Jonathan hatte sich von Mareike und Steffi streicheln lassen, bis die der Bewegung müde wurden und sich dicht neben ihn ins Gras setzten. So an zwei Menschen gekuschelt, die ihm viel bedeuteten, genoss er die Wartezeit, bis eine der Duschen für ihn frei wurde.
Er streckte sich lang, dann wurde er Mensch und sah sich rasch nach allen Seiten um.
„Da.“ Mareike lächelte, als sie ihm bedeutete, zu Steffi hinüberzusehen. Die hatte von irgendwo ein großes Duschtuch geholt und hielt es ihm jetzt entgegen.
„Wir haben zum ersten Mal die Familie von Julius dabei“, erklärte sie. „Da dachte ich, die sind uns noch so fremd, dass du dich unwohl fühlen könntest.“
Jonathan warf ihr einen dankbaren Blick zu und wickelte sich das Handtuch um den Körper. Natürlich wussten sowohl Steffi als auch Mareike um seine Eigenheiten. „Bin gleich wieder da“, erklärte er und verschwand im Haus.
Steffi sah ihm nach. Normalerweise brauche Jonathan nicht besonders lange zum Duschen.
„Ich muss unter vier Augen mit ihm reden“, informierte sie Mareike, die immer noch im Gras saß. „Kannst du bitte gehen, wenn sich nachher eine Gelegenheit bietet?“
Die sah zwar ein wenig beunruhigt aus, nickte aber. „Natürlich.“ Nach einem Moment des Zögerns fragte sie: „Hat er Schwierigkeiten? Wegen diesem Thomas?“
Steffi sah auf sie hinunter und dachte einen Augenblick nach, bevor sie mit einer Gegenfrage reagierte. „Was weißt du über diesen Mann?“
Mareike biss sich auf die Lippe und zuckte mit den Schultern. „Eigentlich nichts. Sebastian hat dir bestimmt genauso viel erzählt wie Jonathan mir.“
Steffi stieß enttäuscht die Luft durch die Nase, obwohl sie mit dieser Antwort gerechnet hatte. Mareike war Jonathans beste Freundin und würde nicht einfach Dinge über ihn ausplaudern, die er ihr anvertraut hatte. Dennoch war die direkte Frage einen Versuch wert gewesen. „Danke. Wie gesagt, ihm droht kein Ärger, mach dir keine Sorgen. Aber ich werde trotzdem alleine mit ihm reden müssen. Bitte mach das möglich.“
Sie hatte sich bereits abgewandt, als Mareike die Stimme erhob. „Warte! Was ist los?“
Verblüfft darüber, aufgehalten zu werden, drehte Steffi sich zu ihr um. Eigentlich stand es Mareike nicht zu, ihre Absichten zu hinterfragen. In Anlehnung an die Hierarchie der Werwölfe hatte sich auch zwischen den Kinfolk des Rudels eine unausgesprochene Rangordnung entwickelt, und als Gefährtin eines Werwolfs war Steffis Status deutlich höher als der von Mareike. Doch in deren Blick lag keine Herausforderung, sondern ehrliche Sorge. Und in diesem Moment erkannte Steffi, dass sich ihr gerade eine hervorragende Gelegenheit bot, eine Verbündete zu gewinnen.
Sie setzte sich wieder. „Was genau willst du?“
Mareike war ob der Frage und der Intensität von Steffis Blick sichtlich irritiert. „Was meinst du?“, fragte sie vorsichtig zurück.
„Du willst unbedingt wissen, was Jonathan erwartet – warum? Was ist der Grund für deine Neugier? Was ist dein Ziel?“
Die Frage verärgerte Mareike sichtlich. Leichte Röte überzog ihre Wangen, als sie mit leiser, aber unverkennbar zorniger Stimme antwortete: „Was soll das denn? Glaubst du echt, ich plane irgendwelche geheimen Sachen? Jona ist mein bester Freund! Ich will einfach nur, dass er auch mal glücklich ist!“
Diesmal war es an Steffi, überrascht zu sein. „Wieso ‚auch mal‘? Er ist doch glücklich hier im Rudel und –“
„Privat, meine ich“, unterbrach Mareike ihren Satz. „Alles, was er außerhalb der Arbeitszeit macht, dreht sich doch ums Rudel oder um Sebastian! Ich weiß absolut nichts über diesen Thomas, aber das ist, seit ich Jona kenne, das erste Mal, dass er sich für irgendjemanden oder irgendetwas interessiert, das nichts mit dem Rudel zu tun hat. Und ich finde, das hat er einfach auch mal verdient!“
Aus dieser Perspektive hatte Steffi das noch nie betrachtet. „Warum will er Thomas dann unbedingt zum Rudel bringen?“
Mareike seufzte, als sei das vollkommen offensichtlich. „Wir sind seine Familie. Selbst, wenn Thomas kein Kinfolk sein sollte, will er, dass wir ihn kennenlernen. Vielleicht braucht er ein bisschen unsere Bestätigung dafür, dass er Recht damit hat, ihn zu mögen?“
„Du denkst also, wir sollten um Jonathans Willen Thomas gegenüber aufgeschlossen sein“, fasste Steffi zusammen.
Mareike nickte nachdrücklich. „Genau. Jona ist unser Freund und Teil des Rudels, er hat das verdient!“
Steffi lächelte. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Rudelmitglieder war etwas, das sie immer wieder berührte, und dass Mareike sich so für Jonathan einsetzte, imponierte ihr. „Da hast du Recht“, bestätigte sie daher deren letzte Worte. Und dann entschied sie, ihren vorhin gefassten Plan in die Tat umzusetzen – sie würde Mareike in ihr Vorhaben einweihen. „Weißt du, ich glaube, wir wollen dasselbe.“
Mareike lachte kurz. „Du willst Sebastian helfen, nicht Jonathan.“
Für einen Moment erstarrte Steffi. Sie fühlte sich ertappt – und dann doch wieder im Recht. „Natürlich – er ist mein Gefährte“, gab sie zu. „Aber ich mag Jonathan wirklich gerne, also geht es hier nicht nur um Sebastian. Tatsächlich kann ich in dieser Situation zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.“ Sie senkte die Stimme. „Sebastian ist ganz schön ... durcheinander. Ich will ihm helfen, ja – und zwar, indem ich dafür sorge, dass Thomas möglichst reibungsfrei Teil unseres Rudels werden kann, falls er Kinfolk ist. Aber dafür muss ich verstehen, was Jonathan eigentlich antreibt, und ich muss Thomas kennenlernen.“
Mareike nickte, als habe sie so etwas schon erwartet. „Sebastian ist eifersüchtig auf Thomas, richtig?“
Verblüfft sah Steffi sie an. „Woher weißt du das?“
„Jonathan hat mir von dem Wochenende in der Bergen erzählt. Ich hab nur eins und eins zusammengezählt.“ Dann lächelte sie verschwörerisch. „Und du meinst, wir könnten zusammen an einem Kinfolk-Integrationsprogramm arbeiten, damit Sebastian realisiert, dass Thomas ihn nicht ersetzen soll?“
Steffi lachte. „Ich hätte es anders ausgedrückt, aber ja.“
„Einverstanden!“ Mareike strahlte. „Ich habe mir schon vorgenommen, Thomas wenigstens über die grundlegenden Verhaltensweisen und Eigenheiten von Werwölfen aufzuklären, bevor er das Rudel trifft. Es muss wirklich seltsam für ihn sein – er ist wahrscheinlich Kinfolk, weiß aber trotzdem gar nichts. Wenn er mich lässt, helfe ich ihm dabei, das zu ändern!“
Ihr Enthusiasmus und ihre Zuversicht waren ansteckend. Steffi wurde leichter ums Herz: Gemeinsam würde es ihnen sicherlich gelingen, die seltsame Situation, in der sich die Brüder befanden, aufzulösen.
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Wie üblich brauchte Jonathan nicht lange zum Duschen. Er fühlte sich sichtlich wohl, als er mit noch feuchten Haaren und in bequemer Kleidung zu den beiden zurückkehrte. Kaum saß er wieder im Gras, warf er einen begehrlichen Blick in Richtung des Grills, an dem Mareikes Vater Steaks und Würstchen wendete.
„Wenn Julius aus der Dusche kommt, wird er garantiert was zu kritisieren finden“, sagte er grinsend.
Steffi kicherte, und auch Mareike lachte. „Ich glaube, er will uns beweisen, wie gut er ins Rudel passt“, sagte sie dann. „Und ein professioneller Koch hat ja wirklich was für sich, auch, wenn die Besserwisserei meinen Vater ein bisschen ärgert.“
„Die zwei werden schon noch untereinander ausmachen, wer zukünftig grillt“, meinte Steffi schmunzelnd. Hinter Jonathans Rücken machte sie eine unauffällige Geste zu Mareike hinüber.
„Ich geh mal schauen, wie lange es noch dauert“, meine die daraufhin sofort. „Ich bin bald wieder da und berichte!“ Damit erhob sie sich und ließ Steffi und Jonathan allein.
Mit einem genüsslichen Seufzen legte Jonathan sich ins Gras und streckte sich. „Ich hab einen Bärenhunger“, verkündete er.
Steffi lächelte. „Wie üblich.“ Wie könnte sie möglichst effektiv auf das Thema überleiten, das sie aktuell interessierte?
Doch zu ihrer Überraschung kam Jonathan ihr zuvor. „Kann ich dich was fragen?“
„Klar.“ Sie war gespannt, was genau er wissen wollte.
„Ist Sebastian eifersüchtig auf Thomas, weil ich ihn mag?“
Steffi schwieg für einen Moment, wich Jonathans Blick aber nicht aus. „Das ist nicht ganz richtig, kommt der Sache aber nahe“, antwortete sie dann. „Ich glaube, er ...“ Sie suchte kurz nach der richtigen Formulierung, bevor sie fortfuhr. „Er fürchtet, dass er ihn als deinen engsten Vertrauten ersetzen könnte.“
Jonathan sah Steffi verblüfft an und schüttelte ungläubig den Kopf. Er hielt diese Angst so offensichtlich für unbegründet, dass er nichts weiter dazu sagte.
Bevor das Schweigen zwischen ihnen zu lang wurde, kam Steffi zu dem Thema, über das sie unbedingt mehr erfahren wollte. „Warum bist du dir so sicher, dass Thomas Kinfolk ist?“
Sie erhielt zunächst nur ein Lächeln und ein vages Schulterzucken zur Antwort – doch damit ließ sie sich nicht abspeisen.
„Du musst dir sicher sein, Jona, sonst hättest du ihm nicht von den Werwölfen erzählt“, bohrte sie weiter. „Du würdest das Rudel nicht in Gefahr bringen!“
Seufzend setzte Jonathan sich auf. Dann antwortete er, wenn auch zögerlich. „Weiß nicht. Er fühlte sich so ... vertraut an. Er roch irgendwie richtig. Und er war ganz eindeutig unglücklich, so ganz alleine. Da konnte ich ihn doch nicht im Stich lassen. Er gehört zu uns, ich weiß es einfach!“
Die Art, auf die Jonathan das Wort „richtig“ betonte, machte Steffi stutzig. Konnte man Kinfolk an einem bestimmten Geruch identifizieren? Das war ein interessanter Gedanke, dem sie später unbedingt nachgehen musste.
„Warum willst du ihn zu unserem Rudel bringen? Warum nicht ein anderes?“
Unsicherheit trat in Jonathans Züge, und er ließ den Blick schweifen, wie um sicherzugehen, dass niemand außer Steffi ihn hören konnte.
„Ich erzähle es nicht weiter“, versicherte sie.
Jonathan lächelte kurz. „Das weiß ich. Ich kann es nur gar nicht so genau sagen. Er liegt irgendwie auf meiner Wellenlänge, wir sind Freunde geworden. Ich möchte, dass er nicht alleine ist, und er würde bestimmt gut zu uns passen. Und ich will nicht, dass er so weit weg ist. Er ist ...“ Er rang sichtlich nach Worten. „Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Es fühlt sich an, als hätte ich ihn gefunden, obwohl ich ihn gar nicht vermisst hatte, weil ich nicht wusste, dass es ihn gibt. Irgendwie fühlt es sich an, als ob ich ihn schon ewig kenne, dabei weiß ich fast nichts über ihn ... Ergibt das irgendeinen Sinn?“
Der hilfesuchende Blick, den er Steffi zuwarf, und das Vertrauen, das darin steckte, rührten sie. Sie schenkte ihm ein liebevolles Lächeln und drückte seine Schulter. „Ja, das tut es, Jona.“ Sie glaubte, endlich verstanden zu haben, was ihn antrieb.