Wo steckte Jonathan nur? Warum hatte er ihm nicht einmal eine Nachricht hinterlassen? Was hatte er falsch gemacht?
Auf dem Rückweg zurück in den Ort zermarterte Sebastian sich den Kopf. Hatte er die Sorgen seines Bruders um den Mann in den Bergen nicht ernst genug genommen? Dessen dicker Kopfverband legte nahe, dass sie berechtigt gewesen waren.
Er wollte seinen Bruder doch nur vor Enttäuschungen bewahren – immer bemühte der sich, allen zu helfen, und sah nicht ein, dass das nicht möglich war.
Oder war es doch etwas anderes, das seinen Bruder antrieb? Der Gedanke beunruhigte ihn.
Da sprang einige Dutzend Meter vor ihm ein Wolf aus dem Gebüsch, ein erlegtes Kaninchen in den Fängen. Er hielt inne, als er Sebastian sah.
Der erkannte ihn sofort. „Jona! Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht, als ich zuhause nur deine Klamotten vorgefunden habe und du fort warst!“ Erleichtert ließ er sich trotz des immer noch feuchten Erdreichs auf ein Knie nieder und breitete einladend die Arme aus. „Hab ich irgendwas falsch gemacht?“
Der Wolf, der zunächst unschlüssig zwischen Sebastian und dem nahen Waldrand hin- und hergeblickt hatte, eilte nach dieser Frage auf ihn zu, ließ das Kaninchen fallen und schmiegte sich an ihn.
Sebastian hielt seinen Bruder fest an sich gedrückt. „Es tut mir leid, Jona. Ich habe deine Gefühle nicht so ernst genommen wie ich sollte ... Du hast den Mann in den Bergen heute Nacht gerettet, oder? Hat ihn jemand angegriffen?“
Da Jonathan verneindend schnaubte, fragte er weiter: „Hatte er einen Unfall?“
Besorgtes Winseln bestätigte diese Vermutung. „Und jetzt kümmerst du dich um ihn?“
Jonathans Blick in Richtung seiner Beute bejahte die Frage. Sebastian lächelte – sein Bruder würde niemanden im Stich lassen. Das Kaninchen war ein guter Anfang, aber je nachdem, wie schwer die Kopfverletzung des Mannes war, benötigte er mehr als das.
Und in diesem Moment akzeptierte Sebastian es endlich. Jonathan war sein Bruder – es war völlig gleichgültig, was seine Motivation war, wenn er sich für etwas entschieden hatte, würde er ihn unterstützen. Selbst dann, wenn das ihr Geheimnis offenlegte. Er war seine Familie.
„Brauchst du noch irgendwas, kann ich dir helfen?“
Jonathan trat einen Schritt zurück und sah ihn an. Schon seit sie Kinder waren, warf er seinem großen Bruder diesen speziellen Blick zu, wenn er Zuspruch brauchte, wenn er Angst vor etwas hatte.
Sebastian glaubte zu wissen, was er fürchtete. Er hatte jemanden gefunden, den er mochte. Diese Person ahnte nun, dass er kein einfacher Wolf war, und er fürchtete, aufgrund dieser Erkenntnis zurückgewiesen zu werden.
Dennoch fragte er nach. „Weiß er, was wir sind, Jona?“
Der Wolf senkte den Blick zu Boden und trat wieder an Sebastian heran, versteckte seinen Kopf an dessen Brust.
Tröstend strich Sebastian ihm durchs Fell. „Also noch nicht. Ich hoffe für dich, dass er es akzeptiert, falls du es ihm zeigst, kleiner Bruder. Ehrlich. Ich habe dir einen Rucksack voll Klamotten bei ihm gelassen. Ich warte zuhause auf dich – pass auf dich auf und viel Erfolg.“
Jonathan rieb dankbar den Kopf am Gesicht seines Bruders, schnappte sich das Kaninchen und lief eilig bergauf.
Sebastian sah ihm nach.
Jonathan hatte nur eine Handvoll Menschen wirklich ins Herz geschlossen.
Warum auch immer er diesen Mann dazu zählte – er wünschte ihm, dass seine Hoffnung nicht enttäuscht wurde.
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Als Jonathan zur Hütte zurückkehrte, saß der Mann auf der Bettkante und wickelte den Verband von seinem Kopf. Er sah auf, als die Tür kräftig aufgeschubst wurde und der Wolf hereinkam.
Der Blick, mit dem Jonathan gemustert wurde, zeigte Unsicherheit und ließ ihn innehalten.
Die Unbeschwertheit zwischen ihnen war verflogen, genau, wie er befürchtet hatte. Er klemmte den Schwanz zwischen die Hinterbeine und setzte vorsichtig eine Pfote hinter die andere, zog sich zur Tür zurück. Enttäuschung schnürte ihm die Kehle zu.
„Warte“, bat der Mann.
Er nickte wissend, als Jonathan innehielt. „Du verstehst, was ich sage, nicht wahr?“
Wie sollte er darauf nur reagieren? Wie gelähmt blieb Jonathan stehen und schaute zu dem Mann hinüber.
„Ich ... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, fuhr der fort. „Es sind ein paar wirklich seltsame Dinge passiert. Jemand hat mich gestern nach meinem Sturz gefunden – im Regen, im Dunkeln, flach zwischen den Steinen liegend, wo man mich sicher kaum sehen konnte. Dieser jemand hat mich nach Hause gebracht, sich dabei die Fußsohlen verletzt, als hätte er keine Schuhe getragen und hier auf dem Boden Fußabdrücke hinterlassen. Er hat mich verbunden und für Wärme und Trockenheit gesorgt. Aber als ich aufwachte, war nur mein Wolf da. Und dann taucht morgens ein Kerl hier auf und sucht seinen Bruder, lässt einen Rucksack voller Kleidungsstücke für ihn hier. Alles. Auch Schuhe.“ Er atmete tief durch und fuhr sich vorsichtig mit einer Hand durchs Haar, während sein Blick fest auf Jonathan gerichtet blieb.
„Und jetzt tauchst du mit einem Kaninchen auf. Als wolltest du mich füttern. Und du verstehst mich.“ Es war keine Frage mehr.
Jonathan legte das Kaninchen sorgfältig ab, ließ den Mann dabei nicht aus den Augen. Er sollte etwas zu Essen haben, auch, falls er ihn jetzt verjagte. Angespannt wartete er.
Der Blick des Mannes huschte unstet zwischen Jonathan, dem Rucksack und dem Kaninchen hin und her. Er leckte sich über die Lippen, setzte zu Sprechen an, rang um Worte.
Dann endlich stellte er die alles entscheidende Frage. „Du ... Du bist kein Wolf, oder?“