Jonathan erstarrte. Wie sollte er reagieren?
Wenn er sich als Mensch zeigte, würde sich alles verändern. Aber war es nicht ohnehin schon zu spät, um am Status quo festzuhalten? Der Mann hatte Verdacht geschöpft, glaubte nicht mehr, dass sein wölfischer Freund nur das war, wonach er aussah.
„Bitte. Ich zweifle langsam an meinem Verstand.“
Es waren diese Worte, die ihn aus seiner Starre erlösten. Er wollte nicht, dass der Mann glaubte, verrückt zu werden. Rückwärts, den Mann immer fest im Blick, schob er sich durch die Tür zurück ins Freie, nahm im Vorbeigehen die Gurte des Rucksacks zwischen die Zähne und zog ihn mit sich.
Niemand war in der Nähe, dennoch zog er sich hinter die Hütte zurück, um sich zu verwandeln und anzuziehen.
Mit feuchten Handflächen und wild klopfendem Herzen trat er wieder an die Tür der Hütte. Was würde jetzt passieren?
~~~
Der Wolf hatte den Rucksack mitgenommen.
Allein diese Tatsache war schwer zu begreifen.
Aber es passte in das bizarre Bild, das die vielen Puzzleteile der letzten Tage in seinem Kopf ergeben hatten.
Er saß reglos auf der Kante des Bettes. Alles fühlte sich seltsam unwirklich an, und er fragte sich ernsthaft, ob er halluzinierte. Während er abwartete, wanderte sein Blick immer wieder zur offenen Tür, als böte sie Antworten auf seine vielen Fragen.
Dann erschien der Typ im Türrahmen, mit dem leeren Rucksack in der Hand und den Kleidungsstücken am Leib, ein verlegenes Lächeln auf dem Gesicht.
„Hi.“
Fassungslos starrte er ihn an.
Der Kerl und der Wolf ... waren dieselbe Person. Dasselbe Wesen. Er konnte sich verwandeln.
Das hieß, er hatte mit diesem Typen gekuschelt und ihm Dinge anvertraut, die er niemandem je erzählte. Hatte mit ihm im selben Bett geschlafen. Hitze stieg ihm ins Gesicht.
„Ich bin Jonathan“, sagte der Typ.
Sein Retter aus der letzten Nacht hatte sich ebenfalls mit diesem Namen vorgestellt.
Er räusperte sich, um seine Stimme zu klären. „Äh ...“
Dann wurde ihm mit einem Mal bewusst, dass er fast nackt auf der Bettkante saß, und er schlang hastig die Decke um sich.
„Moment!“ Mit einem raschen Schritt war er bei der Tür und drückte sie zu.
Er würde sich etwas anziehen und dadurch Zeit zum Nachdenken gewinnen.
~~~
Verdutzt stand Jonathan vor der verschlossenen Tür. Was war denn jetzt los? Bislang hatte der Mann sich nie vor ihm geschämt ...
Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen, als er es verstand. Für ihn war er ein Fremder, nicht sein Freund, der Wolf. Natürlich hätte Jonathan das erwarten müssen, doch für ihn war die Verwendung unterschiedlicher Erscheinungsformen so selbstverständlich, dass er nicht darüber nachgedacht hatte. Für den Mann war er nur der aufdringliche Mensch, dem er schon zweimal die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte.
Aber diesmal hatte er um einen Moment gebeten – bedeutete das nicht, dass er mit ihm reden würde? Hoffnungsvoll wartete er ab.
~~~
Mit geschlossenen Augen ließ er sich gegen die Tür sacken und holte tief Luft, um sie dann langsam und kontrolliert aus den Lungen strömen zu lassen.
Dieser Jonathan war tatsächlich der Wolf.
Es gab Gestaltwandler. Nicht nur in Büchern und Filmen. Auch in der Realität.
Sicherheitshalber kniff er sich fest in den Arm. Es schmerzte. Kein Traum.
Es gab Gestaltwandler. Wie den Mann draußen, der sich in einen Wolf verwandeln konnte.
War er damit ein Werwolf? Gab es die? Würde er ihn beißen? Seine Finger klammerten sich in die Decke und sein Herz schlug unangenehm heftig bis zum Hals. War da gerade nur das bisschen Holz der Tür zwischen ihm und einem hochgefährlichen ...
Energisch rief er sich selbst zur Ordnung. Wenn dieser Jonathan ihm etwas hätte antun wollen, hätte er das längst erledigen können.
Aber was wollte er von ihm?
Es gab wohl nur einen Weg, das herauszufinden. Dieser Jonathan hatte ihm Gesellschaft geleistet und ihn aus einer Notlage befreit – er schuldete ihm daher wenigstens Höflichkeit und die Chance, zu erklären, was genau er bei ihm suchte.
Entschlossen straffte er sich, zog sich endlich etwas über und öffnete die Tür.
„Hallo.“ Dann zögerte er und betrachtete Jonathan, der mit erwartungsvollem und zugleich besorgtem Gesichtsausdruck geduldig vor der Tür stand, zum ersten Mal genauer.
Sein Gegenüber war eher durchschnittlich groß, sodass er ein paar Zentimeter auf ihn heruntersah, und nur wenige Jahre jünger als er. Er wirkte fit – ganz wie sein nackter Retter, dessen Existenz er sich inzwischen recht sicher war. Zu seiner Überraschung war das Haar des Anderen rotbraun, anders als das dunkle Wolfsfell, doch die intelligenten hellblauen Augen waren dieselben – warum war ihm das bei ihren früheren Begegnungen nicht aufgefallen? Wie bei seinem Wolf war ihr Blick freundlich und offen, nicht verschlagen oder berechnend. Sorge und ein wenig Angst waren darin zu lesen, aber keine Aggressionen.
Er versuchte sich an einem Lächeln. „Entschuldige, ich ... Ich weiß gar nicht, was ... Das alles überfordert mich ein bisschen.“
Dann fiel ihm ein, was er letzte Nacht gehört hatte. Ich wünschte, ich wüsste deinen Namen.
Er streckte Jonathan beherzt die Hand hin. „Ich bin Thomas.“