Mit dem Zeigefinger fuhr Steffi sacht die Linien nach, denen Sebastians Brusthaare folgten. Es amüsierte sie insgeheim, dass sich dieses Muster auch in Wolfsform auf seinem Brustkorb abzeichnete – daran würde sie ihn immer erkennen! Aber das verriet sie nicht einmal ihm – das blieb ihr ganz privates kleines Detail.
Er brummte wohlig und zog sie noch ein Stück enger an sich. Eine Weile lagen sie einfach nur still da und genossen die Wärme und Nähe des jeweils anderen. Dann regte Sebastian sich ein wenig, seufzte und suchte nach Worten.
Endlich! Steffi hatte bereits Sorge gehabt, Jonathan könnte sich das erste Mal geirrt haben, was seinen Bruder betraf. Lächelnd entschuldigte sie sich in Gedanken bei ihm und wartete darauf, dass Sebastian das Wort ergriff.
„Wir haben einen komischen Typen in den Bergen getroffen“, fing er dann an. „Jonathan und ich sind rumgetollt, und ein paar Steine sind ins Rutschen gekommen und haben Jona unter sich begraben und ihm die Hinterläufe gebrochen.“
Obwohl sie wusste, dass inzwischen alles wieder in Ordnung war, hob Steffi den Kopf und sah ihn betroffen an. Doch sein Lächeln war beruhigend und sie kuschelte sich wieder an seine Schulter.
„Inzwischen ist alles okay. Jona war damals ganz außer sich vor Angst, aber dann kam dieser Kerl, hat mich verjagt – der dachte ernsthaft, ich wolle meinem eigenen Bruder was antun! – und hat ihn da rausgezogen und verarztet.“
„Ihr kanntet den nicht?“
Sie spürte, wie Sebastian nachdenklich den Kopf schüttelte. „Wir haben später rausgefunden, dass er seit über einem Jahr da oben lebt. Ganz schön weit weg vom Dorf. Lukas, unser alter Schulkamerad, mag ihn nicht besonders, hält ihn sogar irgendwie für gefährlich. Er weiß ja nicht, dass wir uns durchaus verteidigen können ...“
Für eine Weile verfiel er in Schweigen.
„Und was hältst du von ihm?“, regte Steffi ihn zum Weiterreden an.
Sein Zögern war ungewöhnlich. Als sie wieder zu ihm aufsah, drehte er sich ein Stück unter ihr weg, sodass er neben ihr lag und ihr in die Augen schauen konnte.
„Ich weiß nicht“, gestand er. „Er ist tapfer und selbstbewusst – ich hab mich fast mit ihm gestritten, und er ist nicht mal zurückgewichen. Aber ... er interessiert sich ziemlich für Jona.“
Steffi sah ihn erwartungsvoll an. „Und?“
„Was und?“
„Was ist daran so außergewöhnlich? Erzähl mir mehr: Inwiefern interessiert er sich für ihn – als Wolf? Als Mensch? Und was hält Jonathan davon?“ Sie verstand das Problem noch nicht.
Sebastian seufzte frustriert. „Ich weiß es nicht! Die beiden haben sich ein paarmal getroffen. Jona hat ihm ganz schön viel erzählt. Zu viel eigentlich. Aber er hält ihn für Kinfolk. Ich habe selten erlebt, dass er sich einer Sache derartig sicher war!“ Er machte wieder eine Pause, bevor er leise anfügte: „Die letzte Nacht hat er sogar komplett bei ihm verbracht.“
Jetzt verstand Steffi Sebastians Problem. Kein Wunder, dass er es Jonathan gegenüber nicht ausgesprochen hatte.
„Er ist dein Bruder, Schatz.“ Zärtlich strich sie ihm über die Wange. „Selbst, wenn dieser andere Kinfolk ist und sein bester Freund wird – du bist und bleibst sein großer Bruder! Niemand wird je deinen Platz einnehmen können.“
Sebastian schloss die Augen, legte eine Hand auf ihre und schmiegte seine Wange hinein. „Sicher?“
Zärtlichkeit lag in Steffis Blick, als sie ihren Gefährten ansah. Er war ein beeindruckender Mann, ein intelligenter Anwalt und ein kluger, starker Wolf, der ihr Rudel eines Tages anführen würde. Nur sehr wenigen Personen gewährte er ab und an einen Blick hinter die Fassade des unbeirrbaren Kämpfers.
„Sicher“, antwortete sie voll ehrlicher Überzeugung. Und dann sprach sie das aus, von dem sie wusste, dass es ihrem Gefährten insgeheim Angst machte. „Selbst, falls er sich in ihn verliebt hat.“
Erschrocken riss Sebastian die Augen auf. „Glaubst du, dass das sein könnte?“
Betont lässig hob sie die freie Schulter. „Alles ist möglich, das weißt du, auch das Unwahrscheinliche. Aber wäre das wirklich ein Problem?“
Sowohl Jonathan als auch Sebastian sprachen noch nicht einmal gerne über die Möglichkeit, dass jemand aus ihrem Bekanntenkreis sich für das eigene Geschlecht interessieren könnte. Sie verstand nicht, woran das lag – eigentlich waren beide tolerante, offene Personen. Ob das Unwohlsein bei diesem Thema ihrer Erziehung geschuldet war? Oder hatten sie etwas erlebt, das sie allgemein nicht gerne darüber nachdenken ließ?
Steffi wusste, dass unter Säugetieren, zu denen nun einmal auch Menschen, Kinfolk und Werwölfe zählten, Homosexualität nichts Ungewöhnliches war. Dass manche Leute damit ein Problem hatten, war ihr nicht nur unverständlich, es tat ihr auch ehrlich leid. Und ausgerechnet ihr Gefährte ... Sie liebte ihn, doch in diesem Punkt verstand sie einfach nicht.
Wie sie erwartet hatte, versuchte Sebastian, ihrem Blick und damit dem Thema auszuweichen. Diesmal ließ sie das aber nicht zu.
„Sebastian. Hör mir zu. Es ist vollkommen gleichgültig, wen Jonathan kennenlernt und in welcher Beziehung er zu dieser Person steht – du bist sein großer Bruder, und er liebt dich abgöttisch. Ganz sicher. Daran wird nichts und niemand jemals etwas ändern. Vertrau mir.“ Sie küsste ihn auf die Stirn und er schloss seufzend die Augen.
Er sagte nichts weiter dazu, aber Steffi spürte seine Unruhe dennoch. Ohne, dass er es aussprach, wusste sie, was er sich erhoffte.
Nun gut. Sie würde ihm den Gefallen tun. „Soll ich versuchen, mehr rauszufinden?“
Er nickte dankbar und kuschelte sich in ihre Arme. Vorerst war das Thema damit erschöpfend behandelt, und er war froh, das Thema wechseln zu können. Mit zärtlichen Küssen in Steffis Halsbeuge machte er sich genüsslich daran, auch seine Freundin wieder auf völlig andere Gedanken zu bringen.