vorsichtig näherte er sich dem Gesicht des Mannes. Sein inzwischen so vertrauter Geruch stieg ihm in die Nase.
Zuerst wollte er ihm das Gesicht lecken, hielt dann aber inne. Wer wusste schon, wie er reagierte, wenn er so plötzlich aus dem Schlaf gerissen wurde? Hatte er das Messer bei sich? Er sollte kein Risiko eingehen.
Er brachte wieder einen Schritt Abstand zwischen sie. Dann wuffte er leise.
Sofort öffnete der Mann die Augen.
Jonathan ging einen Schritt auf die Tür zu, sah dann zurück.
Der Mann stützte sich auf einen Ellbogen und rieb sich über die Augen. „Du gehst, hm? Na ja. Wird ja auch schon hell.“
Ja. Ich gehe. Sei nicht traurig.
Jonathan trat noch einmal an das Bett heran, fuhr mit seiner Nase über die Wange des Mannes, seinen Hals hinunter, bis auf seine nackte Brust. Dort konnte er den Eigengeruch des Mannes am intensivsten wahrnehmen, und er atmete tief ein, um ihn sich einzuprägen.
Du kannst zu meinem Rudel gehören. Du musst nicht allein sein.
Der Mann kraulte ihn hinter den Ohren. „Mach’s gut, Kumpel. Es war schön, dass du da warst. Vielleicht kommst du ja mal wieder?“ Hoffnung klang in seiner Stimme mit.
Jonathan schnaubte als Antwort gegen die warme Haut an seiner Nase. Ja. Er wollte gern wiederkommen – aber als Mensch. Er würde so gerne antworten können, wenn der andere ihm Fragen stellte oder etwas erzählte.
Bald.
Mit der Schnauze stieß er sanft gegen das Gesicht des Mannes – eigentlich eine Begrüßung, doch sie schien ihm hier ebenfalls passend zu sein. Dann drehte er sich um, schob die Tür der Hütte auf und trabte hinaus.
Der Anblick des erwachenden Tals war großartig, und seine Laune exzellent. Er verlieh seiner Stimmung mit einem lauten, langen Heulen Ausdruck, dann strebte er gut gelaunt talabwärts zu seinem Bruder.
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Unglücklich verzog er das Gesicht. Das durfte einfach nicht wahr sein. Da war schon wieder dieser Typ, der ihn angeblich kennenlernen wollte! Hatte er ihm nicht ausreichend klar gemacht, dass hier niemand erwünscht war?
Er trat ihm entgegen, bevor er seinem Refugium zu nah kam.
„Was?“ Es klang barsch, und das sollte es.
Der Typ lächelte höflich. „Ich bin hier, um Ihnen ein wenig zuzuhören.“
Er stutzte einen Augenblick. Diese Formulierung ...
Er wischte den Gedanken beiseite. „Ich habe nichts zu erzählen“, wies er den Fremden ab. „Lass mich doch einfach in Frieden.“
„Aber das wollen Sie doch eigentlich gar nicht.“ Der Fremde sah ihn aus ernsten, mitfühlenden Augen an.
Ihn beschlich das unangenehme Gefühl, dass dieser Kerl auf unheimliche Art über ihn Bescheid wusste. Aber wie sollte er von den Zweifeln erfahren haben, die ihn seit wenigen Tagen quälten? Die Vorstellung war lächerlich.
„Du weißt nichts über mich“, stellte er schroff fest.
Der Typ setzte seinen Rucksack ab, als habe er vor, das Gespräch länger andauern zu lassen. „Aber genau darum bin ich doch hier. Sehen Sie, ich habe keine Vorurteile wie die anderen Leute im Tal. Ich möchte, dass wir einander kennenlernen. Ich möchte Ihre Geschichte hören, erfahren, wer Sie wirklich sind, was Sie erlebt haben, dass Sie sich hierher zurückgezogen haben, ohne Freunde, ohne Familie.“
Ärger stieg in ihm hoch. Die Worte berührten ihn mehr, als er es zulassen wollte, scheuchten Erinnerungen auf, die er gründlich vergraben zu haben glaubte.
„Das geht dich nichts an. Hau endlich ab.“
Wütend ballte er die Fäuste. Er hatte mit dem Fremden schon mehr Worte gewechselt als mit jeder anderen Person in diesem Jahr – es wurde Zeit, den Unsinn zu beenden. Jetzt.
Mit wenigen Schritten war er in seiner Hütte verschwunden und schlug die Tür nachdrücklich von innen zu.
„Bitte!“, hörte er durch die geschlossene Tür. „Bitte. Sie sind doch eigentlich ganz anders ...“ Die Stimme brach ab, als wolle der Fremde mehr sagen, doch es blieb still.
Endlich hörte er, wie sich Schritte entfernten. Er wartete einige Minuten, bevor er die Tür wieder öffnete und ins Freie spähte.
Der Kerl schien weg zu sein. Endlich.
Verwirrt sah er auf die drei Verbände hinunter, die vor der Tür zurückgelassen worden waren.
Was wusste dieser Typ über die letzten Tage?