Jonathan zog die Stirn in Falten. Er wollte Thomas nicht wieder mit einer falschen Frage so sehr verärgern, dass ihr Gespräch abbrach, aber er verstand nicht, was dem anderen so zu schaffen machte.
Bewusst ruhig fragte er also nach. „Ok. Hör zu, ich will dich wirklich nicht ärgern oder so. Was genau ist es, das dich so aufregt? Ich vermeide das Thema gern, wenn du es mir verrätst.“
Aufseufzend fuhr Thomas sich mit einer Hand durch die Haare. „Ich weiß auch nicht ...“ Er starrte ins Leere.
Was genau war es, das ihn so aus der Fassung brachte? Die Frage hatte er sich auch schon gestellt, doch nie ernsthaft nach einer Antwort gesucht. Er war dem Thema lieber aus dem Weg gegangen. Aber nun fragte Jonathan danach. Der war offen und ehrlich zu ihm gewesen, hatte ihm seine Schwächen ebenso offenbart wie seine Stärken. Er verdiente es, dass Thomas wenigstens versuchte, die Frage zu beantworten.
Also – was war es, das ihn so vor dem Angebot zurückschrecken ließ?
Er kannte die anderen nicht. Aber das war nicht der Grund – er hatte auch seine Kameraden nicht gekannt, bevor er Berufssoldat wurde.
Nein. Er wollte Enttäuschungen vermeiden. Auf beiden Seiten. Das war es.
Wenn er die anderen kennenlernte, mochte, doch sie ihn nicht in ihr Rudel – erstaunlich, wie selbstverständlich ihm der Begriff bereits über die Lippen kam – aufnehmen würden ... Er wollte sich nicht noch einmal so abgewiesen fühlen.
Und dann die Enttäuschung auf der anderen Seite. Wenn sie von ihm erwarteten, dass er ihnen mit seinem Wissen half, er aber wieder versagte ...
Er schluckte trocken. „Wenn sie mich akzeptieren, wenn ich sie auch mag ... Was, wenn ich einmal nicht helfen kann?“
Jonathan sah ihn mitfühlend an. Er spürte, dass er sich hier einem Thema annäherte, das Thomas am liebsten verdrängen würde. „Ist dir das passiert? Hast du mal nicht helfen können?“
Mitleid stieg in ihm auf, als er den Schmerz in Thomas‘ Augen wahrnahm.
„Einmal?“ Thomas‘ Stimme zitterte leicht. „Nein, ich konnte häufiger nicht helfen. Das kommt natürlich vor. Aber ... einmal war es meine Schuld, dass ...“
Da waren sie wieder, die Erinnerungen, die ihn quälten. Er wollte nie wieder in eine solche Situation geraten, ganz sicher nicht! Hier oben in seiner Hütte konnte ihm ein derartiger Fehler nicht unterlaufen und niemand machte ihm Vorwürfe. Niemand außer ihm selbst. Wenn er diese kleine, heile Welt, die er sich aufgebaut hatte, verließ, war alles möglich – sein Leben musste sich nicht zwangsläufig zum Besseren wenden!
Jonathans Hand auf seiner Schulter rief ihn in die Gegenwart zurück.
„Willst du es mir erzählen?“
Thomas bemühte sich um ein Lächeln. „Nein.“ Er atmete einmal tief durch und sprach dann doch weiter. „Ich träume immer noch von manchen schwierigen Fällen. Ich meine, kein Wunder. Die Träume sind auch nicht schlimm. Aber da gab es einen Einsatz ...“ Seine Stimme brach und er schloss die Augen, um die Erinnerung zu verdrängen.
Jonathan wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Wäre Thomas ein Werwolf, wäre es so viel einfacher – er würde sich mit ihm aufs Bett legen, sich eng an ihn schmiegen, bis er sich wieder rührte. Aber Thomas war ein Mensch – selbst, falls er wirklich Kinfolk war, hatte er nie gelernt, das Verhalten von Werwölfen zu verstehen, und würde seine Annäherung vielleicht nicht gutheißen oder missverstehen. Diese Erkenntnis machte Jonathan traurig. Er wollte Thomas so gerne näher sein.
Wie konnte er einem Menschen zeigen, dass er für ihn da war?
Dies war eine der seltenen Situationen, in denen selbst Jonathan Schwierigkeiten hatte, sich in diese Spezies hineinzuversetzen. Er war als Mensch geboren und sogar fast ausschließlich in ihrer Kultur aufgewachsen, ihm fiel das daher wesentlich leichter als einem Wolfsgeborenen, aber jetzt stieß auch er an seine Grenzen. Werwölfe waren einfach anders.
Sanft drückte er Thomas‘ Schulter, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
„Bist du dir sicher, dass du nicht darüber reden willst?“, versuchte er es zaghaft. „Vielleicht würde es dir helfen.“ Das funktionierte oft bei Menschen.
Thomas focht einen inneren Kampf aus. Er stieß die Luft geräuschvoll aus, holte dann Atem. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, zu einer Erklärung anzusetzen, doch er brachte keinen Ton über die Lippen.
Resignierend schüttelte er den Kopf. Er konnte das einfach nicht. Vermutlich hatte Jonathan sogar Recht und es täte ihm gut, all das einmal in Worte zu fassen, aber er wollte nicht. Wann auch immer er davon erzählt hatte, war er danach mit Mitleid, Vorwürfen, Beschwichtigungen oder völlig überflüssigen Vergleichen überhäuft worden. Es hatte stets nur dazu geführt, dass er sich noch schlechter gefühlt hatte als zuvor – oder die Zuhörer ihm von da an andauernd misstrauische Blicke zuwarfen, wenn sie glaubten, er sähe nicht hin.
Trotzig ballte er die Fäuste. So leicht ließ er sich nicht unterkriegen! Warum vertraute er diesem Fremden, den er kaum kannte, überhaupt so sehr? Gestaltwandler hin oder her – am Ende würde es mit ihm vermutlich genauso enden wie mit allen anderen!
Ohne sich dessen bewusst zu sein, zog er die Mauern um sein Innerstes wieder hoch, mit denen er andere Leute auf Distanz hielt.
„Wenn ich es dir erzähle, gehst du mir nur auch aus dem Weg“, sagte er mit fester Stimme und straffte die Schultern. „Lass es also gut sein.“
Jonathan zog seine Hand zurück. Er fühlte sich abgewiesen und verletzt – warum war Thomas zu ihm nur so anders, wenn er ihm als Mensch begegnete?
Er hatte viele wirklich schlechte Erfahrungen gemacht. Im Stillen ermahnte Jonathan sich, die Reaktion nicht persönlich zu nehmen und so impulsiv darauf zu reagieren, wie er es üblicherweise tat. Nachdenklich sah er ihn von der Seite an. Sollte er der Aufforderung, das Thema ruhen zu lassen, nachkommen oder dranbleiben?
„Warum bist du dir so sicher, dass du weißt, wie ich reagiere?“, fragte er schließlich. Das konnte ihm noch nicht als unhöfliches Nachbohren ausgelegt werden.
Thomas lachte freudlos auf. „Das hat bisher jeder! Ich bin nicht wie die Norm, habe ein paar wirklich unschöne Dinge getan, und all das wird mir vorgeworfen!“
Daher wehte der Wind also! Jonathan konnte sich ein leises, raues Lachen nicht verkneifen. Entschlossen ergriff er wieder Thomas‘ Schulter, drehte ihn zu sich, sodass er ihn ansah. Es war wichtig, dass er genau zuhörte.
„Du glaubst, das könnte ich nicht verstehen? Ich bin ein Werwolf, Thomas. Ich bin auch nicht die Norm. Ich bin freundlich, hilfsbereit, treu und ehrlich, aber wenn man mich oder mein Rudel angreift, kann ich auch anders. Und glaub mir, ich hab auch schon einige Dinge getan, die die Leute schockieren würden – aber das sind nur Menschen. Die verstehen das nicht. Du schon. Du bist Soldat. Du bist Kinfolk. Wir sind einander ähnlich!“
Thomas‘ ernste graue Augen sahen fest in seine.
„Warum bist du dir so sicher, dass ich Kinfolk bin? Was, wenn du dich irrst? Wenn das alles nur eine schöne Theorie ist, bei der ich am Ende wieder allein hier sitze?“
Erkenntnis huschte über Jonathans Gesicht. „Das ist also deine Angst.“ Er nickte verständnisvoll. Wie schrecklich musste es sein, die Tür zu einer neuen Welt aufgestoßen zu bekommen, um dann festzustellen, dass man sie nicht betreten konnte?
„Ich kann dir nicht sagen, warum ich mir sicher bin, Thomas. Ich bin es einfach.“ Nachdenklich biss er sich auf die Unterlippe. „Aber ... es gäbe eine Möglichkeit, es herauszufinden.“
„Wie?“
Jonathan zögerte einen Augenblick. Was ihm vorschwebte, konnte Thomas schaden, falls seine Theorie falsch war. Gemäß den Gesetzen der Werwölfe war er verpflichtet, Menschen davor zu bewahren, was praktischerweise auch zur Geheimhaltung der Existenz der Werwölfe beitrug. Aber war es für Thomas nicht viel schlimmer, im Ungewissen zu bleiben? Jonathan war sich so sicher, dass Thomas Werwolfgene in sich trug – er würde nie wirklich glücklich werden, wenn er weiterhin aus ihrer Welt ausgeschlossen blieb. Das konnte er ihm doch nicht antun!
Falsch. Hier ging es nicht um ihn. Thomas musste entscheiden, was er wollte.
„Wenn du nicht verrückt vor Angst wirst, wenn du einen Werwolf siehst, in Werwolfgestalt, bist du Kinfolk“, erklärte er. „Aber wenn du es nicht bist, ist das gefährlich. Vielleicht weigert sich dein Verstand einfach, es zu akzeptieren, und blendet die Erinnerung aus oder verfälscht sie. Es kann aber auch zu ernsthaften, dauerhaften Geistesstörungen kommen.“
Dass Jonathan sich damit in den Augen der Werwolfgesellschaft strafbar machte, musste Thomas aber nicht erfahren.
Er wollte nicht, dass Thomas den Verstand verlor. Er mochte ihn. Er mochte ihn sehr. Auf einmal hatte er Angst davor, sich doch zu irren. Er wusste ja nicht einmal, warum er sich so sicher war! Unwillkürlich drückte er Thomas‘ Schulter fester.
Der legte eine Hand auf Jonathans Unterarm. „Zeig’s mir. Bitte.“
Er musste einfach wissen, ob Jonathans Theorie zutraf. Ob er mit Werwölfen verwandt war. Ob all die Kleinigkeiten, die ihm an sich selbst schon immer aufgefallen und ein wenig unheimlich vorgekommen waren, vielleicht endlich erklärt werden konnten: Sein starkes Heimweh, wenn er lange von seinen Leuten fort gewesen war. Der Spaß, den er im Zweikampf verspürte. Das Bedürfnis, Menschen, die er mochte, zusammenzubringen und beisammenzuhalten, sie zu berühren, Frauen wie Männer. Die Selbstverständlichkeit, mit der er Hierarchien akzeptierte, wenn sie gerechtfertigt waren.
Wenn Jonathan Recht hatte, dann war er ganz normal. Kinfolk eben. Er würde sich in der Gesellschaft nicht mehr so fehl am Platz fühlen, einfach, weil er dann wüsste, wo er seinen Platz suchen müsste: nicht bei den Menschen, sondern in der Welt der Werwölfe und ihrer Verwandten.
Und falls Jonathan sich irrte?
Vielleicht war er dann ohne Erinnerung oder Verstand ohnehin besser dran. Ohne es zu wollen, setzte er inzwischen so viel Hoffnung in Jonathans Theorie, dass er nicht wusste, ob er eine Enttäuschung verkraften würde.
Er konnte bei diesem Spiel nur gewinnen.