„Hey, ich dachte, wir wollten früh los?“
Sebastian blinzelte verschlafen. In seiner Tür stand Jonathan, außerordentlich gut gelaunt und topfit. Wann war der nur nach Hause gekommen?
Er selbst war die halbe Nacht wach gewesen, hatte auf seinen Bruder gewartet. Er war davon ausgegangen, dass ein Gespräch nicht allzu lange dauern würde – oder dass es gar nicht erst zustande käme. Immerhin war Jonathan ohne Kleidung aufgebrochen, und er wusste, wie sehr sein Bruder es hasste, sich vor jemand anderem als dem Rudel nackt zu zeigen. Er ging nicht mal gerne Schwimmen.
„Wie spät ist es?“, murmelte er verschlafen.
„Dreiviertel Sieben! Ich hab Kaffee gemacht. Und Frühstück ist auch gleich fertig. Komm, steh auf!“
Jonathan warf ihm ein fröhliches Lächeln zu, ließ die Tür weit offen und stürmte die Treppe wieder hinunter.
Kaffeeduft erreichte Sebastians Nase und lockte ihn, das Bett zu verlassen. Gähnend zog er sich an und trottete in die Küche, wo Jonathan bereits den Tisch gedeckt hatte.
Mit einem Ächzen ließ er sich auf einen der Stühle fallen und rieb sich die Augen. „Warum bist du so fit?“, fragte er seinen Bruder, der vor dem Herd stand, Rührei briet und ihm dabei den Rücken zuwandte.
„Weiß auch nicht“, antwortete Jonathan und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht der Morgenlauf von der Hütte hier runter?“
Sebastian warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Wich Jonathan seiner Frage aus? Außerdem – er war erst heute Morgen zurückgekommen? Hatte er sich am Hang irgendwo ein bequemes Stück Gebüsch gesucht? Er hatte ja wohl kaum bei Thomas übernachtet ... oder?
Schwungvoll platzierte Jonathan die Pfanne zwischen ihnen auf dem Tisch und schenkte seinem Bruder ein strahlendes Lächeln. „Hier, bitte! Eine Stärkung für die Heimreise!“
Doch seine gute Laune steckte Sebastian einfach nicht an. Was war nur los mit ihm? Er war normalerweise kein Morgenmuffel. Fehlte ihm seine Freundin? Ging ihm der ganze Bürokratiekram auf die Nerven? Oder brach auch bei ihm langsam die Erkenntnis durch, dass das hier vielleicht ihr letztes gemeinsames Frühstück in diesem Haus war?
Jonathan legte die Gabel weg und sah seinen Bruder an. „Hey – ist alles in Ordnung? Du wirkst ... abwesend. Und bedrückt.“ Er machte eine Pause, um Sebastian die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen, doch als der sie nicht ergriff, fuhr er fort. „Ist es, weil wir dieses Haus vielleicht zum letzten Mal verlassen?“ Er nahm eine von Sebastians Händen in seine. „Ich vermisse Mum auch. Sehr. Wenn du willst, bleiben wir noch eine Stunde länger und kuscheln uns aufs Sofa.“
Beschämt sah Sebastian auf seinen Teller hinunter. Jonathan machte sich Gedanken um ihn, wollte, dass es ihm gut ging, wie man das von einem Bruder erwarten sollte. Und was tat er? Seine Gedanken kreisten beständig um diesen Kerl aus der Hütte und die Freundschaft, die der zu Jonathan aufbaute. Ihm gefiel die ganze Sache nicht. Aber warum eigentlich? Sollte er sich nicht freuen, dass sein Bruder Kinfolk gefunden hatte, mit dem er sich gut verstand?
Es war wirklich an der Zeit, nach Hause zurückzukehren. Er musste mit Steffi reden – seine Freundin kannte ihn oft besser als er sich selbst. Vielleicht hatte sie eine Erklärung für die unverständliche Abneigung, die er gegen diesen Thomas hegte. Am Telefon hatte Sebastian ihr bislang nichts von ihm erzählt – ihm schien, dass das ein Thema war, das er besser persönlich mit ihr besprach.
Er zwang sich, seine merkwürdige Laune zu verbergen, lächelte Jonathan an und drückte liebevoll seine Hand. „Es ist alles okay, keine Sorge. Ich schätze, ich bin einfach ziemlich fertig. Die letzten Wochen waren anstrengend.“
„Du lenkst dich mit Arbeit immer von deinen Gefühlen ab“, tadelte Jonathan ihn sanft. Nicht, dass sein Bruder das nicht wusste. „Ich bin immer für dich da, das weißt du.“
„Ja.“ Mehr konnte Sebastian dazu nicht sagen. Die Fürsorge seines kleinen Bruders verursachte ihm einen Kloß im Hals und verstärkte die Scham über seine eigenen Gedanken.
„Danke“, fügte er hinzu. „Auch fürs Frühstück. Das weckt Lebensgeister!“ Er hob die Kaffeetasse, um seine Worte zu unterstreichen, und lächelte Jonathan möglichst beruhigend zu.
Der erkannte natürlich, dass Sebastian mit seiner Aktion das Thema wechseln wollte. Er beließ es aber dabei – solange seinem Bruder klar war, dass er jederzeit für ihn da war, war es in Ordnung, wenn der nicht mit ihm über das sprechen wollte, was ihn belastete. Zuhause würde Steffi es ihm sicherlich entlocken – und falls es etwas wirklich Gravierendes war, würde sie ihn informieren.
Nach dem Frühstück packten sie ihre Sachen und beluden Sebastians Auto.
„Wenn du willst, fahre ich“, bot Jonathan an. „Du siehst müde aus. Hast du nicht gut geschlafen?“
Doch Sebastian überging auch diesen Versuch, ihm mehr über seine Gefühlslage zu entlocken. „Wechseln wir uns einfach ab. Ich sag schon Bescheid, wenn ich wirklich müde werde.“
Er fuhr gerne Auto. Auf die Straße schauen, den übrigen Verkehr beachten, all diese Dinge liefen als Automatismen ab, die es ihm erlaubten, auf längeren Fahrten seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Falls Jonathan nicht zum Reden aufgelegt war, wollte er die Zeit dafür nutzen.
Sein Wunsch ging in Erfüllung. Schon nach einer halben Stunde Fahrtzeit schloss Jonathan auf dem Beifahrersitz die Augen, und keine fünf Minuten später war Sebastian sicher, dass er schlief. Also hatte er in der vergangenen Nacht wohl doch nicht viel geschlafen ...
Entschlossen, diese Gedanken für den Moment nicht zuzulassen, schaltete Sebastian das Radio ein und dachte zu den Klängen von Nightwish über einen seiner aktuellen Fälle nach, die in der Kanzlei auf ihn warteten.