Der kalte Regen, der auf seine nackte Haut prasselte, ließ ihn frösteln, und die im Gras verborgenen Steine stachen schmerzhaft in seine bloßen Fußsohlen. Doch er missachtete die körperlichen Beschwerden und kniete sich neben den Verletzten.
Die Sonne war zwar gerade erst untergegangen, doch die schweren, dunklen Regenwolken ließen keinen Lichtstrahl mehr durch. Als Mensch konnte er im Dunkeln kaum etwas sehen, erinnerte sich aber deutlich an die Eindrücke, die er vor wenigen Minuten gesammelt hatte.
Er drehte den Mann behutsam auf den Rücken und versuchte, sich seinen Arm über die Schultern zu legen.
„Nein“, protestierte der und versuchte kraftlos, Jonathans Hände von sich fortzuschieben. „Hau ab ... lass ihn in Ruhe!“
Es kostete Jonathan kaum Kraft, den halb ohnmächtigen Mann festzuhalten, doch je mehr er ihn ruhigzustellen versuchte, desto mehr wehrte der sich. Wie sollte er ihn zur Hütte, in Sicherheit bringen, wenn er nicht kooperierte?
Natürlich! Schmunzelnd schüttelte er den Kopf – die Lösung war so offensichtlich!
Er begann, leise und beruhigend mit dem Mann zu reden.
„Keine Angst“, adressierte er dessen offensichtliche Hauptsorge, „Der Wolf hat die Jäger in die völlig falsche Richtung gelockt. Sie sind weit weg, und der Wolf ist hier, in Sicherheit.“ Einen Augenblick zögerte er, bevor er weitersprach. „Jetzt müssen wir auch dich in Sicherheit bringen ... Kumpel.“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als ihm diese Bezeichnung fast wie selbstverständlich über die Lippen kam.
„Lass mich diesmal dir helfen. Ich würde dir gerne so viel Fragen stellen, aber wir müssen zu deiner Hütte. Komm, ich stütze dich. Gut so. Komplett tragen kann ich dich leider nicht, aber du kannst dich bei jedem Schritt auf mich lehnen, soviel du es brauchst, ok, Kumpel? Ich wünschte, ich wüsste deinen Namen.“
Langsam erhob er sich aus der knienden Position, stemmte den Mann mit sich in die Senkrechte. Er wog weniger, als Jonathan erwartet hätte – das würde seine Aufgabe etwas erleichtern.
„Wer bist du?“ Die gemurmelte Frage ließ ihn innehalten.
Er wollte nicht lügen. Aber konnte er die Wahrheit sagen?
Waren seine Worte überhaupt von Bedeutung? Würde der Mann sich später an sie erinnern?
Endlich entschied er sich für eine Antwort. „Ich bin dein Freund. Mein Name ist Jonathan.“
Für mehr war vielleicht später noch Zeit.
Die Strecke war ihm als Wolf viel kürzer vorgekommen, und auf Pfoten hatte er auf dem regennassen Untergrund deutlich besseren Halt gefunden als mit nackten Füßen. Das zusätzliche Gewicht des Mannes kostete Kraft, ließ ihn häufig straucheln, dreimal sogar stürzen, und die immer zahlreicheren Verletzungen seiner Fußsohlen machten jeden Schritt quälender als den vorigen.
Er war am Ende seiner Kräfte, als sie endlich die Hütte erreichten.
Vorsichtig bugsierte er den Verletzten ins Trockene, ließ ihn zu Boden gleiten und zog die Tür hinter ihnen zu. Dann gönnte er sich eine kurze Atempause, bevor er nach der Lampe tastete, die mit den Streichhölzern üblicherweise auf einem Regalbrett neben der Tür stand. Erschöpft entzündete er Licht und wandte sich wieder seinem Freund zu.
Er erschrak, als er sah, wie blass er war. Der Weg hierher war eindeutig zu anstrengend für ihn gewesen – aber Jonathan war keine andere Option geblieben.
Er kniete sich neben ihn. „Hey, Kumpel. Wir sind in deiner Hütte angekommen.“ Sanft schüttelte er ihn an der Schulter. Die Lider des Mannes flatterten, doch er bekam keine weitere Reaktion.
Ausgelaugt setzte er sich neben ihn auf den Boden, ließ seinen verschwitzten Körper einen Moment abkühlen.
Sofort schreckte er wieder hoch. Der Mann war unterkühlt – und steckte immer noch in seiner nassen Kleidung! Jonathan durfte noch nicht ausruhen!
Auf den Knien, ohne die verletzten Füße zu belasten, kroch er zum Ofen und sorgte für Wärme.
Er biss die Zähne zusammen, um die Müdigkeit noch ein wenig länger zu unterdrücken. Ohne viel Federlesens schälte er den Mann aus seinen nassen Sachen und warf diese achtlos beiseite.
Dann ließ er auf der Suche nach weiteren Verletzungen seine Augen über den Körper des Mannes wandern. Haare und Bart waren kurz geschnitten und von einem dunklen Braunton, gelegentlich unterbrochen von ein klein wenig Grau. Jonathan schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er war schlank, fast dünn, aber sehnig und ausdauernd. Seine sonst sonnengebräunte Haut war nun bläulich verfärbt. Er sah ein paar Narben, aber keine offenen Wunden außer der am Kopf, die es jetzt zu untersuchen galt.
Wahllos griff er einen der Beutel, die in der Hütte an Nägeln in der Wand hingen. Der erste enthielt Wäsche, der zweite Holzschnitzereien in verschiedenen Fertigungsstadien, aber im dritten wurde er fündig: Verbandsmaterial.
Behutsam tupfte er das Blut von der Haut. Zu seiner Überraschung fand er nur eine Platzwunde direkt unter dem Haaransatz. Kam so viel Blut aus diesem doch eher kleinen Riss? Vorsichtig tastete er die Knochen um die beachtliche Beule herum ab, doch es schien nichts gebrochen zu sein.
Vielleicht hatte der Mann ja nur eine Gehirnerschütterung – im Vergleich zu Jonathans ursprünglicher Angst, es könne sich um einen Schädelbruch oder eine Schussverletzung handeln, war das ein eher kleineres Problem. Er drückte die Wundränder zusammen, bedeckte sie mit etwas sauberem Tuch und wickelte einen Verband um den Kopf, um seine provisorische Konstruktion zu fixieren.
Inzwischen hatte er Mühe, die Augen offenzuhalten. Sobald er für zusätzliche Wärme gesorgt hatte, waren seine Aufgaben erfüllt und er konnte sich endlich ein wenig Ruhe gönnen.
Sein Blick wanderte zum Bett des Mannes. Er war zu entkräftet, um ihn dort hineinzuhieven. Kurzentschlossen zog er die Decke aus dem Bett und wickelte sie eng um den zitternden Körper.
Mehr Wärme!
Mit letzter Kraft wandelte Jonathan sich zum Wolf und schmiegte sich so eng wie möglich an seinen Freund, bevor die Erschöpfung ihn übermannte.