Sebastian fühlte sich großartig. Die Nacht mit dem Rudel im Wald war wunderbar gewesen: Sie hatten sich ausgetobt, gespielt, gejagt, die Rangordnung in kleinen Kabbeleien gefestigt und irgendwann eng aneinandergekuschelt unter dem Blätterdach des Waldes ein paar Stunden geschlafen.
Die Welt fühlte sich so anders an, roch so interessant, wenn man sie mit den Sinnen eines Wolfs betrachtete! Er konnte es nicht erklären, aber in Wolfsform fühlte er sich freier als er es in menschlicher Gestalt je war! Er war eins mit der Natur, mit dem Rudel, selbst mit seiner Beute! Er kostete jede Emotion, die ihn erfüllte, voll aus, ließ sie alle zu und lebte sie aus!
Nun ja, er lebte sie fast alle aus. Trotz seiner Gestalt war er kein Wolf – er war ein Werwolf. Ganz ließ sich das Denken nie abschalten, und so war immer eine leise Stimme in seinem Hinterkopf zu hören, die ihn ermahnte, nicht zu heulen, um keine Menschen auf sie aufmerksam zu machen. Die daran erinnerte, nur ein Beutetier zu erlegen, von dem jeder nur ein kleines Stück abbekam – man musste sich nicht den Bauch vollschlagen, die Kühlschränke zuhause waren gut gefüllt. Die ihm stets an Steffi denken ließ, wenn eine der Wölfinnen sich an ihn schmiegte.
Am frühen Vormittag, als jeder spürte, dass sie der Mond nicht mehr in diese Gestalt zwang, kehrte das Rudel in den Garten zurück, wo sie vom Kinfolk schon freudig erwartet wurden. Wie immer hatten bis auf Sebastian, der von Barbara aufgefordert wurde, sie zu begleiten, alle still gewartet, bis die Leitwölfin überprüft hatte, dass es im und um den Garten sicher war. Dann zwängten sie sich durch die Lücke im Zaun und ließen ihrer Wiedersehensfreude freien Lauf.
Die, deren Familien anwesend waren, stürmten auf diese zu, jaulten leise vor Freude, rieben sich, leckten Gesichter, genossen Streicheleinheiten, bis die Euphorie des Wolfes so weit besänftigt war, dass er sich wieder in seine menschliche Form verwandeln konnte.
Natürlich gab es Wölfe, deren direkte Angehörige nicht da waren oder die gar keine direkten Verwandten hatten. Doch kein Wolf musste sich einsam fühlen, denn diese Tiere wurden vom übrigen Kinfolk herzlich in Empfang genommen, gestreichelt und gekrault. Diese Begrüßung fiel zwar nicht ganz so intensiv und stürmisch aus, doch im Rudelverband war niemand jemals ungewollt alleine.
Als Sebastian sich wieder vollständig unter Kontrolle hatte, wurde er Mensch. Wie üblich war das Erste, was er tat, Steffi in eine stürmische Umarmung zu ziehen und zu küssen. Immer noch spürte er die Instinkte und die Euphorie seines Wolfs überdeutlich, und das Verlangen, sich mit seiner Gefährtin zu paaren, war ihm deutlich anzusehen. Niemand sagte etwas, als er und Steffi sich umgehend ins Haus zurückzogen und die Dusche zuerst für sich beanspruchten – im Rudel kannte jeder jeden, mit allen Stärken und Schwächen. Also wussten auch alle, dass Sebastian sich nach einer Vollmondnacht nach Sex mit seiner Gefährtin verzehrte – und dass die beiden recht schnell wieder auftauchen würden.
Jeder ging anders mit den Gefühlen, die der Vollmond in ihnen erzeugte, um.
Als die beiden frisch geduscht in den Garten zurückkehrten, stand Barbara auf, die sich von einer ihrer Töchter, Tanja, den Bauch hatte kraulen lassen, und wurde Mensch.
Mit einem Pfiff machte sie alle Wölfe auf sich aufmerksam. „Ich gehe duschen – vergesst nicht, dass wir zwei Badezimmer im Haus haben. Das im Erdgeschoss ist also frei.“
Als sie Steffi und Sebastian passierte, hielt der sie auf. „Ich möchte nachher noch was mit dir besprechen“, erklärte er leise. „Können wir uns kurz unter vier Augen unterhalten?“
Sie lächelte. „Natürlich. Soll ich mich beeilen?“
„Nein, es ist nicht so dringend – irgendwann heute reicht. Ich wollte es nur nicht vergessen.“
Barbara nickte. Ihr war sehr wohl aufgefallen, dass Sebastian zwar gesagt hatte, es sei nicht dringend, aber nicht behauptete, es sei nicht wichtig. Er wirkte trotz seiner kurzen Zweisamkeit mit seiner Gefährtin immer noch ein wenig angespannt.
Sie hatte schon bei seiner Ankunft das Gefühl gehabt, er habe etwas auf dem Herzen. Gut, dass er es ihr erzählen wollte – sie würde sich dafür möglichst schnell Zeit nehmen. Doch jetzt musste sie rasch duschen und sich etwas anziehen – die Temperaturen waren zwar immer noch sommerlich, aber hier im Schatten des Hauses war es ohne das wärmende Fell ein wenig kühl.
Sofort, nachdem sie sich angezogen hatte, zog sie sich mit Sebastian ins Wohnzimmer des Hauses zurück. Doch anstatt direkt zur Sache zu kommen, wie er es bei den meisten Angelegenheiten tat, war ihr Stellvertreter ungewöhnlich schweigsam und blickte geistesabwesend durchs Fenster.
Sie trat neben ihn und sah ebenfalls in den Garten hinaus. Die Geräusche im Haus verrieten, dass beide Duschen in Benutzung waren. Von draußen klangen fröhliches Lachen, Gesprächsfetzen und ab und zu ein möglichst unterdrücktes Wolfsgeräusch zu ihnen hinein. Doch zwischen ihnen herrschte Schweigen.
„Was hältst du von unserem Neuen?“, fragte sie.
Sebastian sah zu Julius hinüber, der platt auf den Boden gedrückt dalag und es schwanzwedelnd genoss, wie sein kleiner Sohn auf ihm herumkletterte und ihn an den Ohren zog. „Ich mag ihn“, antwortete er. „Auch als Wolf. Er ist klug und verantwortungsbewusst. Manchmal ein bisschen pampig, aber irgendeinen Fehler hat ja jeder.“
Sie schmunzelte. „Oh, ich habe schon eine Idee, wie wir ihm das abgewöhnen könnten.“ Dann drehte sie sich zu Sebastian herum. „Aber jetzt raus mit der Sprache. Worüber machst du dir Sorgen?“
Er nickte stumm, den Blick immer noch in den Garten gerichtet. Jonathan lag eng bei Mareike und Steffi, und Sebastian beobachtete die drei noch einen Augenblick, bevor er Barbara ansah. „Jonathan hat einen Menschen kennengelernt, den er für Kinfolk hält, obwohl der noch nie im Leben etwas von Werwölfen gehört hat. Er ist sich so unglaublich sicher damit, dass er ihm von uns erzählt hat und ihn einladen möchte, das Rudel kennenzulernen.“
Überrascht sah Barbara ihn an. „Kinfolk? Woran will er das erkannt haben?“
Sebastian verzog das Gesicht. „Keine Ahnung. Er kann es nicht begründen, überhaupt nicht, aber ... Barbara, ich habe noch nie erlebt, dass er von etwas so überzeugt war.“
Mit einer Handbewegung forderte sie ihn auf, sich auf Sofa zu setzen, wo sie neben ihm Platz nahm. „Erzähl mir das genauer.“
Und Sebastian erzählte. Er berichtete von ihrer Zeit in den Bergen, von Thomas, von der Neugier, die Jonathan ihm vom ersten Tag an entgegengebracht hatte, und dem gegenseitigen Interesse der beiden aneinander, der Freundschaft, die schon nach so kurzer Zeit daraus entstanden war.
Als er geendet hatte, konnte er förmlich sehen, wie es hinter Barbaras Stirn arbeitete. „Du hältst ihn nicht für einen Jäger, oder? Jonathan glaubt immer an das Beste in jedem – denkst du, dieser Thomas manipuliert ihn, um an das Rudel heranzukommen?“
Sebastian stutzte. Über diese Möglichkeit hatte er bisher nicht nachgedacht. Konnte das sein?
„Ich glaube nicht“, schloss er nach kurzer Überlegung. „Laut unseren alten Schulkameraden im Ort ist er seit über einem Jahr schon dort. Ich weiß ja, dass Jäger sich gut vorbereiten, aber so lange in einer Hütte in der Einsamkeit leben? Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.“ Er sah Barbara ernst an. „Und ich glaube nicht, dass man Jonathan so leicht hinters Licht führen kann, wie du denkst. Er ist ein herzensguter Kerl, das stimmt, aber er hat auch wache Instinkte, insbesondere, wenn es darum geht, ob man ihn ausnutzt oder hintergeht.“
Barbara lächelte. Da sprach nicht nur der stellvertretende Leitwolf, sondern auch der große Bruder. „Was schlägst du also vor?“
Sebastians Antwort kam schnell – offensichtlich hatte er die Argumente schon lange erwogen, sodass seine Meinung feststand. „Ich würde ihn einladen.“
Es verging fast eine Minute, bis Barbara wieder das Wort ergriff.
„Du weißt, ich bin ehrlich, Sebastian. Wir beide sind seit zwei Jahren ein gutes Team, wenn es um die Rudelführung geht. Du nimmst die Verantwortung für die anderen ernst. Aber in diesem Punkt habe ich das Gefühl, dass deine Prioritäten falsch liegen. Du willst deinem Bruder einen Gefallen tun und übersiehst dabei das Risiko, dem du das Rudel dabei aussetzt. Es ist zu gefährlich, einen völlig Fremden zu einem Treffen einzuladen, bei dem das ganze Rudel anwesend ist.“
Hastig hob Sebastian die Hände und Barbara machte eine Pause, um seinen Einwand anzuhören. „Ich wollte ihn nicht zum Rudeltreffen einladen!“, erklärte er. „Ich dachte, wir könnten ihn einfach an irgendeinem Wochenende zum Beispiel zu uns holen und jeder, der Zeit und Lust hat, kommt vorbei und lernt ihn kennen.“
Er konnte den Blick, den Barbara ihm zuwarf, nicht deuten. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit nickte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. „Na schön – so können wir das lösen. Beschnuppern wir das angebliche Kinfolk mal. Sag Bescheid, wenn es so weit ist.“
Gerade, als Sebastian etwas antworten wollte, ertönte ein Geräusch von der halb offenen Wohnzimmertür, das sie beide herumfahren ließ.
„Margot!“, rief Barbara missbilligend aus. „Wie lange stehst du da schon?“
Auch Sebastian warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Die Neugier dieser Werwölfin war legendär, weswegen es alles andere als unangemessen war, sie des Lauschens zu verdächtigen.
„Oh, erst seit gerade eben“, antwortete Margot mit einem völlig unschuldigen Lächeln. Ihr Haar war vom Duschen noch ganz nass. Wie lange war es her, dass das Wassergeräusch verstummt war? Sebastian hatte nicht darauf geachtet. „Ich habe Stimmen gehört und dachte, wenn ich schon wieder in den Garten gehe, könnte ich fragen, ob ich euch was zu trinken bringen soll.“
„Nein, danke“, wies Barbara sie halb besänftigt ab.
Ohne eine Miene zu verziehen, ging Margot hinaus. Man wusste nie, was sie alles gehört hatte, aber es war immer gut, davon auszugehen, dass es zu viel war.
Seufzend wandte Barbara sich wieder Sebastian zu. „Na ja. Wir waren ohnehin fertig, oder? Gibt es noch etwas, das du besprechen möchtest?“
Der schüttelte den Kopf. „Und du?“
„Ich auch nicht. Dann ist alles geklärt – lass uns zu den anderen gehen. Ich rieche das Grillfleisch schon!“
Sebastian lächelte. „Ja – ich hab auch einen Bärenhunger!“
Er fühlte sich erleichtert und endlich so entspannt, wie er es nach einer Vollmondnacht sollte, als er hinter Barbara wieder in den Garten hinaustrat. Er war nicht sicher gewesen, ob er Barbaras Segen für seinen Plan erhalten würde – alles, was er ihr hatte anbieten können, waren sein Bauchgefühl und einige Vorsichtsmaßnahmen. Es war ein großer Vertrauensbeweis, dass sie sein Vorhaben dennoch genehmigte.