Einige Minuten saßen sie in einvernehmlichem Schweigen nebeneinander, tranken Wasser und genossen die Sonne. Es herrschte perfektes Wanderwetter: Wolken hielten einen großen Teil der Sonnenstrahlen zurück, sodass man nicht allzu schnell ins Schwitzen kam, und eine sanfte Brise sorgte für eine stetige leichte Kühlung.
„Er hat sich vor dir verwandelt, oder?“
Die unerwartete Frage alarmierte Thomas, doch äußerlich ließ er sich nichts anmerken. „Wie kommst du denn darauf?“, fragte er möglichst überrascht, während er im Geiste seine Optionen durchging.
Jonathan hatte ihm eingeschärft, dass niemand erfahren durfte, dass Thomas die Verwandlung bereits beobachtet hatte. Es war verboten und würde seinen Freund in große Schwierigkeiten bringen. Und dennoch war Mareike dahintergekommen. Also musste er es irgendwie unbewusst verraten haben.
Konnte er es leugnen? Die Taktik erschien nicht besonders vielversprechend. Er wusste nicht, wie er die Wahrheit offenbart hatte, also konnte er auch nicht verhindern, es erneut zu tun. Es blieb ihm also nur, der Frage entweder auszuweichen oder alles zuzugeben. Doch damit würde er gegen Jonathans eindringliche Bitte handeln, den Mund zu halten! Also: Seinen Freund enttäuschen und in Schwierigkeiten bringen oder sich selbst in Lügen verstricken?
Die Wahl war leicht.
Mareike verdrehte die Augen. „Ich bin nicht blöd, Thomas.“
Er behielt seinen überraschten Gesichtsausdruck bei. „Würde ich auch nie behaupten. Aber ich hab immer draußen gewartet, wenn er sich verwandelt hat.“
Doch der tiefe Seufzer, der Mareike entfuhr, zeigte, dass seine Versuche aussichtslos waren.
„Es ehrt dich, dass du ihn nicht verraten willst“, sagte sie. „Aber ich bin mir sicher, Thomas – du musst mich nicht anlügen. Ich verspreche, dass ich es niemandem sagen werde, okay?“
Er zögerte, obwohl das bereits eine Art Eingeständnis war. Aber sie wusste offenbar ohnehin Bescheid. Um das Beste aus der Situation zu machen, musste er ihrem Wort vertrauen und herausfinden, wo sein Fehler lag.
„Wie habe ich mich verraten?“
Mareike schmunzelte. „Du hast kein einziges Mal gefragt, was passiert, wenn du nicht Kinfolk bist. Und Jonathan hat dir viel mehr erzählt, als man es einem gewöhnlichen Menschen gegenüber tun würde. Es lag also auf der Hand.“ Sie warf ihm einen besorgten Blick zu. „Er hätte das nicht tun dürfen. Es war viel zu gefährlich! Es hat gute Gründe, dass das Verwandeln vor Menschen verboten ist.“
„Es waren besondere Umstände.“ Seinen Freund in Schutz zu nehmen, wäre sinnlos, denn Mareike hatte ja recht. Aber er wollte ihr auch nicht im Detail erzählen, wie sehr ihn Jonathans Theorie aufgewühlt, wie dringend er Klarheit gebraucht hatte. Selbst die Erinnerung an diese Gefühle machte ihm noch zu schaffen. „Ich werde vor anderen darauf achten, Fragen zu den möglichen Konsequenzen zu stellen. Danke für den Hinweis.“
Wieder breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. Doch dieses Mal war die Atmosphäre angespannt – keiner von beiden wusste so genau, was jetzt zu sagen war.
„Lass uns weitergehen“, forderte Thomas sie daher auf und wandte sich weiter hangaufwärts.
Mareike holte nach kurzer Zeit zu ihm auf. „Ich habe dich irgendwie getroffen“, stellte sie fest. „Das war nicht meine Absicht. Bitte entschuldige.“
Thomas zwang sich zu einem Lächeln. „Ist schon in Ordnung. Gib mir einfach ein paar Minuten. Erzähl mir solange, wie Werwölfe sich Menschengestalt sich von Menschen unterscheiden.“
Die Erinnerung an den Moment, in dem er beinahe den Verstand verloren hatte, setzte ihm wesentlich mehr zu, als er zugeben wollte. Und sie brachte all die Fragen wieder auf, die er sich damals gestellt hatte: Was, falls er erneut versagte, wenn man auf seine Hilfe zählte? Was musste er wissen, um einem Werwolf helfen zu können?
Mareike biss sich auf die Unterlippe und dachte nach. Dann begann sie mit einer Aufzählung, wobei sie die Punkte an den Fingern abzählte, als seien sie auswendig gelernt.
„Sie brauchen mehr Bewegung. Sie werden dadurch weniger schnell dick. Sie essen unheimlich gerne Fleisch. Na ja, die meisten von ihnen.“ Ihre Mundwinkel zuckten, doch sie konzentrierte sich wieder auf Thomas‘ Frage. „Sie heilen unglaublich schnell, es sei denn, die Verletzung kommt von etwas aus Silber. Sie –“
Thomas unterbrach sie verblüfft. „Silber? Das hätt ich jetzt echt für ein Gerücht gehalten! Warum schadet ihnen das denn?“
Mit einem hilflosen Lächeln hob Mareike die Schultern. „Keine Ahnung. Es ist eben so. Weißt du, man hat noch längst nicht alles verstanden, was Werwölfe angeht – sonst wären sie ja auch von den Menschen inzwischen wiederentdeckt worden. Heutzutage glauben ja alle, das wären Märchen.“ Dann streckte sie den nächsten Finger aus und fuhr mit ihrer Aufzählung fort: „Sie sind oft temperamentvoll, emotional oder leicht aufbrausend, je nachdem, wie nah der Vollmond ist oder wie sehr sie etwas belastet. Sie sind sich ihrer körperlichen Überlegenheit bewusst, was sie in vielen Situationen Menschen gegenüber sehr dominant auftreten lässt.“ Dann ließ sie die Hände sinken und lächelte ihn an. „Und jetzt kann ich es dir ja sagen. Zu Neumond sind sie sehr verletzlich, emotional wie körperlich. Da müssen sie Mensch werden beziehungsweise bleiben.“
Während Thomas über die vielen Besonderheiten nachdachte, zog sie ihr Smartphone aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf.
„Du, ich glaube, wir sollten gemütlich umkehren. Es ist schon 13 Uhr.“
„Schon? Fühlt sich gar nicht so an.“ Er ging ein gutes Dutzend Meter weiter und spähte den Hang hinauf. Als er fand, was er suchte, winkte er Mareike zu sich und deutete auf eine bestimmte Stelle.
Sie kniff die Augen zusammen und sah in die gezeigte Richtung. Die mit Felsen übersäten Wiesen dort oben gingen recht abrupt in ein Waldstück über. Zunächst glaubte sie, nichts Besonderes erkennen zu können, bis ihr Blick auf eine kleine hölzerne Hütte fiel, die sich an den Hang anschmiegte.
„Das“, sagte Thomas mit unverkennbarem Stolz in der Stimme, „ist mein Zuhause.“
Den Rückweg in den Ort traten sie mit vertauschten Rollen an. Diesmal war es Mareike, die Thomas mit Fragen überschüttete und alles ganz genau wissen wollte. Wie war er zu der Hütte gekommen? Wie lebte es sich dort oben? Warum hatte er sich eine so einsame Stelle ausgesucht? Gehörte ihm das Grundstück? Woher bezog er, was er zum Leben brauchte?
Er hatte es nicht erwartet, doch er war froh, dass sie das Thema zumindest für eine Weile wechselten. Sein Verstand hatte so viel zu verarbeiten, dass es angenehm war, über vertraute Dinge zu reden. Er berichtete Mareike in sehr groben Zügen von seinem Abschied von der Bundeswehr, ohne die genauen Gründe zu nennen, und war erleichtert, dass sie nicht nach weiteren Details fragte. Sie zu verschweigen war keine gute Methode, unangenehme Erinnerungen einfach zu verdrängen, das war ihm wohl bewusst, doch hier war weder der Ort noch die Zeit, um mit der Verarbeitung vergangener Erlebnisse anzufangen. Und so sympathisch Mareike ihm auch war, sie war nicht die richtige Person, um über solch private Gedanken zu reden. Also sprach er weiter, berichtete vom Verkauf seines Elternhauses, dem Erwerb des Grundstücks und dem Spaß, den er beim eigenhändigen Bau seiner Hütte empfunden hatte.
Mareike staunte nicht schlecht. „Durftest du so eine Hütte ohne Wasser- und Stromanschluss überhaupt bauen?“
Er lachte. Auch im Nachhinein freute er sich über die Lösung, die er damals dafür gefunden hatte. „Ja, weil sie nicht dauerhaft bewohnt ist.“
Mareike warf ihm einen skeptischen Blick zu.
„Ist sie wirklich nicht!“, erklärte Thomas ernst. „Alle paar Wochen bin ich für eine Nacht weg – einerseits, um die Auflagen zu erfüllen, andererseits, um meine Klamotten zu waschen. Ein bisschen ausspülen geht in dem kleinen Bach da oben zwar, aber ich will den ja nicht mit Waschmittel verseuchen. Und so richtig duschen statt nur waschen ist auch ab und zu mal ganz angenehm.“
Mareike lachte. „Tut mir leid“, sagte sie dann mit einem breiten Grinsen. „Ich hatte das irgendwie nicht erwartet sondern gedacht, du bist immer da oben in deiner Einsamkeit.“
„Schon gut.“ Thomas schmunzelte. „Ich gestehe, ich hab das Image ja auch gut gepflegt. Ich dachte, so lassen mich die Leute eher in Ruhe.“
Eine Weile gingen sie schweigend weiter.
„Ich bin froh, dass Jona dich gefunden hat“, sagte Mareike dann mit einem vielsagenden Lächeln.
„Ähm, Mareike ...“ Thomas suchte nach den richtigen Worten. Als Jonathans beste Freundin wusste sie doch sicherlich, dass der Werwolf kein derartiges Interesse an ihm hatte und auch niemals entwickeln würde. Oder etwa nicht? Thomas entschied sich für eine Antwort, die Jonathans Geheimnis, so es denn eines war, nicht verriet. „Jonathan und ich sind nur Freunde“, stellte er klar.
„Wenn du meinst ...“ Mareike schmunzelte und konzentrierte sich wieder auf den Weg.
Verblüfft hielt Thomas einen Moment inne. Sie, die beste Freundin, wusste es nicht? Erst jetzt dämmerte ihm, wie groß das Vertrauen tatsächlich war, das Jonathan ihm mit der Offenbarung seiner Asexualität geschenkt hatte. Diese Erkenntnis beseitigte den letzten Rest Zweifel: Zwischen ihm und seinem Freund bestand eine ganz besondere Verbindung, das empfand nicht nur er so. Der Gedanke beruhigte ihn: Es war also nicht so, dass er einfach dem erstbesten Menschen, Quatsch, der erstbesten Person vertraute, die es über seine emotionalen Mauern geschafft hatte. Er war durch seine Isolation nicht zu einem vertrauensseligen Naivling geworden, seine Menschenkenntnis funktionierte noch! Oder wie nannte man das, wenn nicht alle betroffenen Personen Menschen waren?
Gut gelaunt beschleunigte er seine Schritte, um wieder zu Mareike aufzuholen.