Die anderen drei saßen gemeinsam im Wohnzimmer, als Thomas und Mareike von ihrem Ausflug zurückkamen. Mike stand sofort auf und umarmte seine Freundin, zog sie zu sich auf Sofa und verwickelte sie in ein leises Gespräch.
„Komm, setz dich!“, forderte Jonathan Thomas mit einer einladenden Geste auf.
Der folgte der Einladung und fragte in die Runde: „Wie geht es jetzt weiter?“
Dass es Sebastian war, der antwortete, überraschte ihn nicht. „Mike und Jona sind mit den Reparaturen schon fertig. Ursprünglich dachten wir, es dauert länger, darum wollten wir hier eigentlich übernachten. Wir haben auf euch gewartet, um gemeinsam zu überlegen, ob wir das machen und morgen früh fahren oder jetzt noch aufbrechen.“
„Ich wäre für Losfahren“, sagte Jonathan und sah Mareike an, die neben ihm saß.
Sie nickte. „Aufbrechen klingt gut, dann hätten wir den ganzen Sonntag zuhause. Was meinst du, Schatz?“
Mike lächelte. „Oh, ich hab nichts dagegen, im eigenen Bett zu schlafen! Und wir sparen uns damit einmal Kochen und Geschirrabspülen.“ Sein Kommentar rief leises Lachen und Grinsen hervor.
Es dauerte einen Moment, bis Thomas bemerkte, dass Sebastians Blick nun auf ihm ruhte.
„Und du?“
Die Frage überraschte ihn. „Es ist doch eh schon entschieden.“
„Man muss nicht immer machen, was die Mehrheit will. Vielleicht hast du gute Gründe, anderer Ansicht zu sein?“
Die plötzliche Wertschätzung seiner Meinung irritierte Thomas. Doch sein Gegenüber sah ehrlich interessiert aus. Er entschied sich daher, nichts in diese unerwartete Wendung hineinzuinterpretieren und einfach die ursprüngliche Frage zu beantworten. „Ich hab nichts dagegen, heut Abend schon zu fahren. Das macht den morgigen Tag vielleicht sogar ein bisschen weniger stressig für alle.“
„Gut. Einstimmig beschlossen – dann packt eure Sachen, damit wir bald loskommen.“
Während die anderen Sebastians Aufforderung folgten, saß Thomas auf dem Sofa und freute sich innerlich. Warum der Leitwolf ihm gegenüber nicht mehr so ablehnend war, wusste er nicht, aber er nahm es als gutes Omen für den Besuch beim Rudel.
Schon eine halbe Stunde später war das Auto mit ihrem wenigen Gepäck beladen und die fünf auf dem Weg in Richtung Heimat. Thomas, der auf der Rückbank hinter Jonathan auf der Beifahrerseite saß, sah aus dem Fenster, Mike und Mareike unterhielten sich leise über ihre Pläne für den kommenden Tag und Sebastian konzentrierte sich auf den Verkehr.
Nach einiger Zeit drehte Jonathan sich zu Thomas um. „Wir kommen wahrscheinlich so gegen neun zuhause an. Würdest du lieber unterwegs anhalten und was zu Abend essen oder sollen wir uns daheim noch was machen?“
Bevor Thomas antworten konnte, mischte Sebastian sich ein. „Wir könnten bei uns abendessen.“ Er warf dem Neuling im Rückspiegel einen Blick zu. „Du könntest auch bei uns übernachten. Wir haben ein richtiges Gästezimmer. Das ist vielleicht bequemer als bei Jona auf dem Sofa.“
Einerseits freute sich Jonathan über diese Worte. Wie es schien, hatte das nächtliche Gespräch Sebastians Abneigung gegenüber Thomas endlich schwinden lassen. Und ein Abendessen mit ihm und Steffi war normalerweise immer sehr lustig. Andererseits wartete er ungeduldig auf die nächste Gelegenheit, sich wieder in Ruhe mit seinem Freund zu unterhalten – das wäre kaum möglich, wenn der im Gästezimmer seines Bruders übernachtete.
Wie sah Thomas das wohl? Jonathan warf ihm einen fragenden Blick zu. Woran genau er die Antwort erkannte, wusste er nicht, doch der kurze Austausch genügte.
„Das ist lieb von dir, aber ich fände es schöner, wenn er bei mir bliebe“, erwiderte er an Thomas‘ statt. „So unbequem, wie du immer behauptest, ist das Sofa übrigens gar nicht.“
Thomas war froh, dass Jonathan sein Unbehagen sofort bemerkt hatte. Klar, er wollte das Rudel kennenlernen und so ein Abendessen mit Kinfolk war sicher nett, aber nach dem heutigen Tag sehnte er sich nach einer Verschnaufpause, selbst wenn sie nur ein paar Stunden andauerte.
„Also, ich find das echt nett von dir und würde gern bei euch essen“, fügte er Jonathans Aussage daher hinzu. „Aber danach würde ich lieber beim ursprünglichen Plan bleiben und bei meinem Kumpel übernachten.“
Er warf Mareike, die ihr Gespräch mit Mike unterbrochen hatte, um ihnen zuzuhören, einen verstohlenen Seitenblick zu. Sie zwinkerte ihm lächelnd zu – ein gutes Zeichen. Wie es aussah, hatte er alles richtig gemacht.
Sebastian ließ sich seine Gedanken nicht anmerken. „Gut“, sagte er nach einem Augenblick, „Machen wir das so. Jona, bitte ruf mal Steffi an und sag ihr Bescheid.“
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„Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen! Komm, ich habe so viele Fragen!“ Steffi strahlte Thomas an, ergriff seine Hand und zog ihn von der Haustür direkt mit sich ins Wohnzimmer.
Sebastian lächelte. „Ich glaube, sie mag ihn“, sagte er, bevor er in den Flur trat und seine Tasche abstellte.
„Ich hoffe, das geht den anderen genauso“, murmelte Jonathan.
Je näher das Kennenlernen mit den Rudelmitgliedern rückte, desto angespannter fühlte er sich. Kurz zögerte er, aber als sein Bruder den beiden anderen ins Wohnzimmer folgen wollte, hielt er ihn zurück.
Er sah Sebastian nicht an, als er leise sagte: „Ich mach mir Sorgen wegen morgen.“
Der war sofort alarmiert. „Warum? Du hast gesagt, du bist dir sicher, Jona – wieso hast du jetzt plötzlich Zweifel?“
„Nein, das ist es nicht“, beschwichtigte Jonathan. „Er ist Kinfolk, ganz sicher. Aber was, wenn die anderen ihn nicht mögen?“ Er seufzte und warf seinem Bruder einen traurigen Blick zu. „So wie du?“
Sebastian biss sich auf die Unterlippe und sah zu Boden.
Es war nicht so, dass er Thomas nicht leiden konnte. Seit er wusste, wie gut Jonathan diese Freundschaft bekam, sah er den Neuen mit ganz anderen Augen. Aber es war schon richtig, dass er ihn bisher konsequent auf seinen Platz verwiesen hatte.
Er konnte seinem Bruder nicht erklären, was los war, ohne zuzugeben, dass er Eifersucht auf dessen Zuneigung zu Thomas verspürt hatte. Und dieses Gefühl war noch immer nicht ganz verschwunden, wie er sich eingestehen musste. Doch woran genau lag es? Er wollte es zunächst selbst vollständig verstehen, um es dann präzise beschreiben zu können.
Liebevoll legte er Jonathan eine Hand unters Kinn, sodass der ihn ansah. „So ist es nicht“, erwiderte er sanft. „Bitte, lass uns später darüber reden, in Ordnung? Ich werde es dir erklären, versprochen.“
Als Jonathan wortlos nickte, zog er ihn in eine kurze Umarmung. „Gehen wir zu den anderen“, forderte er ihn dann auf und ging voran in Richtung der gut gelaunten Stimmen, die inzwischen aus der geräumigen Küche erklangen.
Steffi und Thomas verstanden sich ausgesprochen gut und unterhielten sich während des ganzen Abendessens übers Kinfolk-Dasein. Sie berichtete ihm von den Schwierigkeiten, die es mit sich brachte, zwischen einer allseits bekannten und einer geheimen Welten zu leben und stets zu bedenken, wem gegenüber man was sagen durfte. Vom Gefühl, nirgendwo richtig dazuzugehören, weder zu den Werwölfen noch zu den meisten Menschen. Vom Gemeinschaftsgefühl, das Kinfolk untereinander empfand, und dem einzigartigen Zusammenhalt, den das Rudel jedem seiner Mitglieder bot.
Jonathan genoss es, den beiden zuzuhören. Normalerweise geschah es nie, insbesondere nicht in Anwesenheit von Werwölfen, dass Kinfolk jemandem, der nicht in ihrer Welt aufgewachsen war, vom Leben im Rudel erzählte. Mehrere Male wurde er von einer Sichtweise überrascht, die er so noch nie bedacht oder erlebt hatte.
Und nicht einmal zweifelte Steffi an, dass Thomas zu ihnen gehörte. Das Vertrauen, das sie und Mareike in Jonathans diesbezügliches Urteil hatten, machte ihn stolz und zuversichtlich. Er war zwar bislang der Einzige, der sicher wusste, dass sein Freund Kinfolk war, aber falls das Kennenlernen morgen gut lief, würden die anderen das auch bald herausfinden und Thomas zu einem Teil des Rudels machen. Und spätestens dann würde auch Sebastian merken, dass Jonathans neuer Freund ein wirklich netter Kerl war!