„Bist du dir wirklich sicher?“, fragte Jonathan noch einmal nach.
Thomas‘ ernstes Nicken überzeugte ihn. Er wollte das nicht nur, er musste das wissen, Jonathan sah es in seinen Augen. Und er konnte es verstehen.
Er stand auf, ging einige Schritte vom Bett fort, in die Mitte der Hütte, wo er Platz hatte. Er mochte es gar nicht, sich in Anwesenheit anderer Personen zu verwandeln, und am liebsten hätte er Thomas gebeten, sich umzudrehen oder die Hütte wieder zu verlassen. Aber wenn er das wahre Ausmaß der Werwolfverwandlung erfahren sollte, musste er ihm dabei zusehen.
Noch einmal sah er zu Thomas hinüber. Der saß weiterhin auf der Bettkante, hielt sich mit den Händen an der Matratze fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, und leckte sich nervös über die Lippen, doch sein Blick war entschlossen.
Also ließ Jonathan nach einem kurzen Zögern die schützende Decke fallen und konzentrierte sich auf seine Gestalt.
Thomas war innerlich aufgewühlt. Hatte er sich richtig entschieden oder waren das jetzt seine letzten klaren Momente? Falls dem so war, war es ausgesprochen bizarr, dass der letzte Anblick, der sich ihm bei vollem Verstand bot, ein nackter Mann mitten in seiner Hütte war. Ein gut gebauter nackter Mann – entweder forderte das Werwolfdasein körperlich, oder er machte Sport. Ganzkörperübungen. Es war nicht wie bei einem Fitnessstudiojünger, der nur bestimmte Muskelpartien trainierte. Thomas tippte darauf, dass Werwölfe sportlich sein mussten – die Narben, die sich auf Jonathans Körper abzeichneten, hielt er zumindest teilweise für alte Kampfverletzungen.
Eine Kakofonie leiser Geräusche riss Thomas aus seinen wirren Gedanken. Er hatte so etwas noch nie gehört, konnte es auch nicht wirklich beschreiben: Ein Dehnen, als würde Leder zu stark gezogen, ein Schaben, wie wenn gebrochene Knochenenden aufeinander rieben, ein seufzendes Stöhnen, als würde Luft in einen großen Hohlraum gesaugt.
Doch er achtete nur am Rande auf die Geräuschkulisse. Er hatte gewusst, was passieren würde, aber es mit eigenen Augen zu sehen, war so absurd, dass sein Verstand dem Geschehen kaum folgen konnte.
Aus Jonathans Haut sprossen Haare, die schon nach wenigen Augenblicken das dunkle Fell ergaben, das auch seine Wolfsgestalt vollständig bedeckte. Seine Haltung veränderte sich, Glieder streckten sich, er wurde größer, muskulöser, raubtierhafter. Die Ohren verschoben sich, wuchsen in die Länge, genau wie der Kiefer und die Zähne, die bereits nach Sekunden ein gefährliches Raubtiergebiss bildeten. Neben dem Gesicht verformten sich Hände und Füße am meisten: Die Fingernägel wurden zu langen Krallen, die Mittelfußknochen verlängerten sich grotesk, bis das Wesen nur noch auf den Zehen stand.
Es war deutlich über zwei Meter groß, sodass es gebückt in Thomas‘ Hütte kauerte und ihn mit leuchtenden Raubtieraugen ansah.
Mit angehaltenem Atem starrte Thomas auf das Ding, das da vor ihm hockte. Er hörte sein witterndes Schnüffeln, sah, wie es ihn fixierte – er wusste instinktiv, dass er vollkommen chancenlos war, wenn diese Bestie beschloss, dass er eine Bedrohung darstellte. Sie war mit nichts vergleichbar, von dem er je gesehen oder gehört hatte.
Die Körperhaltung des Wesens – des Werwolfs – war angespannt, genau wie seine eigene, und diese Augen, die ihn musterten, als sei er ein mögliches spätes Abendessen, jagten ihm kalte Schauer über den Rücken. Und der Geruch ... das Ding roch wie ein Wolf. Wie ein Hund.
Hatte er sich nicht kurz überlegt, einen Hund anzuschaffen? Das war die Gelegenheit ...
Oh Gott, verlor er jetzt den Verstand? Hatte Jonathan sich geirrt?
Aber konnte er überhaupt verrückt sein, solange er darüber nachdenken konnte, ob er bei klarem Verstand war?
Im Geiste ging er die Fragen durch, die er Verletzten stellte, um zu prüfen, ob sie ganz bei sich waren.
Wie war sein Name? – Thomas. Thomas Hessler, Hauptfeldwebel außer Dienst.
Wo war er? – In seiner Hütte, auf seinem Grundstück in den Bergen.
Welcher Tag war heute? – Sonntag. Morgen würde Jonathan abreisen.
Was würde er als Erstes tun, wenn er jetzt aufstand? – Keine Ahnung. Die Situation war zu bizarr, um darauf eine vernünftige Antwort zu haben.
Gut. Er selbst hielt sich nicht für verrückt. Nicht, dass das besonders objektiv war, aber immerhin.
Er saß einem Werwolf gegenüber. Einem gigantischen Wesen, das tatsächlich wie eine Mischung aus Mensch und Wolf aussah. Es ging auf zwei Beinen, falls es an einem Ort war, an dem es stehen konnte – hier stand es sehr gebückt. Er nutzte seine Hände, wie es demonstrierte, als es den Hocker vor dem Ofen behutsam beiseitenahm, um mehr Platz zu haben. Und es war intelligent, wie Thomas in den hellblauen Augen eindeutig sehen konnte. Es war ganz gewiss das gefährlichste Raubtier auf diesem Planeten.
Es?
Jonathan. Das war trotz aller Veränderung immer noch Jonathan ... sein Wolf. Sein Wolf, der sich in einen Menschen verwandeln konnte. Die Augen waren immer noch dieselben.
Langsam stand Thomas auf, wartete einen Moment, bis seine leicht zitternden Knie ihn trugen, und machte einen Schritt auf den Werwolf zu.
Jonathans Kopf näherte sich ihm und schnüffelte vorsichtig.
„Das ... das bist immer noch du. Nicht wahr?“ Thomas Stimme war rau vor Nervosität, sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und doch ... Er fürchtete den Werwolf vor sich nicht. Er war fasziniert und erschüttert, doch nicht verängstigt. Es war immer noch Jonathan – er hielt an dem Gedanken fest, konzentrierte sich immer wieder darauf.
„Bin ich.“
Der Werwolf sprach. Das war dann doch zu viel. Thomas‘ Knie wurden weich, als er die tiefe, kehlige Stimme vernahm. Bevor er jedoch auf dem Boden auftraf, umfing eine ... Pfote? ... seinen Oberarm und hielt ihn so mühelos aufrecht, als sei er eine Puppe.
„Alles ok?“, fragte Jonathan, und tatsächlich glaubte Thomas, etwas wie Besorgnis in seinen Augen zu erkennen.
Er nickte, und Jonathan gab ihn frei. Immer noch vollkommen ungläubig musterte Thomas dessen Werwolfgestalt. Dann hob er eine Hand an die behaarte Schnauze, als wolle er sich mit eigenen Händen von der Wirklichkeit dieses Anblicks überzeugen, hielt aber kurz vor der Berührung inne.
Jonathan bewegte sich das fehlende Stück auf ihn zu, sodass Thomas‘ Fingerspitzen über das Fell seiner Wange glitten. „Wie geht es dir?“, fragte er, und schob seine Nase dicht an Thomas, um sich ein eigenes, olfaktorisches Bild davon zu machen.
Der Kontakt zwischen der kühlen, feuchten Nase sowie den Tasthaaren und der Haut seiner Halsbeuge ließ Thomas zurückzucken. Doch er lächelte, als er Jonathan in die Augen sah und sich die Stelle rieb. „Das kitzelt“, sagte er verlegen.
Dann fasste er mehr Mut. „Darf ich?“, fragte er und streckte wieder seine Hand aus. Jonathan nickte, woraufhin Thomas vorsichtig seine Schnauze, seine Ohren und seine Schultern betastete.
„Das ist unglaublich“, murmelte er. „Tut die Verwandlung weh?“
Jonathan schnaubte, was in Thomas‘ Ohren wie Belustigung klang. „Beim ersten Mal tut es sehr weh. Es macht einen fast wahnsinnig. Nicht alleine sein ist wichtig. Man muss das erst lernen. Aber es wird einfacher. Jedes Mal wird es einfacher.“
Dann stupste er ihn neugierig mit der Nase an und schnupperte wieder. „Du fürchtest dich nicht!“ Freude klang in der grollenden Stimme mit.
Thomas blieb fast das Herz stehen, als hinter Jonathan ein unerwartetes, klatschendes Geräusch ertönte, als der heftig mit dem Schwanz zu wedeln begann. „Hast du mich erschreckt“, keuchte er und legte sich demonstrativ die Hand auf die Brust. „Warum tust du das?“
„Was?“ Mit neugierig schiefgelegtem Kopf sah der große Werwolf so lustig aus, dass Thomas verhalten grinste. „Schwanzwedeln!“
Jonathan sah über die Schulter, als müsse er sich überzeugen, dass Thomas Recht hatte. „Oh.“ Dann sah er wieder zu Thomas zurück. Er öffnete die Schnauze und verzog die Lefzen – es ähnelte entfernt einem Lächeln. „Aufregung!“
Mit einem kräftigen Schubs seines Kopfes stieß er Thomas von den Füßen, sodass der unsanft auf seinem Hintern landete, bevor er eine warme, feuchte Zunge über sein Gesicht fahren spürte.
„Kinfolk“, brummte der Werwolf glücklich und sah mit seinen hellblauen Augen begeistert auf Thomas hinunter.