Jonathan freute sich, dass Thomas sich ihm diesmal nicht entzog. Körperkontakt schenkte Trost und gab Halt, und er genoss es, Thomas beides zu geben.
Es vergingen einige Minuten, in denen sie schweigend auf der Bettkante saßen und einander stille Gesellschaft leisteten.
Jonathan drückte leicht Thomas‘ Schulter. „Na, besser?“
Mit einem tiefen Seufzen richtete der sich wieder auf. Jonathan gab ihn frei und sah ihm besorgt ins Gesicht. Hatte er ihn mit all diesen neuen Informationen überfordert?
„Ganz ehrlich – du machst mich fertig“, murmelte Thomas mit einem Schmunzeln. „Was erzählst du mir als Nächstes? Dass es eine geheime Werwolfbasis auf der Rückseite des Mondes gibt?“
Zuerst starrte Jonathan Thomas verdutzt an. Dann zuckten seine Mundwinkel, und als Thomas daraufhin leise zu lachen begann, konnte auch Jonathan sich nicht mehr zurückhalten. Beide brachen in Gelächter aus, stachelten sich damit gegenseitig an, und als Jonathan Thomas spielerisch gegen den Oberarm schlug, griff der das Kissen hinter sich und warf es dem unachtsamen Jonathan ins Gesicht, was der mit einem noch heftigeren Lachanfall quittierte. Das Lachen und der Unsinn wirkten befreiend und lösten die innere Anspannung, unter der beide gelitten hatten.
Als sie sich wieder beruhigten und die Tränen aus den Augen wischten, warf Thomas Jonathan ein Lächeln zu. „Du machst mich wirklich fertig.“ Er atmete noch einmal tief durch, dann gestand er grinsend: „So was hat mir gefehlt.“ Es war eindeutig an der Zeit, wieder Kontakt zu anderen zu suchen. Er sollte netter zu den Leuten im Ort sein.
Der Gedanke ernüchterte ihn, und mit wieder ernster Stimme fragte er: „Stimmt das, dass du und dein Bruder morgen wieder abreisen?“
Auch Jonathans Fröhlichkeit verlor sich bei dem Thema. „Ja“, erwiderte er, „Sebastian wollte gleich nach dem Frühstück los, damit wir nicht so spät nach Hause kommen.“
„Und ... wann kommt ihr zurück?“ Vorsichtige Hoffnung schwang in Thomas‘ Stimme mit.
Diesmal war es Jonathan, der seufzend in sich zusammensank. „Ich weiß es nicht. Wir hatten uns zwei Wochen Urlaub genommen, wegen der ganzen Termine, die mit dem Tod unserer Mutter auf uns zukamen. Um das Haus nochmal zu besuchen. Vielleicht verkaufen wir es und kommen gar nicht zurück ... Das hier ist schon ganz schön weit weg von Zuhause ... aber irgendwie ist es doch auch Zuhause. Ich weiß immer noch nicht, was ich wirklich will.“ Eine einzelne Träne tropfte auf die Hand, mit der er noch immer die Decke vor seiner Brust zusammenhielt, und als wäre das ein Startsignal gewesen, brachen die Trauer, die Unsicherheit und die Zweifel, die er in den letzten Tagen erfolgreich verdrängt hatte, aus ihm heraus.
Thomas beobachtete hilflos, wie Jonathan die Hände vors Gesicht schlug und stumm weinte. Er konnte ihn so gut verstehen – selbst nach Jahren tat ihm der Gedanke an den Verlust seiner Eltern und seiner Heimat oft noch schrecklich weh. Er erinnerte sich, dass der Schmerz in den Monaten nach dem Unfall am schlimmsten gewesen war. Er wollte seinen neu gewonnenen Freund so gerne trösten.
Aber was brauchte Jonathan in solch einer Situation? Er hatte ihn vorhin umarmt – würde ihm das jetzt auch helfen? Zögernd legte er ihm eine Hand auf die Schulter – und schrak zusammen, als Jonathan sich zu ihm drehte und sich in seine Arme warf. Himmel! Aber er hatte erwähnt, dass Werwölfe viel Körperkontakt brauchten ...
Er schob den seltsamen Gedanken, auf seiner Bettkante zu sitzen und einen halbnackten Mann zu trösten, den er gerade mal eine Stunde – nein, irgendwie war es ja doch eine ganze Woche – kannte, beiseite. Vorsichtig legte er die Arme um ihn und klopfte ihm sacht auf den Rücken.
Hoffentlich half das. Er wusste wirklich nicht, was genau er jetzt tun sollte.
Als Jonathan sich wieder ein wenig beruhigt hatte, stellte Thomas die Frage, mit der er zuvor aus seinen trübsinnigen Gedanken geholt worden war: „Na, besser?“
Er spürte das Nicken mehr, als er es sah.
Wäre das jetzt nicht der geeignete Moment, sich wieder von ihm zu lösen? „Ähm ... lässt du mich wieder los?“, fragte er leicht verunsichert.
Seufzend richtete Jonathan sich wieder auf. „Sorry. Ich könnte jetzt noch eine ganze Stunde Streicheleinheiten gebrauchen.“ Dann lachte er kurz auf, als ihm bewusst wurde, dass er neben einem Menschen saß. „Muss komisch für dich sein. Tut mir leid – ich hatte nicht vor, dir das T-Shirt vollzuheulen.“ Er mied Thomas‘ Blick, trocknete sein Gesicht mit der Decke und zog sich diese wieder vollständig um den Körper.
„Schon ok“, versicherte Thomas ihm. Dann verzog er das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Ich schätze, ich muss mich einfach noch an Werwölfe und ihre Eigenheiten gewöhnen.“
Er konnte den seltsamen Blick, mit dem Jonathan ihn ansah, zunächst nicht deuten.
„Das würdest du bestimmt schnell“, sagte der leise. Und dann platzte es aus ihm heraus: „Komm doch mit uns nach Hause. Unser Rudel würde dich ganz sicher aufnehmen!“
Mit einem amüsierten Schnauben winkte Thomas ab. Der Vorschlag konnte unmöglich ernst gemeint sein. „Na klar. Es ist noch nicht mal sicher, dass deine Theorie stimmt und ich wirklich Kinfolk bin, warum sollten sie mich einfach so in ihrer Mitte willkommenheißen? Ich bin nur ein Mensch!“
Jonathans Augen leuchten. „Nein, bist du nicht! Also, schon irgendwie, aber überleg doch mal – du bist ganz bestimmt Kinfolk, also würde man dich auf jeden Fall kennenlernen wollen. Und sie würden deine Fähigkeiten wirklich schätzen! Werwölfe geraten häufig in Kämpfe, jemanden im eigenen Rudel zu haben, der einem dann helfen kann, wäre großartig!“
Oh Himmel, Jonathan meinte das tatsächlich ernst ... Doch so verlockend der Gedanke, zu einer Gruppe, einem Rudel zu gehören auch war – der Vorschlag schreckte Thomas ab, und er schüttelte vehement den Kopf. „Das kann ich nicht!“, brach es aus ihm heraus.
„Warum nicht?“, drängte Jonathan. „Was hält dich hier?“
Thomas konnte die Frage nicht beantworten. Bequemlichkeit? Gewohnheit? Angst vor Veränderungen? Furcht vor Wiederholungen? Alles zusammen?
„Ich kann das einfach nicht“, murmelte er und wich Jonathans Blick aus. „Was, wenn du meine Fähigkeiten überschätzt und ich nicht helfen kann?“ Was für Wunden mochten Werwölfe bei einem Kampf davontragen? Waren sie den Verletzungen aus Krisengebieten ähnlich?
Jonathan antwortete voll Überzeugung: „So ein Quatsch, warum solltest du nicht helfen können? Du bist gut!“
„Woher willst du das wissen?“ Ärger stieg in ihm auf. „Das alles ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst!“