Lukas setzte ein höfliches Lächeln auf, als die Glocke an der Ladentür einen Besucher ankündigte. Doch das Lächeln gefror, als er erkannte, wer da in der Tür stand und ihn ansah. Dieser unfreundliche Verrückte aus der Hütte in den Bergen.
Dessen Anblick beunruhigte Lukas. Was wollte er hier? Es war viel zu früh für den Einkauf, den der Typ regelmäßig bei ihm tätigte. Außerdem war sein Verhalten seltsam. Er sah Lukas direkt an – üblicherweise machte er sich eilig daran, seine Vorräte aufzustocken und den Laden schnellstmöglich wieder zu verlassen, ohne ihm mehr Beachtung zu schenken als nötig.
Und er lächelte. Das war die größte Abweichung vom üblichen Muster.
„Guten Tag.“
Lukas traute seinen Ohren kaum. Der Kerl hatte noch nie höfliche Konversation mit ihm betrieben. Mit niemandem im Ort. Irgendetwas stimmte hier nicht ... Er behielt den Typen fest im Blick, antwortete aber nicht.
Der trat nun vollständig in den Laden hinein, räusperte sich und setzte zum Sprechen an.
Lukas runzelte die Stirn. Er hatte kein Interesse daran, den Mann anzuhören. Er duldete ihn trotz seiner Unhöflichkeit als Kunden, weil er keinen Ärger machte, gezielt seine Einkäufe zusammenstellte, zuverlässig zahlte und rasch wieder verschwand. Und wenn es nach Lukas ging, würde das auch der einzige Kontakt bleiben, den sie hatten.
Doch der Typ sah das wohl anders.
„Ich bin hier, um mich zu entschuldigen. Für mein Verhalten, meine ich. Ich war, seit wir uns kennen, ziemlich ...“
„Unhöflich?“, schlug Lukas gereizt vor.
Doch sein Gegenüber ließ sich nicht aus der Fassung bringen. „Oh ja. Das trifft’s ziemlich genau. Ich würde gern noch mal von vorn anfangen.“
„Kein Interesse. Nehmen Sie, was sie brauchen, zahlen Sie und gehen Sie wieder.“
Das unangebrachte Lächeln im Gesicht seines Gegenübers verschwand endlich. Doch anstatt sich die in Dosen und Gläser eingemachten Nahrungsmittel zu nehmen, die den üblichen Einkauf darstellten, kam der Mann direkt zu Lukas an die Theke und legte seinen hässlichen, schmutzigen Rucksack darauf ab.
Wobei ... bei näherer Betrachtung wirkte das Ding gar nicht so abstoßend, wie Lukas erwartet hatte. Ja, er hatte einige Flecken, doch die schienen tief im Stoff eingebettet zu sein. Jeder Dreck war sorgfältig entfernt, einige beschädigte Stellen repariert worden.
Irritiert ließ Lukas seinen Blick möglichst unauffällig über die Kleidung des Mannes schweifen. Mit der verhielt es sich genau wie mit dem Rucksack.
Unwillig verzog er das Gesicht. Es war doch egal, wie sehr der Kerl auf seine Sachen achtete – er lebte oben in dieser Hütte, er war also eindeutig ein Verrückter. Und mit solchen Leuten sollte seine Gemeinde nichts zu schaffen haben. Aber bevor er etwas Dementsprechendes sagen konnte, ergriff der Kerl erneut das Wort.
„Diesmal bin ich nicht hier, um was zu kaufen. Ich hab ein Angebot für Sie.“
Lukas lachte verächtlich auf. „Was könnten Sie mir schon anbieten!“
Aber der Kerl ließ sich davon nicht irritieren. „Schauen Sie es sich an. Ich könnte mir vorstellen, dass es ein paar Touristen gefällt.“
Langsam ärgerte Lukas sich über die Dreistigkeit dieses Mannes. Er hatte Wichtigeres zu erledigen als seine Zeit mit ihm zu verschwenden! Doch er war ein höflicher Mensch – er beschloss, dem anderen noch zwei Minuten seiner Zeit zu opfern, bevor er ihn aus dem Laden warf. Ungeduldig sah er zu, wie der Rucksack geöffnet und in Stoffstücke gehüllte Gegenstände hervorgeholt wurden.
Er hatte Mühe, sein Erstaunen zu verbergen, als der Mann die Tücher vorsichtig entfernte und handgefertigtes Schnitzwerk freilegte. Ihm gefielen die Figuren sofort – sie würden sich hin der Tat hervorragend verkaufen, und das zu einem wirklich guten Preis! Doch das durfte er sein Gegenüber nicht wissen lassen – es würde den Einkaufspreis in die Höhe treiben und somit seinen Gewinn schmälern.
Er streckte die Hand nach einem Stück aus, das ihm persönlich außerordentlich gut gefiel. Er betrachtete die Figur von allen Seiten und suchte nach Makeln.
„Warum glänzt die Schlange so?“
„Das ist eine Blindschleiche. Die glänzen in Wirklichkeit auch so. Ich habe sie poliert und geölt.“
Wortlos legte Lukas die Figur wieder ab. Er hatte keine Lust, sich belehren zu lassen. Hier ging es ums Geschäft. „Und sie glauben wirklich, Touristen kaufen solches Zeug?“, fragte er.
„Einen Ort weiter tun sie’s jedenfalls“, antwortete der Mann ungerührt.
Verdammt. Der Kerl hatte sich informiert. „Ja, aber das sind von professionellen Künstlern hergestellte Stücke“, erwiderte er, ohne eine Miene zu verziehen. „Damit können Sie ihre Hobbyschnitzereien nicht vergleichen.“
Für einen Augenblick, der so kurz war, dass Lukas nicht sicher war, ob er es sich das Ganze nur eingebildet hatte, blitzte ein grimmiges Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers auf. „Natürlich kann man sie nicht vergleichen.“ Eine Warnung lag in den grauen Augen des Mannes, als er Lukas Blick hielt. „Im Nachbarort werden Drechselbänke verwendet. Meine Schnitzereien entstehen komplett von Hand. Im Nachbarort kaufen sie das Holz. Ich sammle es in der Umgebung. Im Nachbarort lackieren sie die Figuren. Ich schleife und poliere sie nur. Im Nachbarort wird wieder und wieder dieselbe Vorlage nachgearbeitet. Sie hingegen ... Sie könnten Unikate anbieten. Gemacht aus Holz von hier.“
Lukas räusperte sich. Da der Mann so genau Bescheid wusste, brachte es auch nichts mehr, sich zu verstellen. „Was wollen Sie dafür?“
Zu seiner Überraschung zuckte sein Gegenüber mit den Achseln. „Für wie viel würden Sie sie denn verkaufen?“
Das Klingeln der Türglocke unterbrach ihr Gespräch. Lukas bedeutete dem Mann, seine Sachen rasch wieder einzupacken, während er mit einem höflichen Lächeln den eintretenden Kunden zunickte.
„Kommen Sie in einer Stunde wieder“, sagte er leise. „Dann können wir in Ruhe reden.“
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Thomas lächelte, während er auf einer Bank im Park die erbetene Stunde verstreichen ließ. Er hatte Lukas an der Angel. Das war aus mehreren Gründen gut. Erstens ermöglichte es ihm, durch ein paar Hobbyverkäufe wieder Verbindungen zur Außenwelt aufzunehmen. Zweitens würde es ihm ein wenig Geld einbringen, sodass er nicht ausschließlich von seinem Ersparten leben musste. Drittens konnte er so seine Schnitzereien Leuten zukommen lassen, die sich daran hoffentlich erfreuten. Kunst, egal welcher Art, machte viel mehr Spaß, wenn man sie unter Menschen bringen konnte. Und zu guter Letzt konnte er durch sein Verhalten vielleicht ein wenig von Lukas‘ Abneigung ihm gegenüber abbauen. Jonathan würde ihm schreiben, und Lukas sollte den Brief aufbewahren, bis er mal wieder ins Dorf hinunterkam. Thomas wollte nicht das Risiko eingehen, dass der Brief auf unerklärliche Art verloren ging.
Oder war das bereits geschehen?
Hatte Jonathan überhaupt mit Lukas geredet und ihm von seinem Vorhaben, einen Brief für Thomas bei ihm zu hinterlegen, erzählt?
Oder hatte er es sich vielleicht anders überlegt und würde sich überhaupt nicht melden?
Nachsichtig schüttelte Thomas den Kopf über seine eigenen Zweifel und mahnte sich zur Ruhe. Hatte er etwa erwartet, Jonathan würde ihm sofort schreiben, wenn er zuhause angekommen war? Der hatte mit Sicherheit Besseres zu tun. Er musste sich einfach in Geduld üben! Und selbst falls Jonathan sich niemals melden würde, weil ihn weiß Gott was von seinem Vorhaben abgebrachte hatte, half es Thomas nicht weiter, jetzt darüber nachzugrübeln. Man wusste nie, was der nächste Tag brachte – man sollte stets genießen, was man hatte und Gelegenheiten, die sich boten, ergreifen. Und jetzt bot sich ihm die Gelegenheit, Lukas einen guten Preis aus den Rippen zu leiern. Das würde sicherlich Spaß machen!
Voll Vorfreude auf das Gespräch schulterte seinen Rucksack und ging zum Laden zurück.