Sie saßen immer noch vor der Hütte, als der Mond hinter den höchsten Gipfeln verschwand. Außer den Sternen erleuchteten nur gelegentliche Satelliten und Flugzeuge den dunklen Himmel, und auch im Tal verloschen langsam die Lichter.
Der Mann hatte vor einer Weile zu sprechen aufgehört, die Grillen waren des Zirpens längst überdrüssig, und so untermalte nur das leise Plätschern des nahen Bachs die nächtliche Stille.
Jonathan war kurz davor, einzuschlafen, als der Mann sich regte.
„Mir wird langsam kalt, Kumpel. Ich hab kein Fell wie du – und ich muss ins Bett, ich bin hundemüde.“ Er ließ ein kurzes, amüsiertes Schnauben hören. „Wolfsmüde – du bewegst dich ja auch kaum noch!“
Jonathan stand auf, um dem Mann Platz zu gewähren, streckte sich ausgiebig und gähnte.
Ich bin auch müde. Aber mir ist nicht kalt. Es ist ein schöner Sommer.
Missmutig blickte er den dunklen Hang hinunter. Es war zwar nicht unmöglich, aber viel schwieriger, nach Hause zu laufen, wenn man wenig sah. Er hatte wenig Lust, erneut in so ein heimtückisches Geröllfeld zu geraten.
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Sein Hals schmerzte schon wieder. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass der Wolf ein weiteres Mal bei ihm auftauchen würde, aber als er dann plötzlich da war und sogar freiwillig zu ihm gelaufen kam, hatte er vor Freude wieder zu reden begonnen, um das Tier zu beruhigen. Nicht, dass es aggressiv gewesen wäre, oh nein. Es sollte nur nicht erschrecken und davonlaufen – er wollte, dass es eine Weile blieb.
Er hatte sich überhaupt nicht bedroht gefühlt, als der Wolf ihm so nahe kam, obwohl er wehrlos auf dem Boden saß. Er wollte so gerne glauben, dass der Wolf ihn mochte, dass er völlig bereit war, dieses Risiko einzugehen – rational betrachtet ausgesprochen unvernünftig.
Aber es hatte sich gelohnt! Er lächelte unwillkürlich, als er daran dachte, wie der Wolf ihn erst schnüffelnd einer Art Prüfung unterzogen und dann, als er diese bestand, sogar abgeleckt hatte. Er freute sich offenbar ebenfalls, ihn zu sehen.
Und dann saßen sie bis spät in die Nacht draußen.
Der Wolf schien gern seine Stimme zu hören, also tat er ihm den Gefallen, so lange seine Stimmbänder mitspielten. Es war letztendlich egal, was er sagte, Hauptsache, er sprach, und doch gefiel es ihm, dem Wolf ein paar seiner Gedanken anzuvertrauen. Er hatte sogar einen Dialog vorgetäuscht, einfach, weil es Spaß machte – und er könnte schwören, dass der Wolf gegrinst hatte!
Vielleicht hatte er sich ja von seinem Spaß anstecken lassen. Konnten Wölfe grinsen?
Jetzt war es jedoch bereits spät in der Nacht, und nachdem er die ganze Zeit auf dem nackten Boden gesessen hatte, war er richtiggehend durchgefroren. Er hatte diesen Moment so lange wie möglich hinausgezögert – aber alles endete irgendwann, ob man es wollte oder nicht.
Er stand vor seiner Tür und sah zu dem Wolf hinüber, der sich dem Tal zugewandt hatte.
Er würde ihn vermissen. Aber er würde ihn natürlich nicht aufhalten können. Er wollte es auch nicht.
Gefangen genommen zu werden war schrecklich.
Es war Zeit. Er schob die Tür seiner Hütte auf und trat hindurch.
Als er sich nochmals umwandte, nach draußen sah, schaute der Wolf ihn an. Das Tier wirkte unschlüssig – ganz wie er selbst.
Aus einem Impuls heraus fragte er: „Willst du hierbleiben?“
Natürlich war die Frage sinnlos.
Sein ganzes Verhalten war sinnlos. Er redete mit einem Tier wie mit einem Menschen, nährte eine irrationale Hoffnung auf freundschaftliche Gesellschaft. Was war nur los mit ihm?
Die Musik vor zwei Tagen hatte irgendetwas in ihm ... angestoßen. Er wollte das aber nicht.
Er brauchte kaum etwas hier oben, erst recht niemanden zum Reden, und ganz besonders niemanden, der ihn nicht einmal verstand. Er war doch glücklich hier! Er hatte, was er brauchte, das genügte vollauf!
Sein frustriertes Seufzen ließ den Wolf einen Schritt auf ihn zukommen.
„Vergiss es, Kumpel“, sagte der Mann entschlossen. „Ich halte dich nicht auf. Du lebst dein Leben, und ich meines. Du bist mir nichts schuldig.“ Verärgert schüttelte er den Kopf. „Und ich rede schon wieder mit dir, als würdest du mich verstehen. Entschuldige. Geh, such dein Rudel. Du hast doch bestimmt eins.“
Doch statt sich abzuwenden, wie er es erwartet hatte, kam der Wolf zu ihm getrabt und schob sich durch die geöffnete Tür, lief zu dem Platz, an dem er schon einmal geschlafen hatte, und legte sich hin. Seine ganze Körperhaltung signalisierte: ‚Hier bleibe ich.‘
Er wollte, dass er blieb. Aber war das richtig? Was, wenn der Wolf sich seinetwegen an Menschen gewöhnte? Es würde ihn gefährden.
Unsicher starrte der Mann auf den Wolf hinab.
Aber er würde ihn jetzt kaum verjagen können – erstens war es zu gefährlich, ein wildes Tier zu bedrohen, und zweitens wollte er es ja gar nicht, wenn er ehrlich war.
„Na dann“, sagte er nur und schloss die Tür nur so weit, dass ein Spalt offenblieb.
Es war nicht richtig, davon war er überzeugt.
Aber ein Teil von ihm freute sich einfach nur über seinen neuen Freund.