Dann roch er noch etwas anderes. Den Mann. Er war ganz in der Nähe.
Neugierig hob er den Kopf, prüfte die Luft und sah zur Hütte.
„Du kannst es dir ruhig nehmen, Kumpel. Ich hatte gehofft, dass du vielleicht doch noch einmal wiederkommen würdest.“
Die Stimme klingt erfreut. Leise. Er will mich nicht erschrecken. Das ist nett.
Der Mann ist bisher immer nett zu mir gewesen. Das Fleisch ist sicher kein Köder. Es ist ein Geschenk.
Jonathan verschlang es und leckte über seine Schnauze. Dann sah er wieder zu dem Mann hinüber, der gelassen auf dem Boden im Mondschatten seiner Hütte saß und wartete.
Jonathan wartete auch.
Sebastian hat mich gewarnt. Sebastian hat meistens Recht. Ist der Mann wirklich freundlich? Er sieht jetzt freundlich aus. Am Tag hat er sein Revier verteidigt. Jetzt lädt er mich ein. Er verwirrt mich. Er macht mich neugierig. Ich werde vorsichtig sein.
Langsam, aber zielstrebig bewegte er sich in einem Bogen auf den Mann zu, so dass er ihm immer die Seite zuwendete. Sollte er unerwarteterweise fliehen müssen, war diese Position dafür geeignet.
Der Mann lächelte, als er das Manöver beobachtete.
„Du bist vorsichtig, das ist gut, Kumpel. Hier schleichen komische Leute durch die Berge. Ich freue mich, dass du wieder da bist, und dass du wieder richtig laufen kannst! Man bemerkt gar nichts mehr! Entweder heilst du außergewöhnlich schnell oder ich bin inzwischen richtig schlecht im Einschätzen von Wunden!“ Ein leises Lachen folgte dem Satz.
Jonathan mochte das Geräusch des Lachens.
Werwölfe heilen schnell. Es wäre heute noch nicht ganz verheilt ohne dich. Du hast mir geholfen. Wie gerne hätte er das alles laut ausgesprochen.
Er näherte sich dem Mann bis auf einen Meter. Er sah nicht bedrohlich aus, wie er da auf dem Boden saß, die Ellbogen locker auf die Knie gestützt, die Hände ineinander verschränkt. Er war aufmerksam, aber nicht verängstigt, das konnte Jonathan eindeutig riechen.
Langsam überbrückte er die übrige Distanz, bis er mit der Nase fast bis an die Hände des Mannes reichte. Hände rochen immer sehr interessant – sie verrieten nicht nur etwas über den Menschen, sondern auch über dessen Tätigkeiten.
Als der Mann ihm vorsichtig, aber ohne Zögern eine Hand entgegenstreckte, schnüffelte Jonathan interessiert. Er roch Seife, Essig, trockenes Holz, Schweiß, Bachwasser, Trockenfleisch, Lampenöl, Metall und den Körpergeruch des Mannes selbst. Er konnte sich nicht alles erklären, aber das war normal. Er mochte, was er roch, obwohl er nicht genau wusste, warum.
„Na? Warum bist du wieder hier?“ Langsam strich der Mann über Jonathans Hals, hinter die Ohren, kraulte ihn sanft.
Jonathan gefielen die Berührungen und das leise Lächeln des Mannes.
Wegen dir. Wer bist du? Warum bist du jetzt nett? Warum bist du nicht nett zu Menschen?
Er machte einen weiteren Schritt auf den Mann zu. Er mochte ihn. Und bevor er richtig darüber nachdachte, stieß er ihn sanft mit der Schnauze an die Wange, ganz, wie er ein Rudelmitglied begrüßen würde.
Der Mann wich nicht zurück, sondern lachte wieder sein leises Lachen.
„Hast du etwa Gefallen am Trockenfleisch gefunden? Oder haben dich meine Geschichten so fasziniert?“
Der Mann ließ seine Hände nun weniger zögerlich durch Jonathans Fell gleiten und rieb ihm über den Rücken.
Es fühlte sich sehr gut an. Jonathan leckte ihm übers Gesicht und schnüffelte in seinem Haar, an seiner Halsbeuge.
Der Mann schmeckte nach Salz und Luft und Wasser. Ein bisschen Seife. Und er roch wie die Luft hier – klar und unverfälscht. Das war es, was Jonathan so mochte! Er roch nicht nach Abgasen und Weichspüler und Rasierwasser. Er roch nur nach sich selbst.
Er roch nur nach sich selbst.
Hast du kein Rudel? Bist du ganz alleine?
Mitgefühl stieg in ihm auf. Er wollte den Mann trösten, und wieder entschied der Wolf schneller als der Mensch, was zu tun war.
Jonathan legte sich dicht neben den Mann auf den Boden, schmiegte sich eng an ihn und sah mit ihm ins Tal hinunter.
Er würde sein Rudel sein.
Zumindest heute Abend.
Einen Augenblick lang rührte sich der Mann nicht. Erfreutes Erstaunen klang in seiner Stimme mit, als er sprach.
„Das nehme ich dann mal als ‚ja‘. Hoffentlich werde ich vom Reden nicht wieder so heiser wie letztes Mal, ich hatte den ganzen Tag über Halsschmerzen. Außer dir kommt niemand hierher, um mir zuzuhören.“
Das stimmt nicht, dachte Jonathan. Du verjagst Leute zu schnell. Ich wollte dir zuhören. Aber jetzt bin ich wieder da. Leg los.
Als hätte er Jonathans Meinung wahrgenommen, begann der Mann zu erzählen. Er sprach einfach nur seine Gedanken laut aus, völlig ungefiltert, während er gedankenverloren über Jonathans Fell strich. Er wies ihn auf die Dinge in ihrem Sichtfeld hin, die ihm besonders gefielen, erzählte einige Anekdoten von seinen Erlebnissen hier. Er berichtete vom Bau seiner Hütte und wie er sie immer weiter ergänzte. Er tat so, als tausche er sich in einem ernsthaften Dialog mit Jonathan über die Kaninchenjagd aus, was diesen amüsiert schnauben ließ.
Und manchmal, nur gelegentlich, ließ er einen Satz über die Menschen fallen. Dass sie einen betrogen und enttäuschten. Er ermahnte Jonathan, sich von ihnen fernzuhalten. Wenn er so etwas sagte, spannten sich die Muskeln des Arms, der auf dem Rücken des Wolfs ruhte, und zogen ihn ein klein wenig näher zu sich heran.
Der Mann war nicht gern allein, davon war Jonathan überzeugt. Er kannte einfach nur die falschen Leute.