Er war müde, als er endlich zuhause ankam. Rasch schlüpfte er durch die Hecke, die den großen Garten vor neugierigen Blicken schützte, eilte über die Terrasse und schob die Hintertür auf.
Noch auf der Schwelle wechselte er wieder in seine menschliche Gestalt.
„Jona!“ Mit einem Aufschrei schoss sein Bruder auf ihn zu und schloss ihn fest in die Arme. „Oh, ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!“
Dann endlich entließ er ihn aus seiner schraubstockartigen Umarmung und schob ihn eine Armeslänge von sich, um ihn von oben bis unten zu mustern. „Ist alles in Ordnung?“
Seine Sorge ließ Jonathan lächeln. Sein älterer Bruder hatte schon immer auf ihn aufpassen wollen, das hatte sich auch nicht geändert, als sie beide erwachsen wurden. „Ja, alles ok. Ein Fußgelenk tut noch ein bisschen weh, aber das dürfte bald auch wieder gut sein. Und bei dir?“
Er wartete die Antwort nicht ab. Erschöpft durchquerte er die Küche und machte sich direkt auf den Weg nach oben – er brauchte eine Dusche und etwas zum Anziehen. Genau wie er erwartet hatte, folgte Sebastian ihm und redete weiter.
„Oh, das waren nur ein paar blaue Flecken, die sind längst wieder weg. Ich habe euch noch eine Weile beobachtet, nachdem dieser Typ dich vom Geröll geholt und dir die Wunden versorgt hatte. Ein echtes Plappermaul, was? Als er die Tür offen gelassen und dich nicht eingesperrt hat, hab ich ihm dann tatsächlich geglaubt und mich heim getraut. Wer ist der Kerl?“
Jonathan zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Der muss neu sein.“ Er hatte noch keine Lust auf eine ausgiebige Unterhaltung.
„Klar.“ Sebastian lachte. „Wenn wir nach den Jahren der Abwesenheit irgendetwas hier als ‚neu‘ bezeichnen können.“ Dann lächelte er und nickte auffordernd in Richtung Badezimmer. „Aber jetzt geh erst mal duschen, du stinkst wie ein Iltis – ich mach uns derweil was zu essen, damit du wieder zu Kräften kommst.“ Und damit war er auch schon wieder die Treppe hinuntergeeilt.
Natürlich hatte er Recht – sie waren lang genug fort gewesen, um selbst von den jüngeren Kindern im Ort nicht mehr wiedererkannt zu werden. Nach der Schule waren sie zum Studieren in andere Orte gezogen, hatten dann Arbeit gefunden. Erst der Tod ihrer Mutter hatte sie vor wenigen Wochen wieder hier in das Bergdorf geführt, in dem sie aufgewachsen waren.
Es war seltsam, wieder hier zu sein. Erinnerungen überfluteten Jonathan an fast jeder Stelle, die er passierte – und doch gab es überall auch Veränderungen. Es war oft schwierig, das Alte und das Neue geistig demselben Gebäude, derselben Sache zuzuordnen.
Auch die Leute hatten sich verändert. Einige waren fortgezogen, andere neu dazu gekommen. Neureiche, die sich die Idylle des Landlebens ach so schön vorstellten. Sie schienen nur wenige Wochen im Jahr hier zu sein. Und natürlich Touristen. Es waren ein paar Hotels und Pensionen entstanden, direkt an dem Park, in dem gestern das Konzert gegeben worden war.
Er fühlte sich seltsam. Zuhause und fremd.
Wollte er dieses Haus behalten, das ihn an seine Kindheit erinnerte? War das ein Ort, an dem er leben wollte?
Konnte, nein, wollte er ohne eine Septe, ein Rudel, überhaupt irgendwo leben?
Soweit sie wussten, gab es hier keine anderen Werwölfe. Es war einer der Gründe, warum ihre Mutter damals überhaupt hergezogen war – sie hatte immer gehofft, sie hätten diese speziellen Gene ihres Vaters nicht geerbt, und falls doch, dass sie hier oben sicher sein würden. Dass sie keinen frühen Tod fänden, wie ihr Vater es getan hatte.
Sie wusste nichts von dem wunderbaren Gefühl des Rudelzusammenhalts, das sie ihren Kindern damit vorenthielt. Aber wie hätte sie es auch nur erahnen können? Er machte ihr keine Vorwürfe.
Das heiße Wasser entspannte seine Muskeln, und für den Moment ließ er seine Sorgen los, genoss nur die Wärme und das Gefühl von Sauberkeit, die es ihm schenkte. Die Nacht war unbequem und anstrengend gewesen.
Und doch interessant.
Wer war dieser Mann? Er war nur wenige Jahre älter als Jonathan, aber er hatte hier nicht gewohnt, als er damals weggezogen war.
Und warum lebte er ganz alleine dort oben?
Es war ein schreckliches Gefühl gewesen, über das Geröllfeld zu stolpern – im wahrsten Sinne des Wortes. Der heiße Schmerz in seinen Hinterläufen war schon schlimm genug, doch dann auch noch unter den Felsen begraben zu werden, hatte ihn panisch werden lassen. Eingesperrt, gefangen – all seine wölfischen Instinkte hatten rebelliert, die Kontrolle über sein Denken übernommen. Er hätte seine Gestalt in diesem Zustand niemals wechseln können!
Doch das hatte auch sein Gutes, denn es wäre gefährlich gewesen. Wer weiß, ob er damit nicht einen zweiten Felsrutsch ausgelöst hätte?
Seine Instinkte hatten mit noch größerer Panik auf das plötzliche Auftauchen des Mannes reagiert. Hätte Sebastian ihn nicht mit seinem Knurren auf ihn aufmerksam gemacht, hätte er ihn möglicherweise sogar übersehen. Er war seinem Bruder so dankbar gewesen, als der versuchte, den Mann zu vertreiben, dann stets unauffällig in seiner Nähe blieb. Er hatte ihn die ganze Zeit über gehört und gerochen.
Hätte er sich in seinem Schmerz und seiner Angst in seinem Wolf verloren? Erst die ruhigen, menschlichen Worte hatten ihm ermöglicht, wieder klarer zu denken.
Er verstand, was der Mann sagte, aber er wusste nicht, ob er ihm glauben konnte, glauben durfte. Sein Wolf misstraute dem Zweibeiner zutiefst, und lange hatten sein Verstand und seine Instinkte um die Vorherrschaft gerungen.
Die ruhige Art des Mannes hatte letztendlich geholfen, dass sein rationales Denken wieder die Kontrolle übernahm. Und seine Hilfe hatte dafür gesorgt, dass die Verletzungen schnell heilen konnten.
Jonathan war dem Mann wirklich dankbar.
Wer war er nur?