„Du willst das also tatsächlich durchziehen.“
Es war eine nüchterne Feststellung, keine Frage, daher nickte Jonathan nur, während er seinen Rucksack zuschnürte.
Sebastian fuhr sich mit einer Hand ratlos durch die Haare und seufzte.
„Hast du dir das wirklich gut überlegt? Wenn die Leute hier Recht haben, dann wanderst du da jetzt einige Stunden rauf, nur, um die Tür vor der Nase zugeknallt zu bekommen und wieder zurückzukommen ...“
Jonathan unterbrach die Rede seines Bruders mit einer Handbewegung. „Lass es gut sein, bitte. Ja, ich weiß das.“
„Auf vier Pfoten wärst du deutlich schneller. Warum willst du es heute Abend nicht so versuchen?“
Jonathan lachte auf. „Und dem Mann in den Bergen dann splitterfasernackt gegenübertreten? Perfekte Idee, am Ende gefällt ihm das!“
Aber Sebastian blieb ernst. Er machte sich um irgendetwas Sorgen.
„Ich könnte dich begleiten.“
Jetzt wurde es langsam lächerlich. Jonathan trat dicht an seinen großen Bruder heran, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihm in die Augen. „Hey – ich schaff so eine kleine Wanderung schon. Ich bin wirklich lange genug erwachsen, du musst dich nicht immer um mich sorgen. Ok? Was genau befürchtest du eigentlich?“
Zuerst öffnete Sebastian den Mund, als wolle er ihm antworten, doch dann schloss er ihn wieder, schüttelte nur den Kopf. „Vergiss es. Du hast schon Recht. Pass einfach auf dich auf, ok?“
„Natürlich.“ Er schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, bevor er den Rucksack schulterte und durch die Haustür entschwand.
Das Schwierige an seinem Vorhaben war nicht die Wanderung selbst, wie Jonathan schnell bemerkte, sondern das Einschlagen des richtigen Wegs. Als er und sein Bruder vorgestern zu ihrer wilden Entdeckungsjagd durch vertrautes und stellenweise doch verändertes Gelände aufgebrochen waren, hatten ihre Sinne sie geleitet: das Geräusch des nahen Bachlaufs, die Gerüche der verschiedenen Waldstücke und Wiesen, die Spuren, die die Bewohner dieser Wildnis in ihr hinterlassen hatten. Die meisten dieser Wegmarkierungen standen ihm nun nicht zur Verfügung, und dieses Mal musste er sich an offizielle Wege halten und konnte nicht einfach querfeldein rennen. Doch er kannte die ungefähre Richtung seines Ziels und wählte an jeder Weggabelung den Pfad, der ihn näher dorthin zu bringen versprach.
Obwohl er früh aufgebrochen war, als die Sonne die Hänge des Tals noch nicht erreichte, wurde es schon bald ziemlich warm – passend zu diesem heißen Sommer, so kurz der in den Bergen hier auch war. Er genoss jeden einzelnen Tag davon.
Die Ruhe hier oben tat ihm gut. Damit meinte er nicht nur die Stille, sondern auch die Atmosphäre. Sie war so ganz anders als die Hektik in den Städten ... Hatte er wirklich vergessen, wie sich das hier anfühlte?
Nach gut dreieinhalb Stunden Wanderung erkannte er die Umgebung von vorgestern Nacht wieder. Es dauerte nicht lange, bis er den Felsen fand, auf dem er gelegen hatte, während der Mann seine Wunden versorgte, und von dem aus sie gemeinsam der Musik aus dem Tal gelauscht hatten.
Er lächelte. Dieser Moment war etwas Besonderes gewesen.
Er stieg noch ein paar Schritte weiter den Hang hinauf, bis er ihn sah.
Der Mann saß vor seiner Hütte und arbeitete konzentriert an etwas. Seine Hände steckten bis zu den Ellbogen in einem Eimer und er wiederholte immer wieder dieselben, mechanisch anmutenden Bewegungen, unterbrach seine Tätigkeit nur gelegentlich für einen prüfenden Blick auf sein Werk.
Erst, als er die langen, tropfnassen Streifen aus dem Eimer zog, wurde Jonathan klar, was er da beobachtete: Der Mann wusch Verbände. Waren es die, die er ihm angelegt hatte?
Er hätte ihm neue mitbringen können. Wie gedankenlos von ihm.
Die Miene des Mannes, die bisher konzentriert, aber entspannt gewirkt hatte, verhärtete sich, als sein Blick auf Jonathan fiel. Achtlos ließ er die Verbände wieder in den Eimer fallen und erhob sich langsam.
Seine Bewegungen erinnerten Jonathan an einen schlecht gelaunten Wolf, der sein Revier verteidigen würde. Das fing ja nicht gerade gut an.
„Guten Tag“, grüßte er seinen Retter und lächelte freundlich.
Der antwortete ihm aber nicht, sah ihn nur durchdringend an. Seine Miene verfinsterte sich weiter.
Was konnte er jetzt nur sagen? Wie fing er ein Gespräch an?
Doch der Andere kam ihm zuvor. „Zieh Leine“, knurrte er.
Jonathan war zu verblüfft, um seinen Ärger in Zaum zu halten. Er hatte sich so fest vorgenommen, das Gespräch vorsichtig anzugehen, aber mit dieser Aussage reizte ihn der Mann sofort.
„Sie können mir ja wohl kaum verbieten, hier entlangzugehen“, erwiderte er herausfordernd. „Die Hänge gehören der Gemeinde.“
„Dieser nicht. Hau ab.“ Wie beiläufig griff er nach seinem an der Wand lehnenden Wanderstab und stützte sich darauf ab. Die Drohung war unterschwellig, aber Jonathan verstand sie trotzdem.
Trotz regte sich in ihm. Er war nicht hier hinauf gewandert, um direkt aufzugeben. „Ich bin ursprünglich aus dem Dorf und war lange weg. Ich wollte Sie einfach kennenlernen – die Leute im Dorf –“
Der andere unterbrach ihn rüde. „Gut, erledigt. Das bin ich. Jetzt lass mich in Frieden.“ Damit ging er in seine Hütte und warf die Tür hinter sich zu.
Einen Moment lang starrte Jonathan verblüfft auf die verschlossene Tür. Das hatte Lukas also gemeint, als er sagte, dass der Mann Gespräche im Keim erstickte.
Es war sinnlos. Enttäuscht wandte er sich zum Gehen.
Als er auf dem Rückweg wieder den flachen Felsen passierte, sah er darauf etwas liegen. Er trat näher heran, um es in Augenschein zu nehmen.
Es war ein einzelner Streifen Trockenfleisch.
Vielleicht musste er die Sache doch anders angehen.