„Es tut mir so leid.“
Thomas blinzelte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch morgendliches Zwielicht fiel durch die beiden Fenster, sodass er bereits etwas sehen konnte. Jonathan saß auf seiner Bettkante, nur eine Decke um den Körper geschlungen, und sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, aus dem tiefstes Bedauern sprach.
Jonathan saß nackt auf seinem Bett? Im ersten Moment wusste Thomas nicht, was geschehen war. Was hatten sie gestern Nacht –
Doch seine Hände fanden Kleidung, als er möglichst unauffällig seinen eigenen Körper abtastete. Und dann fiel ihm alles wieder ein. Der Werwolf. Kinfolk. Sie hatten bewiesen, dass Thomas Kinfolk war! Stöhnend griff er sich an den Kopf, als die Erinnerungen wieder auf ihn einstürmten.
„Wie geht es dir?“
Jonathans Stimme durchdrang die wirren Erinnerungsfetzen in Thomas‘ Verstand, die sich langsam zum Gesamtbild des gestrigen Abends zusammenfügten. Er setzte sich hin, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und stand dann auf, um die Fenster zu öffnen und frische Luft in den Raum zu lassen. Vielleicht half das, seine Gedanken zu klären.
Draußen zwitscherten bereits die ersten Vögel. Die Welt sah immer noch so verdammt normal aus.
„Alles in Ordnung, Thomas?“
Erst jetzt realisierte er, dass eine Antwort erforderlich war. „Ja. Sorry. In meinem Kopf ist immer noch alles total durcheinander.“
Er warf Jonathan ein entschuldigendes Lächeln zu. Die Erleichterung, die er daraufhin in dessen Gesicht beobachten konnte, machte ihm erst bewusst, welche Sorgen der sich gemacht haben musste.
„Es tut mir leid, dass ich gestern so ... übergeschnappt bin“, sagte er daher. „Aber es ist jetzt alles okay, wirklich.“
Jonathan musterte ihn besorgt. „Ich hatte wirklich Angst, dass ...“
„... ich den Verstand verliere?“, ergänzte Thomas. „Hatte ich auch. Das war alles zu viel auf einmal.“ Er setzte sich wieder neben Jonathan auf die Bettkante.
„Was genau hat dich gestern Abend so beschäftigt?“, fragte Jonathan fast schüchtern. „Ich hab es einfach nicht verstanden.“
Thomas versuchte, sich zu erinnern, doch es gelang ihm nicht. „Was habe ich gesagt?“
„Du wolltest wissen, was meine wahre Gestalt wäre.“
„Ah, ja! Richtig. Und?“
„Und was?“ Jonathan sah ihn verwirrt an.
„Was ist sie?“
Jonathan stieß resignierend die Luft aus. „Thomas, ich habe die Frage gestern schon nicht verstanden. Was genau willst du wissen?“
Nun war es an Thomas, verwirrt die Stirn zu runzeln. „Na ... was bist du wirklich? Bist du ein Mensch, der sich in einen Werwolf und einen Wolf verwandeln kann? Oder ein Wolf mit derselben Fähigkeit? Oder bist du der Werwolf?“
Jonathan starrte ihn völlig verständnislos an. „Ich bin ... ich bin ich. Ich bin das alles.“
Da dämmerte es Thomas langsam: Jonathan begriff das Konzept der einen, wahren Gestalt nicht. Aber vielleicht war das normal, wenn man sie nach Belieben wechseln konnte.
„Es gibt keine Form, von der du sagst, das bist mehr du als die anderen? Keine Gestalt, die du annehmen musst, wenn du eine Weile eine andere warst?“
Jonathan schüttelte energisch den Kopf. „Nein! Warum auch? Ich fühle mich als Mensch einfach am wohlsten, weil ich so aufgewachsen bin, das hier“, er breitete die Arme aus, „ist mir am vertrautesten.“
Da erhellte Erkenntnis sein Gesicht. „Du verstehst nicht, dass das für mich keinen Unterschied macht! Oh. Das hab ich gestern nicht begriffen!“
Thomas lächelte. „Das kapier ich jetzt auch. Aber macht nichts. Ich glaub nicht, dass mir die Antwort gestern wirklich weitergeholfen hätte.“
„Hat dir das Kuscheln geholfen?“
Etwas in Jonathans Tonfall weckte Thomas‘ Aufmerksamkeit. Er warf ihm einen Seitenblick zu. Wurde Jonathan ein wenig rot oder bildete er sich das ein? War ihm das Ganze peinlich?
Vermutlich schon. Er kam aus dem Dorf unten im Tal. Thomas hatte schon immer den Eindruck gehabt, dass man dort nicht allzu tolerant war. Wenn da ein Mann einen anderen Mann, der nicht sein Bruder, Vater oder Sohn war, auch nur in den Arm nahm, unterstellte man ihnen sicherlich sofort unschickliche Absichten. Dort aufzuwachsen prägte vermutlich sehr.
Obwohl er es bedauerte, verstand Thomas, dass Jonathan sich vor derartigen Klatschgeschichten fürchtete. Gerüchte konnten selbst langjährige Freundschaften belasten. Er kannte das von seiner Zeit bei der Bundeswehr. Auch, wenn Einzelne dort eigentlich sehr offen und tolerant waren, konnte schon die Behauptung, man sei schwul, einem viele Probleme in der Gruppe bereiten.
„Ja“, antwortete er ehrlich. „Sehr. Danke dafür. Und keine Sorge, ich werd nichts von deinem Besuch hier irgendjemandem erzählen. Ehrenwort.“
Endlich lächelte auch Jonathan.
„Ich muss mich bald auf den Weg machen“, sagte er mit einem Blick auf den heller werdenden Himmel. „Hast du dir überlegt, ob du mitkommst?“
Diese Frage überraschte Thomas. „Nein! Ich kann doch nicht einfach mit euch Gott weiß wohin fahren!“
„Aber warum denn nicht? Gibt es hier etwas, das dich davon abhält?“
Nach kurzem Zögern schüttelte Thomas den Kopf. „Nein. Das nicht. Aber ... Ich kann doch nicht einfach, weil ich ...“ Nein. Weil ich jemanden getroffen habe, den ich mag, ließ zu viele Interpretationen zu. Er wusste ja selbst nicht genau, warum er Jonathan nach all der Zeit, die er hier alleine verbracht hatte, aus heiterem Himmel so vertraute. „... weil du mir gezeigt hast, dass mir das Alleinsein auf Dauer nicht gut tut, hier alles stehen und liegen lassen!“
Besser. Viel besser. Er wollte keinesfalls, dass Jonathan befürchtete, durch ihre Bekanntschaft würden die Leute denken, er sei schwul. Dann würde er ihn vielleicht nicht mehr wiedersehen wollen.
„Du hast Angst“, stellte Jonathan fest und lenkte Thomas‘ Gedanken damit wieder auf das eigentliche Thema ihres Gesprächs.
„Ja“, gestand Thomas. Nichts garantierte, dass eine Veränderung sein Leben zum Besseren wenden würde.
Jonathan sah zu Boden und dachte nach.
Einerseits enttäuschte Thomas‘ Angst ihn. Vertraute er ihm nicht? Glaubte er nicht, dass er für seine Sicherheit sorgen würde? Hier gab es doch ohnehin nichts für ihn.
Andererseits verstand Jonathan Thomas‘ Befürchtungen. Das Territorium eines fremden Rudels zu betreten und Kontakt zu ihm zu suchen, insbesondere, wenn man einander überhaupt nicht kannte, war bestenfalls gewagt. Vor allem für Kinfolk, das üblicherweise nicht als solches zu erkennen war – warum Jonathan Thomas sofort dafür gehalten hatte, war ihm ein Rätsel. Und wenn man dann noch bedachte, dass diese Hütte hier das Einzige war, das Thomas als Zuhause diente, als Rückzugsort, an dem er seine Wunden lecken konnte, musste eine spontane Reise ja Unbehagen erzeugen.
Tatsächlich war es fraglich, wie das Rudel reagieren würde, wenn er ihnen vom zufällig gefundenen Kinfolk berichtete. Er konnte ihnen nicht erzählen, dass er zugelassen, ja sogar dafür gesorgt hatte, dass Thomas den Anblick der Verwandlung beobachtete. Vielleicht ging er die Dinge mal wieder zu überstürzt an. Vielleicht war es wirklich besser, wenn Thomas hierblieb.